Aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur:
Heinrich Mann
Geb. 27.3.1871 in Lübeck;
gest. 12.3.1950 in Santa Monica/Kalifornien
»Heinrich Mann ist wie sein Bruder Thomas deutscher Abstammung. Es wäre verfehlt, ihn und seine Werke in die Rubrik ›jüdischer Zersetzungsliteratur‹ zu stecken. Es ist auch nicht angebracht, ihn mit moralischer Entrüstung einfach abzutun. Heinrich Mann ist nicht Geschmeiß wie so und so viele der vergangenen Größen, sondern ein Gegner. Es hat keinen Wert, Heinrich Mann zu erniedrigen, er muss im Kampf um unser politisches, gesellschaftliches und geistiges Leben widerlegt und geschlagen werden.« Dieses Urteil widerfuhr dem Dichter im Literaturblatt der Berliner Börsenzeitung vom 25. Juni 1933. Unter dem Titel »Kritische Gänge« wurde hier mit denjenigen abgerechnet, deren Bücher am 10. Mai 1933 verbrannt worden waren und deren Namen bereits auf den Ausbürgerungslisten standen. Vorausgegangen war dieser »verdienten Ehre« (Klaus Mann) M.s Entfernung aus der Sektion Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste am 15.2.1933. Seine Unterschrift unter den »Dringenden Appell« für den Aufbau einer einheitlichen Abwehrfront von SPD und KPD lieferte dem Kultusministerium den geeigneten Vorwand, diesem wahren »Antideutschen« die Niederlegung seiner Funktion als Vorsitzender der Abteilung Dichtkunst nahezulegen. Mit ihm trat Käthe Kollwitz aus der Akademie der Künste aus. Von mehreren Seiten gewarnt, emigrierte M. am 21. Februar 1933 zunächst nach Toulon, später nach Nizza.
Seinem selbst von erbittertsten Feinden anerkannten Rang als Gegner des nationalsozialistischen Regimes wurde er gerecht, als er noch im Jahre 1933, im »Einweihungsjahr des Tausendjährigen Reiches«, die Essaysammlung Der Haß publizierte, die parallel im Pariser Gallimard-Verlag und im Amsterdamer Querido-Verlag erschien. Die französische Tradition des »J’accuse!« von Émile Zola, einer Streitschrift von 1898, mit der dieser in die damals schwebende Dreyfus-Affäre eingriff, verband sich hier mit einer psychologischen Analyse der Protagonisten des Regimes: des gewissenlosen Abenteurers Hitler, der »Bestie mit Mystik« Göring, des »verkrachten Literaten« Goebbels. M. setzte in der Tradition seiner Essaybände Geist und Tat (1911) und Zola (1915) die Verteidigung der Kultur dagegen. Die Emigration wurde ihm so zur »Stimme des stumm gewordenen Volkes«, zum Abbild des »besseren Deutschland«. Der Sammlung der antifaschistischen Intellektuellen und der Stärkung ihres Widerstands war M.s Arbeitskraft in den ersten Jahren der Emigration von 1933 bis 1938 gewidmet: Er war Präsident des »Komitees zur Schaffung einer deutschen Bibliothek der verbrannten Bücher«, die als »Deutsche Freiheitsbibliothek« bereits am 10. Mai 1934 in Paris eingeweiht wurde; er initiierte die erste Vorbereitungstagung für die Volksfront im Pariser Hotel Lutetia am 2. Februar 1936, an der 118 Vertreter verschiedenster Oppositionsgruppen teilnahmen. In unzähligen Essays, Zeitschriftenbeiträgen, Tarn- und Flugschriften, in Rundfunkaufrufen und Anthologien plädierte er für einen streitbaren Humanismus, der ihn bisweilen der KPD und der Sowjetunion näherbrachte. M. – so hebt Brecht hervor – »sah die deutsche Kultur nicht nur dadurch bedroht, dass die Nazis die Bibliotheken besetzten, sondern auch dadurch, dass sie die Gewerkschaftshäuser besetzten. […] Er geht aus von der Kultur, aber die Kultiviertheit bekommt einen kriegerischen Charakter.« Exponent einer solchen kämpferischen Kultur ist Henri IV., der Protagonist des zweibändigen Epos Die Jugend des Königs Henri Quatre und Die Vollendung des Königs Henri Quatre. Der zweite Teil erschien zwischen 1937 und 1939 in der Exilzeitschrift Internationale Literatur und entfachte eine heftige Debatte zwischen Arnold Zweig, Lion Feuchtwanger, Thomas Mann und Georg Lukács über die Funktion des historischen Romans im Exil. Das »wahre Gleichnis« vom »guten König« ist aber nicht nur Quintessenz von M.s dichterischem Schaffen – »Der historische Roman gehört in gewissen Fällen zum letzten, das einer machen lernt«, schreibt er im kommentierenden Aufsatz »Gestaltung und Lehre« (1939) – sondern auch Zukunftsperspektive in der »Zeit der Schrecken« und Erinnerung an M.s geistige Verwurzelung in Frankreich. Bereits 1927 hatte er bei einem Besuch von Henris Schloss in Pau bemerkt: »Wunderbare Ermutigung, leibhaftig zu sehen; der menschliche Reichtum kann machtvoll sein. Ein Mächtiger kann auch lieben, wie dieser König seine Menschen.«
Weit hinter die Exiljahre zurück verweist Henri in seiner Sinnlichkeit wie in seinem Machtstreben auf die Anfänge M.s: auf Künstler- und Tyrannengestalten, auf einen das Philistertum der Heimatstadt Lübeck verachtenden Ästhetizismus. So wollte er weder die väterliche Getreidefirma übernehmen noch die in Dresden begonnene Buchhändlerlehre fortsetzen. Tod des Vaters und Umzug der Familie nach München (1891) ermöglichten Heinrich wie Thomas Mann eine von Zügen des Fin de siècle geprägte Junggesellenexistenz »im Besitz einer bescheidenen Rente und einer Fülle von melancholischem Humor, Beobachtungsgabe, Gefühl und Phantasie« (Klaus Mann). Eines der bezeichnendsten Produkte von M.s ständig zwischen Italien und der Münchner Bohème schwankendem Reiseleben ist die Trilogie Die Göttinnen (1903), die er seinem Verleger folgendermaßen ankündigt: »Es sind die Abenteuer einer großen Dame aus Dalmatien. Im ersten Teil glüht sie vor Freiheitssehnen, im zweiten vor Kunstempfinden, im dritten vor Brunst. […] Wenn alles gelingt, wird der erste Teil exotisch bunt, der zweite kunsttrunken, der dritte obszön und bitter.« Gleichzeitig verschärfen sich auch M.s auf Deutschland gerichtete kritische Impulse: Der 1900 veröffentlichte satirische Roman Im Schlaraffenland setzt sich mit seiner aggressiven Schilderung des modernen Kapitalismus in Berlin in schroffen Gegensatz zu Heimatkunst und Gründerzeit. Einen Gegenpol zum wilhelminischen Macht- und Obrigkeitsstaat bildet die nicht zufällig in Italien angesiedelte Gesellschaftsutopie Die kleine Stadt (1910). Die Satire weitet sich zur politischen Kampfansage aus, als M. 1915 in seinem Essay über Zola Chauvinismus und Militarismus anprangert und damit Thomas Manns Verdikt des »Zivilisationsliteraten« auf sich zieht. »Das politisch-weltanschauliche Zerwürfnis erreichte bald einen solchen Grad von emotioneller Bitterkeit, daß jeder persönliche Kontakt unmöglich wurde. Die beiden Brüder sahen einander nicht während des ganzen Krieges« (Klaus Mann).
Kritik an der Scheinmoral des Kleinbürgertums übt M. im Professor Unrat (1905), mit dessen Verfilmung unter dem Titel DER BLAUE ENGEL (1930) er international bekannt wird. Der Repräsentant des wilhelminischen Bürgertums, der tyrannische und machtbesessene Professor Unrat, ›entgleist‹ durch seine Liebe zur »Künstlerin Fröhlich« und muss dadurch seinen gesellschaftlichen Untergang erleben.
Den sieben Romanen der Vorkriegszeit folgt in den »goldenen zwanziger Jahren« eine Phase der Selbstbesinnung, in der M. zunächst publizistisch, dann auch wieder literarisch auf den immer offener zu Tage tretenden Zusammenhang von Großkapital und Politik reagiert: Diederich Heßling, der Protagonist des Untertan (1914), avanciert in dem Roman Die Armen (1917) zum Großkapitalisten, der in der »Villa Höhe« residiert, eine klare Anspielung auf Krupps »Villa Hügel«. Zu grotesken, ja spröden Formen wie der Parabel Kobes (1923) kehrt M. auch in der zweiten Phase seiner Emigration wieder zurück: dem im Henri IV. verkörperten persönlichen und politischen Aufschwung bis 1938 folgte mit dem deutschen Einmarsch nach Frankreich 1940 die Flucht über die Pyrenäen in die USA, die Beschäftigung als scriptwriter bei der Filmgesellschaft Metro-Goldwyn-Mayer, deren Ertrag gering war und deren Produkte nie verwendet wurden. Nelly Kröger, M.s zweite Frau, schrieb 1942 an das Ehepaar Kantorowicz: »Amerika ist wohl außerordentlich hart. Wir können auch ein Lied singen. Manchmal leben wir von 4 Dollar, manchmal von 2 die Woche.« Eine Phase intensiver Arbeit brachte der Roman Lidice, der, im Sommer 1942 entstanden, die nationalsozialistische Herrschaft in ihrer Komik bloßstellt. Doch haben gerade die grotesken Züge, mit denen die Besetzung der Tschechoslowakei geschildert wird, wie auch die filmszenenartig verknappte Form die im Exil ohnehin schwierige Verbreitung des Romans nachhaltig behindert.
Nach dem Selbstmord Nelly Krögers am 16.12.1944 vereinsamte M. noch stärker. Den Versuchen der Kulturpolitiker der späteren DDR, ihn zur Übersiedlung zu bewegen, stand er skeptisch gegenüber: »Mag sein, man will mich nur umherzeigen und verkündigen, daß wieder einer zurückgekehrt ist. Aber eine Lebensweise des Auftretens, Sprechens und verwandter Pflichten kann ich mir nicht mehr zumuten«, schrieb er am 22. August 1946 an Alfred Kantorowicz. Am 5. Mai 1947 erhielt er die Ehrendoktorwürde der Philosophischen Fakultät der Humboldt-Universität, doch wurde deren Aufruf: »Deutschland ruft Heinrich Mann«, angesichts des sich verschärfenden Ost-West-Gegensatzes und der rigorosen Kulturpolitik der SED zunehmend fragwürdiger. Trotz der Bedenken gegen »Launenhaftigkeit« und »Unzuverlässigkeit« des Regimes plante M. noch kurz vor seinem Tode die Schiffsreise nach Gdingen, wo ihn Alfred Kantorowicz abholen sollte.
Thomas Mann würdigte das Vermächtnis des Bruders folgendermaßen: »Die Verbindung des Dichters mit dem politischen Moralisten war den Deutschen zu fremd, als dass sein kritisches Genie über ihr Schicksal etwas vermocht hätte, und noch heute, fürchte ich, wissen wenige von ihnen, dass dieser Tote einer ihrer größten Schriftsteller war.« Aber auch einer ihrer größten Schauspieler – so könnte man die Tendenz neuerer Forschungen seit Ende der 1990er Jahre umschreiben. Die Selbstbezogenheit, ja Selbstübersteigerung des Intellektuellen als Stellvertreter der Vernunft war wohl nur um den Preis autoritärer Sprachgesten und großzügiger Vernachlässigung realhistorischer Zwänge zu haben. »Wer Tradition hat, ist sicher vor falschen Gefühlen« – der 1933 geschriebene Satz wird heutzutage weniger als Indiz in sich gefestigten Bürgertums denn als »gewaltige Ermächtigung der Literatur gegenüber der Geschichte« (Heinrich Detering) gelesen. Und so rückt gerade der ›politische‹ M. viel näher an seine ästhetizistischen Anfänge – wie an seinen Bruder Thomas – als es eine überpolitisierte, weniger an Schreibweisen denn an Aussagen orientierte Betrachtungsweise über lange Zeit wahrhaben wollte.
Werkausgaben: Gesammelte Werke in Einzelbänden. Hg. von Peter-Paul Schneider. Frankfurt a.M. 1994ff. – Studienausgabe in Einzelbänden. Hg. von Peter-Paul Schneider. Frankfurt a.M. 1986ff.
Claudia Albert
Aus: Metzler Lexikon Weltliteratur. Herausgegeben von Axel Ruckaberle (ISBN 978-3-476-02093-2). © 2006 J. B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH, Stuttgart