Sogar einige noch in der Zucht der Schule lebende Schüler mischten sich unter die Unratschen Gäste. Einer von ihnen, ein langer, semmelblonder, verlor auffallende Summen. Ende der Saison, an einem Sonnabend, schon im Frühling, sah Unrat auf der Schwelle den Oberlehrer Hübbenett stehn, seinen Feind, der sich über Unrats Sohn gehässig ausgelassen und vor Unrats eigener Klasse von »sittlichem Unrat, vielmehr Kot« gesprochen hatte. Nun stand er da, mannhaft aufgereckt, und Unrat lächelte ihm giftig entgegen. Er hatte den Kollegen erwartet; denn der Schüler Hübbenett spielte viel zu hoch; es mußte in diesem Oberlehrerhause etwas nicht sein, wie es sollte.

Hübbenett schritt krebsrot auf seinen Sohn los und forderte den ganz Zusammengesunkenen auf, ihm zu folgen. Er fügte laut und an niemand gerichtet hinzu, daß er Schritte tun werde zur Beseitigung von Zuständen, wie die hier von gewissenlosen Abenteurern ins Leben gerufenen; Zuständen, die auf die Versuchung und Verführung schwacher junger Menschen berechnet seien; Zuständen, die vermittelst beraubter väterlicher Kassen und durch andere, aus Blut und Kot zusammengeknetete Mittel aufrechterhalten würden.

Ein Offizier drückte sich eilig hinaus. Ein sehr beunruhigter Festteilnehmer machte sich an den erbitterten Oberlehrer heran und stellte ihm eindringlich vor, wie unklug es sein würde, Lärm zu schlagen. Er halte die Versammlung hier für unlauter? Er solle sich doch erst ihre Zusammensetzung ansehn. Er wisse wohl gar nicht, wer der melierte Herr am Spieltisch gleich beim Fenster sei? Das sei nämlich Konsul Breetpoot. Und wer wende sich dort stirnrunzelnd nach Hübbenett um? Kein anderer als Polizeirat Flad. Ob Hübbenett wirklich gut abzuschneiden hoffe bei einem Ansturm gegen bestehende Dinge, an denen solche Herren interessiert seien.

Hübbenett hoffte es nicht: man sah es ihm an. Er redete zwar noch einiges Catonische, aber mit abschwellender Stimme; und dann trat er den Rückzug an. Es achtete schon niemand mehr auf ihn. Nur Unrat, siegstrahlend, schlich behende hinterher, bot dem Kollegen eine Erfrischung an und rief, als der andere durch einen Ruck mit den Schultern sittlichen Abstand feststellte, ihm herzlich nach, sein Haus bleibe Hübbenett Vater und Sohn stets weit geöffnet.

 

Dann kam wieder die Badezeit. Diesmal ging ein ganzer Wirbelwind von Lebewelt im Gefolge Unrats über den kleinen Küstenort hin. Unrats nahmen eine möblierte Villa. Auf demütig biedere Sofas legten sie gestickte japanische Seidendecken, dem Tisch davor gaben sie eine Roulette zu tragen, in Gläser mit »Gruß von der Wasserkante« gossen sie Sekt. Nachdem die neue »Rotte Unrat« die Nacht hindurch gespielt und allen Ausgelassenheiten sich ergeben hatte, verfügte sie sich an den Strand, um die Sonne aufgehen zu sehen; oder, wenn es Sonntag war, frühstückte sie zum Morgenchoral der Kurkapelle. Andere Nächte wurden außer Hause verbracht. Kraft des Ansehens ihrer zahlungsfähigen Begleiter erzwang die Künstlerin Fröhlich es, daß die Strandrestauration und das Café, die längst geschlossen waren, sich ihr zu jeder beliebigen Stunde wieder öffneten.

Sie war unerschöpflich. Sie trieb Tag und Nacht das Rudel ihrer Verehrer in allen Richtungen umher, warf dem einen Stock zum Wiederholen dorthin und jenem nach der andern Seite einen verheißungsvollen Knochen: alles unter listigem Geblinzel auf Unrat, der sich die Hände rieb. Sie verlangte jeden auf die Probe zu stellen. Einem – es war ein rosiger, fetter Mensch – legte sie auf, er solle gleich nach dem Diner – es umfaßte sechs Gänge – hinüberschwimmen bis zur Sandbank.

»Menschenskind, Sie kriegen ja ’n Schlag«, sagte ein ziemlich Nüchterner. Und die Künstlerin Fröhlich: »Wer hier ’n Schlag kriegen will, den kann ich überhaupt nich brauchen, der soll sich nur dünnmachen. Was meinst du, Unratchen?«

»Ei freilich«, sagte Unrat, »der soll sich dünnmachen.«

Er setzte hinzu: »Der Schüler Jakobi war ja von jeher recht gewandt in den Leibesübungen. So ist er noch nach seinem Abgang von der Schule über die Hofmauer geklettert, um in das Fenster eines Klassenzimmers im untern Stockwerk, wo ich eben Unterricht erteilte, mittels eines Schlauches den Gestank saurer Schafsmilch zu leiten. Mehrere Tage lang war die Luft des Raumes nicht davon zu säubern. Von einem solchen nun ist es wahrlich zu hoffen, daß er auch ein braver Schwimmer sei.«

Diese Rede erhielt viel Beifall, und der junge Mann entschloß sich, inmitten eines Gelächters.

Alle waren am Strande, wie er aus seiner Kabine trat, und wetteten auf ihn. Wie war er rosig und fett! Auf halbem Wege mußte er in das begleitende Boot gefischt werden und lag am Lande noch immer bewußtlos.

Die Wiederbelebungsversuche erregten große Teilnahme. Einige, die ihre erste Wette verloren hatten, wollten durch eine zweite, auf Jakobis Wiedererwachen oder Tod, den Verlust wiedergutmachen. Die Damen wurden von der Spannung arg mitgenommen; es erfolgte ein hysterischer Anfall. Als der Verunglückte sich nach fünfzehn Minuten noch nicht regte, wurden manche still und entfernten sich. Unrat blieb.

Er sah in das schlaffe, blutleere Gesicht des Schülers Jakobi und rief es sich zurück, wenn es höhnisch und aufrührerisch gewesen war. Das waren die. Da lagen sie und waren besiegt: gründlich besiegt. Darüber hinaus gab es keinen Sieg mehr und keine Züchtigung. Eine leichte Bauchbeklemmung empfand er dabei. Der Triumphweg unter ihm geriet wieder etwas ins Schwanken. Dem Tyrannen schwindelte es auf seinem wahnsinnigen Gipfel …

Aber Jakobi öffnete die Augen.

 

Sehr ungehalten äußerten sich über den Vorgang die beiden Hamburger, der Brasilianer und der Leipziger. Bei ihnen war es zwar persönliches Gekränktsein, denn sie bedeuteten nichts mehr. Sie begriffen nicht, was geschehen war. Statt des immerhin gutmütigen Mädels vom Vorjahr fanden sie nun eine Künstlerin Fröhlich, die das frech Gebieterische einer wirklichen Schönheit angenommen hatte, und der, ganz als sei sie es, von allen Seiten gefrondet ward. Und dabei war sie’s doch nicht: die Freunde vom vergangenen Sommer fanden den Schwindel lächerlich. Aber täglich erlagen sie ihm selbst ein wenig mehr. Der Brasilianer versuchte die ersten Tage noch, bei den Vertraulichkeiten von früher wieder anzuknüpfen; dann lernte er ein mutloses Schmachten von fern.

Die Nächsten am Ziel waren Assessor Knust und Oberlehrer Richter; denn sie hatten am meisten zu bieten. Der eine war der gesuchteste Junggeselle der Stadt; der andere war verlobt. Die Künstlerin Fröhlich blieb lange unschlüssig. Knust war der ansehnlichere, aber bei Richter wäre die Tragweite des Geschehnisses bedeutender gewesen. Seine Braut reizte sie, denn einzig diese kleine Person hatte es unternommen, hier im Seebad die Toiletten der großen Künstlerin Fröhlich zu besiegen.

Von Knust verlangte sie, er solle auf den ersten Herrn, dessen Namen sie am nächsten Mittwoch zufällig aussprechen werde, losgehn und ihn ohrfeigen. Knusts behäbiges Weingesicht schmunzelte, und er sagte, er sei ja nicht verrückt. Mit ihm sei sie fertig, erklärte sie darauf; und einer, der an sie gewisse Ansprüche stelle, der müsse für sie zu allem imstande sein, aber auch zu allem.

Richter war es: so sehr hatte ihn sein Bräutigamsstand schon angegriffen. Eines Nachmittags während der Kurmusik erlebte man es, daß er inmitten einer lärmenden Kavalkade auf einem Esel gemeinsam mit der Künstlerin Fröhlich, hinter ihr auf dem Sattel und betrunken an sie geklammert, vorbeigaloppierte, die Reihen der Kaffeetrinker entlang, in deren vorderster seine Braut saß.

Gleich nach dem Abendessen erhob sich die Künstlerin Fröhlich, nahm Unrat und Richter an ihre beiden Seiten und verkündete mit einem kleinen süßen Stimmchen, heute wolle sie früh schlafen gehn. Man geleitete sie in Prozession, mit bunten Papierlaternen, an ihr Haus; und einige Herren stimmten unter dem Balkon ein Ständchen an. Als alles still war, rief Unrat, schon halb entkleidet, nach seiner Frau. Er meinte, sie sei auf dem Balkon. Nein. Er suchte und rief; er wollte mit ihr frohlocken, weil nun auch des Kollegen Richter Geschick sich erfüllt hatte und seine fernere Laufbahn in der erfreulichsten Weise bedroht war. Aber in den leeren Zimmern verpuffte sein Jubel. Es ward ihm beklommen.

Ihre Launen kannte er doch, und sie war natürlich noch an die See gegangen. Unrat setzte sich an das vergitterte Bettchen des Kindes und vertrieb die Mücken.

Wieder so ein einfältiger Mensch, der sich zu dieser Stunde von der Künstlerin Fröhlich zum Narren machen ließ; der ein wenig Mondschein eintauschte gegen seine Bracelets und silbernen Necessaires. Unrat ging inzwischen zu Bett … Aber in Tiefen seines Denkens, die er lieber unergründet ließ, war es schon bekannt, der Begleiter der Künstlerin Fröhlich sei Richter; und Richter sei zu dieser Stunde kein Narr.

Unrat wendete sich umher, bis es Mitternacht war. Dann raffte er sich aus den Decken, fuhr in die Kleider und sagte sich laut vor, man müsse das Dienstmädchen wecken, nach Leuten mit Laternen schicken; der Künstlerin Fröhlich könne etwas zugestoßen sein. Er ergriff sogar eine Kerze und machte sich auf nach der Kammer des Mädchens. Erst oben an der Treppe zum Boden riß er sich aus seinem Selbstbetrug, löschte angstvoll das Licht, damit es nichts verrate, und tappte sich zurück ins Schlafzimmer.

Der Mond enthüllte ihm bleich das leere Bett der Künstlerin Fröhlich. Unrat mußte beständig hinsehn; er atmete immer hastiger. Schließlich krümmte er sich und begann zu wimmern. Er erschrak vor seiner Stimme und rutschte unter die Decke. Nach einer Weile beschloß er, ein Mann zu sein; kleidete sich Hals über Kopf noch einmal an und überlegte, wie er die Künstlerin Fröhlich empfangen wollte. Er wollte sagen: Nun? Ein kleiner Spaziergang, immer mal wieder? Recht so. Trifft es sich doch, daß auch ich nicht müde war und soeben erst wieder heimkehre. Eine Stunde lang übte er, rastlos durch das Zimmer schleichend, diese Rede. Da geschah an der Haustür ein leichtes Geräusch; und mit einem wilden Griff warf Unrat die Kleider ab und schwang sich ins Bett. Er lauschte, die Lider heftig zugedrückt, auf das gedämpfte Nahen der Künstlerin Fröhlich, auf das verstohlene Rascheln ihrer sinkenden Röcke, auf das behutsame Krachen, wie sie sich ausstreckte; dann auf ein schwaches Seufzen; und endlich auf das vertraute und liebe Schnarchen.

Am Morgen stellten sie beide sich schlafend. Die Künstlerin Fröhlich entschloß sich zuerst, zu gähnen. Wie Unrat sich ihr zuwandte, fand er ein leidendes Gesicht, das sich zum Weinen verzog. Sie drückte sich an seine Schulter und schluchzte: »Ach, wenn Unratchen wüßte. Es geht nich alles so, wie man möchte, und für das meiste kann man selber nischt.«

»Mag’s denn sein«, sagte Unrat trostreich; und sie weinte noch heftiger, weil er so schrecklich milde war und ihre faule Ausrede einsteckte.

Tagsüber blieben sie eingeschlossen; und die Künstlerin Fröhlich, träge und ungeschickt bei allem, was sie anfaßte, hatte große, mit weichen, süßen, sich dehnenden Erinnerungen angefüllte Blicke, von denen Unrat schamhaft wegsah. Gegen Abend kamen einige von ihren Leuten und fragten, ob sie die Neuigkeit wüßten. Woher denn, sie seien nicht ausgegangen.

»Richters Verlobung ist auseinander.«

Die Künstlerin Fröhlich sprang sofort mit dem Blick zu Unrat.

»Der Mann ist hin«, hieß es weiter. »Er ist über und über kompromittiert. Was die Familie seiner Exbraut ist, da kann er sich drauf verlassen, daß die ihn aus seiner Stellung weggrault. Die will ihn in der Stadt nicht mehr haben, weil es für sie ’ne Blamage wäre. Er kann zusehen, wo er bleibt.«

Die Künstlerin Fröhlich sah Unrat sich rosig überziehn und wieder erblassen, sie sah ihn von einem Fuß auf den andern treten, die Finger ineinanderschlingen und wieder trennen; sie sah ihn in die Luft schnappen, als schnappte er die Süßigkeit der gesprochenen Worte heraus, als schnappte er Glück heraus. Er genoß, und er quälte sich dabei. Diesmal mußte er seinen Triumph bezahlen; sie las ihm, mit schlechtem Gewissen, die Gefühle vom Gesicht, womit er ihn bezahlte.

Schließlich ging er hinaus, und sie erfand einen Vorwand, um die Gäste allein zu lassen.

»Du freust dich woll?« sagte sie draußen mit verstellter Unzufriedenheit. »Das is aber gemein, wenn man sich über anderer Leute ihren Reinfall freut.«

Unrat auf seinem Balkon saß da, hielt sich die Handgelenke und schaute abwesend zwischen den Buchenkronen auf das Meer, mit einer Miene, als prüfte er unendliche Horizonte, die nur über qualvolle Abgründe hinweg zu erreichen wären. Die Künstlerin Fröhlich fühlte etwas davon; und jetzt war die Trostreiche sie.

Sie sagte: »Es is ja nischt los, Unratchen. Hauptsache is, daß der Mensch um die Ecke is. Das hast du doch davon.«

Sie mußte seufzen; denn wenn sie nur einige Stunden zurückdachte, dann fand sie sich recht undankbar gegen den armen Richter. Zwar, wie war es eigentlich gekommen? Er war ja ’n netter, flotter Kerl, aber wenn nicht Knust gewesen wäre, den sie hatte ärgern wollen, dann wär nie was draus geworden. Nu man weg mit Schaden. An Unrat war doch ganz was andres dran. Es ward einem manchmal ganz schwiemelig. Wie er nu wieder dasaß!

»Na wir zwei«, sagte sie und streckte die Hand aus.

Er nahm sie wohl, aber er sagte: »Es steht unter allen Dingen eines fest: daß jemand, dem die hellsten Gipfel zu erklimmen gelang – daß ein solcher auch mit den undurchdringlichen Schlünden wohlvertraut ist.«