Kapitel 16
In der folgenden Zeit versuchte ich, sowohl Linas und Rolf Gefummel unter dem Tisch als auch Sebastians Anwesenheit zu ignorieren.
Zumindest Letzteres gelang mir nicht. Immer wieder trafen sich unsere Blicke. Und während ich darauf bedacht war, dem Blickkontakt jedes Mal schnell auszuweichen, blieb Sebastians Miene den ganzen Abend über unergründlich. Zum Glück wurde er ständig von Zinkelmann und mehreren meiner Kollegen umlagert, sodass er nicht dazu kam, mich noch einmal anzusprechen.
Je später es wurde, umso mehr meiner Kollegen verabschiedeten sich. Der verbleibende Rest, der sich selbst gern als »harter Kern« bezeichnete, wurde immer betrunkener und unausstehlicher.
Lina hatte inzwischen meinen Stuhl wieder freigemacht, indem sie noch einen Platz weitergerutscht war und jetzt wild knutschend auf Rolfs Schoß saß. Ich verdrehte die Augen, denn ich wusste genau, wie die Sache enden würde. Lina würde morgen verheult und mit einer riesigen Sonnenbrille getarnt durchs Büro laufen, während Rolf wieder über sie als die »Kuh mit dem fettesten Hintern der Firma« herziehen würde.
Aber ich konnte ihr nicht helfen. Anscheinend war sie nun einmal nicht lernfähig.
Um mir das Elend nicht länger ansehen zu müssen, beschloss ich, lieber ein bisschen vor die Tür zu gehen und frische Luft zu schnappen. Ich verließ das Weingut und lief ein Stück in die Weinberge hinein. Die Luft roch nach Heu und Sommer, und am liebsten hätte ich mich einfach in eine Decke gerollt und die Nacht im Freien verbracht.
Aber sicher nicht allein, raunte mir eine innere Stimme verführerisch zu.
»Verdammt«, murmelte ich. Es wurde Zeit, dass ich Sebastian endlich aus meinem Kopf bekam. Es schien fast so, als ob er sich ständig hineinbeamen konnte – gegen meinen Willen natürlich.
Und vor allem wurde es Zeit, nach Hause zu fahren.
Entschlossen stapfte ich zum Gut zurück. Auf dem Besucherparkplatz standen nur noch zwei Autos, Linas roter Fiat und ein dunkelblauer Audi.
Okay, dachte ich verwundert, anscheinend habe ich gerade den allgemeinen Aufbruch verpasst.
Ich beeilte mich, zurück in den Gastraum zu kommen. Lina wartete bestimmt schon ungeduldig auf mich. Wenn Rolf schon abgehauen war, hatte sie nichts mehr zu tun, und dann war sie eine der unausstehlichsten Personen, denen ich je begegnet war.
Doch als ich die Tafel erreichte, an der wir gesessen hatten, war niemand aus unserer Firma mehr da. Nur zwei der Bedienungen waren noch damit beschäftigt, Gläser, Servietten und leere Flaschen von den Tischen zu sammeln.
»Haben Sie gesehen, wo meine Kollegin hingegangen ist?«, fragte ich eine der Bedienungen. »Die etwas fülligere Blondine, die hier gesessen hat?« Ich deutete vage in Richtung meines Platzes.
»Ach die«, gab die Frau gedehnt zurück. Es entging mir nicht, dass sie einen vielsagenden Blick mit ihrer Kollegin tauschte. »Die ist mit dem Mann weggefahren, mit dem sie die ganze Zeit – äh – geredet hat.«
»Was?« Ich starrte sie entsetzt an. Das durfte doch nicht wahr sein! Ich ließ Lina nur ein paar Minuten aus den Augen, und schon dampfte sie ab, noch dazu ausgerechnet mit Rolf.
Grundsätzlich konnte sie ja tun, was sie wollte, aber wie sollte ich jetzt nach Hause kommen? Linas Auto stand zwar noch auf dem Parkplatz, aber ohne den Schlüssel nutzte mir das herzlich wenig. Für das Kurzschließen, wie man es in Filmen immer sah, fehlte mir nicht nur die kriminelle Energie, sondern auch der notwendige Sachverstand.
Ich überlegte einen Augenblick.
»Könnten Sie mir vielleicht ein Taxi rufen?«, bat ich dann die Frau schweren Herzens. Die Fahrt würde mich eine ganze Stange Geld kosten, das ich eigentlich nicht auszugeben bereit war, aber was sollte ich tun? »Ich muss irgendwie nach Hause kommen.«
»Ich kann dich mitnehmen. Wir haben doch fast den gleichen Weg«, bot Sebastian an, der unbemerkt hinter mich getreten war.
Unwillkürlich zuckte ich zusammen. Dann drehte ich mich langsam zu ihm um. Er sah mich mit seinen schönen blauen Augen an. Aber er lächelte nicht. In diesem Moment konnte ich nicht einmal erahnen, was in ihm vorging.
»Aber ...«, begann ich.
Doch die Bedienung ignorierte meinen Widerspruch einfach. »Dann ist ja alles klar«, flötete sie und verschwand mit ihrem vollgestellten Tablett in den Nebenraum.
»Mein Auto steht draußen vor dem Gut. Wenn du möchtest, können wir gleich los«, bot Sebastian an. Sein Tonfall war genauso unergründlich wie sein Gesichtsausdruck.
»Äh – gut, ich bin soweit. Kein Problem.«
Mir passte es zwar überhaupt nicht, die nächste halbe Stunde allein mit Sebastian im Auto zu verbringen, aber ich sah ein, dass es sicher die beste Möglichkeit war, nach Hause zu kommen. Also folgte ich ihm auf den Parkplatz zu dem blauen Audi. Ganz gentlemanlike hielt er mir die Beifahrertür auf.
Während der Fahrt sprachen wir beide kaum ein Wort. Immer wieder blickte ich zu ihm hinüber, aber er schien entweder in Gedanken versunken zu sein oder er konzentrierte sich ganz aufs Fahren.
Ein paar Mal probierte ich mehr oder weniger geschickt, ein Gespräch in Gang zu bringen, scheiterte aber kläglich. Mehr als einsilbige Antworten waren meinem Fahrer nicht zu entlocken. Irgendwann stellte ich meine Versuche ein, lehnte den Kopf nach hinten an die Kopfstütze und wartete einfach ab, dass wir bei meiner Wohnung ankamen.
Es kam mir wie mehrere Stunden vor, bis wir endlich am Ziel waren. Sebastian hielt am Straßenrand vor meinem Haus und stellte den Motor ab, sah mich jedoch nicht an, sondern starrte strikt geradeaus.
»Ja, da wären wir dann also«, meinte ich und lächelte unsicher. »Danke fürs Mitnehmen. Ich weiß nicht, wie ich sonst nach Hause gekommen wäre.«
»Keine Ursache«, erwiderte er unverbindlich. Erst als ich den Sicherheitsgurt löste und Anstalten machte, aus dem Wagen auszusteigen, blickte Sebastian zu mir herüber.
»Ich hatte gehofft, du würdest mich anrufen«, sagte er so leise, dass ich es fast nicht verstand. Umso besser hörte ich jedoch den Vorwurf heraus, der in seiner Stimme mitschwang.
Ich fühlte mich so unbehaglich, dass ich verlegen auflachte. »Vielleicht hätte ich das tun sollen, aber ehrlich gesagt war mir der Abschluss des Abends so peinlich, dass ich es nicht fertiggebracht habe.«
Jetzt wirkte Sebastian ehrlich verwirrt. Er runzelte die Stirn. »Peinlich? Weil du ein bisschen zu viel getrunken hattest? Das braucht dir doch nicht peinlich zu sein.«
Ich wand mich verlegen. »Darum geht es ja auch gar nicht, zumindest nicht direkt. Ich kann mich zwar nicht mehr ganz genau an alles erinnern, aber das meiste weiß ich noch gut – oder besser gesagt: zu gut. Peinlich war, dass ich mich so an dich herangeschmissen habe.« Ich schluckte. »Und noch peinlicher war, dass du mich abgewiesen hast. Du hast mir ziemlich deutlich zu verstehen gegeben, dass du nicht an mir interessiert bist – als Frau, meine ich.«
»Nein!«
Sebastians Widerspruch kam so schnell und nachdrücklich, dass ich erschreckt zusammenzuckte.
»Nein«, wiederholte er leiser. »Das hast du völlig missverstanden. Ich hatte doch inzwischen mitbekommen, dass du viel mehr getrunken hattest, als gut für dich war. Ich habe mir sogar noch Vorwürfe gemacht, weil ich dir immer wieder alkoholische Cocktails geholt habe, anstatt auf alkoholfreie umzusteigen. Jedenfalls, so wie ich dich an dem Abend kennengelernt habe, bin ich davon ausgegangen, dass es nur am Alkohol lag, wie du dich benommen hast. Normalerweise hättest du mir doch nie so ein Angebot gemacht, wenn der Prosecco und die Cocktails nicht gewesen wären. Ich wollte deine Situation nicht ausnutzen, verstehst du? Ich wäre mir total schäbig vorgekommen.«
In meinem Gehirn rasten die Gedanken um die Wette. War ich einfach zu blöd, um zu verstehen, was wirklich passiert war? Konnte das sein? War das alles nur ein Missverständnis gewesen?
»Heißt das, wenn ich nüchtern gewesen wäre, wärst du geblieben?«, stammelte ich heiser.
Anstelle einer Antwort hob Sebastian mein Kinn leicht an, beugte sich zu mir herüber und küsste mich. Sanft und lange.
»Willst du jetzt auch noch, dass ich bleibe?«, fragte er leise, als sich unsere Lippen wieder voneinander gelöst hatten.
Ich konnte nicht antworten. Ich war einfach nicht in der Lage, auch nur ein einziges Wort herauszubringen.
Deshalb nickte ich nur.