Kieselack öffnete von außen die Saaltür, führte seine blaue Pfote an den Mund und stieß einen gedämpften Pfiff aus. Sofort kamen Ertzum und Lohmann heraus.

»O Mensch, lauf!« rief Kieselack jedem zu und tanzte rückwärts, mit anfeuernden Gesten, vor ihnen her, bis ans Ende des Hausflurs und der Treppe zu.

»Nu is es soweit!«

»Was ist soweit?« fragte Lohmann gleichgültig – obwohl er es genau wußte und darauf gespannt war.

»Sie sind schon oben«, raunte Kieselack, mit ganz verrenktem Mund. Er zog sich die Schuhe aus und schlich die flache, gelbgeländerte Holztreppe hinan, die knarrte. Gleich auf dem ersten, niederen Absatz war die Tür: Kieselack kannte sie. Er duckte sich vors Schlüsselloch. Nach einer Weile winkte er, stumm und leidenschaftlich, ohne sich vom Schlüsselloch zu trennen.

Lohmann zuckte die Achseln und blieb am Fuß der Treppe stehn neben Ertzum, der mit offenem Mund hinaufstarrte.

»Nun, wie ist dir?« fragte Lohmann verständnisvoll.

»Ich weiß bei Gott nicht mehr, was los ist«, sagte von Ertzum. »Du glaubst doch nicht, daß da was passiert? Dieser Kieselack ulkt natürlich.«

»Natürlich«, bestätigte Lohmann mitleidig.

Kieselack winkte immer wilder. Er kicherte lautlos in das Schlüsselloch hinein.

»Sie muß sich doch sagen«, bemerkte Ertzum, »daß ich diesen Menschen niederschlagen kann.«

»Schon wieder? … Übrigens, das macht ihr die Sache vielleicht reizvoller.«

Von Ertzum kam nicht mehr mit. Sein Begriff von Liebe war ein für allemal geprägt durch die Kuhmagd, die ihn vor drei Jahren daheim ins Gras geworfen hatte, nachdem er über einen starken Viehjungen Sieger geblieben war … Hier war nun ein hochschulteriger Schwächling; und Rosa Fröhlich glaubte doch wohl nicht, daß Ertzum ihn fürchtete?

»Sie glaubt doch wohl nicht, daß ich ihn fürchte?« fragte er Lohmann.

»Fürchtest du ihn etwa nicht?« fragte Lohmann.

»Das sollst du sehn!« Und Ertzum, aufgereckt, tat zwei Sätze, über sechs Stufen.

Aber Kieselack, der das Schlüsselloch losgelassen hatte, vollführte auf Socken einen Triumphtanz. Plötzlich anhaltend: »O Mensch!« wisperte er, und seine Augen funkelten in seinem käseblassen Gesicht. Ertzum war feuerrot und keuchte. Ihre Blicke maßen sich, kämpften. Ertzum verlangte mit seinem: dies sollte nicht wahr sein. Kieselack antwortete mit dem dünnen Hohn eines Lidwinkels, der ein bißchen zuckte … Und auf einmal sank Ertzum in ebensolche Blässe wie der andere, beugte sich über sich selbst, als habe er einen Stoß vor den Magen bekommen, und stöhnte auf vor Schmerz. Er tastete sich wankend die sechs Stufen wieder hinunter. Lohmann empfing ihn mit verschränkten Armen, den Mund in lebensfeindlichen Falten. Ertzum ließ sich wie einen Sack auf die unterste Stufe fallen und nahm den Kopf in die Hände. Nach einem Schweigen, dumpf, von unten: »Lohmann, faßt du das? Ein Weib, das ich so hochgestellt habe! Ich glaub noch immer, der Ekel, der Kieselack, macht faule Witze. Dann gnad ihm Gott! … Ein Weib, das so, so viel Seele hat!«

»Auf Seele kommt es bei dem, was sie momentan betreibt, nicht eben an. Sie handelt schlicht weiblich.«

Lohmann lächelte grausam. Er zog durch dieses Wort Dora Breetpoot in den Schmutz neben die andere – Dora Breetpoot, die erste der Frauen. Wie er das genoß!

»Aber Kieselack ist wieder am Schlüsselloch …«

Lohmann erhielt Ertzum, der den Kopf wegdrückte, auf dem laufenden.

»Kieselack winkt schon ziemlich heftig … Dieser Unrat ist – Ertzum, wir gehen vielleicht weiter?«

Er raffte seinen Freund vom Boden und zog ihn nach dem Haustor. Draußen wollte Ertzum nicht mehr vom Fleck; er lehnte sich, schwer und stumpf, an das Haus seiner Enttäuschungen. Lohmann redete eine Zeitlang vergeblich. Er drohte mit Weggehn; da erschien Kieselack.

»Ihr seid auch öde Kerls. Was kommt ihr denn nich rein. Unrat is schon drin mit seiner Braut. Ich hab im Saal Bescheid gesagt, wo sie herkommen, da sind sie mit ’n großen Juchhe empfangen. Du, so was lebt nicht mehr: sie sitzen im Kabuff und sind zärtlich. Ich lach mich tot! Komm, nu ziehn wir drei Mann hoch ins Kabuff.«

»Du bist wohl –«, machte Lohmann.

Aber Kieselack meinte seinen Vorschlag ernst.

»Ihr habt doch hoffentlich keine Angst vor Unrat!« verlangte er empört. »Unrat liegt ja viel zu sehr drin, was will er denn gegen uns noch machen. Wir können jetzt Schindluder mit ihm treiben.«

»Es reizt mich nicht. Unrat ist unter allem Schindluder«, erklärte Lohmann. Kieselack flehte stürmisch: »Sei doch kein Frosch. Du hast bloß Angst.«

Ertzum entschied plötzlich: »Also los! Ins Kabuff!«

Eine wilde Neugier hatte ihn gepackt. Er wollte diesem Weib gegenübertreten, das aus solcher Höhe gestürzt war! Er wollte von ganz oben einen Blick über sie und ihren elenden Verführer hinwerfen und sehen, ob sie den Blick aushielt. Lohmann erklärte: »Ihr seid geschmacklos.«

Aber er ging mit.

In der Garderobe empfing sie Gläserklirren. Der Wirt entkorkte gleich die zweite Flasche Sekt. Das Ehepaar Kiepert neigte sich mit strahlenden Gesichtern über Unrat und die Künstlerin Fröhlich, die in eins verschmolzen hinter dem Tisch thronten.

Die drei Schüler gingen zuerst einmal um den Tisch herum. Dann pflanzten sie sich vor Unrat und seine Dame hin und wünschten einen guten Abend. Nur die beiden Kiepert antworteten und schüttelten ihnen die Hände. Darauf wiederholte Ertzum allein und mit rauher Stimme seinen Gruß. Rosa Fröhlich blickte verwundert auf und sagte unbefangen, mit einem zwitschernden, girrenden Stimmchen, das er noch gar nicht kannte: »Na, da seid ihr ja. Sieh mal, Schatz, da sind sie. Setzt euch man hin un prost.«

Damit war sie fertig, und ihr Blick ließ Ertzum fahren, so teilnahmslos, daß er ins Zittern geriet.

Unrat hob gnädig die Hand auf.

»Freilich nun wohl – setzen Sie sich und trinken Sie eins. Heute sind Sie meine Gäste.«

Er schielte nach Lohmann, der schon Platz genommen hatte und sich eine Zigarette drehte … Lohmann, der Schlimmste, dessen Eleganz eine Demütigung war für die schlecht bezahlte Autorität; Lohmann, der die Unverschämtheit hatte, Unrat nicht bei seinem Namen zu nennen; Lohmann, der kein mausgrauer, unterworfener Schüler und kein dummer Kerl war, sondern mit seinen unbeteiligten Manieren, seinem neugierigen Bedauern beim Zorn des Lehrers, den Tyrannen anzweifelte: – zu allen den Nebendingen, mit denen dieser Lohmann sich abgab, hatte er auch die Künstlerin Fröhlich hinzuzufügen versucht. Hierbei aber war er gescheitert an Unrats ehernem Willen. Er sollte nicht im Kabuff bei der Künstlerin Fröhlich sitzen: Unrat hatte es geschworen. Er sollte der Künstlerin Fröhlich nicht teilhaftig werden: er war es nicht geworden. Und nicht nur, daß nicht Lohmann im Kabuff bei der Künstlerin Fröhlich saß, saß vielmehr Unrat darin … Dies Ergebnis ging hinaus über Unrats erstes Ziel. Er stutzte; und fühlte auf einmal eine heißere Genugtuung. Er hatte Lohmann samt seinen zwei Genossen, er hatte den entlaufenen Schülern draußen im Saal, er hatte der Stadt von fünfzigtausend widerspenstigen Schülern die Künstlerin Fröhlich entzogen, und er war Alleinherrscher im Kabuff!

Sie fanden ihn förmlich verjüngt. Mit der Krawatte hinterm Ohr, einigen offenen Knöpfen und den verwirrten Resten seiner Frisur, hatte er etwas aus dem Geleise Geratenes, verkommen Sieghaftes, ungeschickt Trunkenes.

Rosa Fröhlich hatte etwas Aufgeweichtes, Müdwarmes, Verkindlichtes, wie sie, an ihn geschmiegt, über den Tisch hing. Ihr Aussehen war eine Kränkung für jeden unbeteiligten Mann, weil es ein allzu entschiedener Triumph Unrats war.

Die drei merkten dies ganz gut; Kieselack begann sogar an den Nägeln zu kauen. Kiepert, der sich weniger klar darüber war, ward mit seinem Unbehagen fertig dadurch, daß er allen geräuschvoll zutrank. Die dicke Frau entzückte sich fortwährend über Rosas glückliche Veränderung und über das allgemeine Versöhnungsfest.

»Und Ihre Schüler, Herr Professor, die freuen sich auch mit. Was die jungen Herren anhänglich sind an Sie, da is das Ende von weg.«

»Immerhin denn wohl«, sagte Unrat. »Sie scheinen ja wirklich des Sinnes für das Schöne und Gute nicht völlig zu ermangeln.«

Und er lächelte höhnisch.

»Nun, Kieselack, immer mal wieder auch da? Es wundert mich nur, daß Sie der Möglichkeit, das Haus zu verlassen, nicht durch die Wachsamkeit Ihrer Großmutter verlustig gegangen sind … Dieser Schüler besitzt nämlich eine Großmutter, welche keinen Anstand nimmt, ihn mit Prügeln zu versehen«, sagte er zu der Künstlerin Fröhlich, in der Absicht, Kieselack in seiner Manneswürde zu beeinträchtigen.

Kieselack war sich aber bewußt, durch ganz andere Mittel als Manneswürde seinerzeit bei der Künstlerin Fröhlich das Ziel der Klasse erreicht zu haben. Er rieb sich das Gesäß und plärrte, während er heftig nach seiner Nasenspitze schielte: »Großmutter haut mich, wenn ich mein Thèmeheft nicht wiederfind. Es is mir so gewiß hier in ’n Kabuff untern Tisch gefallen.«

Und er ließ sich ganz plötzlich daruntergleiten, griff der Künstlerin Fröhlich an die Beine, raunte ihr in dem Geschrei, das die Kieperts unterhielten, aus der Tiefe seine Forderungen zu. Widrigenfalls verrate er alles an Unrat.

»Kleine Rotztulpe«, sagte sie bloß hinab und stieß ihn mit dem Fuß beiseite.

Zugleich redete Unrat den zweiten Schüler an.

»Nun also, von Ertzum – immer mal wieder. Sie erwecken durch Ihren Gesichtsausdruck den Anschein, als bewähre sich Ihre Fassungsgabe hier ebenso mangelhaft wie in der Klasse. Sind nicht Sie es, der – aufgemerkt nun also! – der Künstlerin Fröhlich einen Heiratsantrag zu machen sich unterfangen hat? … Ihrem einfältigen Glotzen entnehme ich bereits die Antwort. Drum denn, von Ertzum, die Künstlerin Fröhlich hat Sie über die einem Schüler gesetzten Grenzen belehrt. Ich brauche dem nichts hinzuzufügen. Stehen Sie einmal auf –«

Ertzum stand gehorsam auf. Denn Rosa lachte; und ihr Lachen nahm ihm die letzte Kraft, sich zu empören, und den Rest seines Selbstbewußtseins; es lähmte ihn.

»– und lassen Sie einmal sehen, ob Ihr vertrauter Verkehr im Blauen Engel Sie, der Sie bekanntlich zu den Schlechtesten gehören, etwa dahin bringt, daß Sie die von der Schule an Sie gestellten Anforderungen nicht nur nicht befriedigen, sondern dieselben leichten Herzens in den Wind schlagen. Sagen Sie die für morgen aufgegebenen Gesangbuchverse her!«

Ertzums Augen irrten aufgerissen durchs Zimmer. Seine Stirn war naß. Er fühlte sich im Joch, senkte den Kopf, zog an:

»Sollt ich meinem Gott nicht singen?

Sollt ich ihm nicht fröhlich sein?

Denn ich seh in allen Dingen,

Wie so gut er’s mit mir mein’.«

Hier begann Rosa zu kreischen. Auch Frau Kiepert gluckste, gutmütig. Rosa aber kreischte, mit der Absicht, Ertzum zu beleidigen; und sie kreischte weich, aus Zärtlichkeit für Unrat, dessen Arm sie drückte, und um ihm zu schmeicheln, ihn zu belohnen für seine Herrschaft über den vierschrötigen, roten Menschen, der in ungelenkem und untertänigem Ton seine frommen Reime hersagte.

Von Ertzum versetzte noch:

»Ist doch nichts als lauter Lieben,

Das sein treues Herze hegt …«

Da ward ihm das Betragen des Artisten zu toll. Kiepert hatte die Situation erst eben zu schmecken begonnen. Jetzt aber brüllte er Ertzum ins Gesicht und schlug sich dabei aufs Knie.

»Nee Sie, aber Sie! Was reden Sie denn? Ihnen is woll schlecht geworden?«

Er zwinkerte Unrat zu, gab zu verstehen, daß er den Grafen Ertzum, der im Hinterzimmer des Blauen Engels Gesangbuchverse hersagte, zu schätzen wisse und sich diesem Witz auf Adel und Religion mit Überzeugung anschließe. Er öffnete die Tür und tat, als bestellte er bei dem Klavierspieler einen Choral. Schließlich stimmte er selbst ihn an … Doch Ertzum hörte auf.

Zwar hätte er gar nicht weitergewußt. Davon aber abgesehen, würgte ihn plötzlich eine maßlose Wut auf den dicken, lachenden, singenden Mann. Es verschwamm ihm vor den Augen. Er meinte nicht mehr leben zu können, außer mit seinen beiden Fäusten an diesem Menschen, mit seinen beiden Knien auf Kieperts Brust. Er zuckte ein paarmal auf seinem Platze; er hob die geballten Hände vor die Schultern … Er stürzte los.

Der Athlet war atemlos vom Lachen und auf nichts gefaßt: das setzte ihn in Nachteil gegen den tiefernsten Ertzum, der aufblühte, während er seinen Muskelhunger stillte. Sie rollten von einem Winkel in den andern. Ertzum vernahm inmitten des Gepolters einen leisen Ausruf Rosas. Er wußte, sie sah auf ihn; und darum atmete er mächtiger; preßte die Gliedmaßen seines Gegners härter zwischen den seinigen; fühlte sich glücklich erlöst und an seinem richtigen Platz, da er unter ihren Augen kämpfen konnte, wie damals mit dem Viehjungen um die Kuhmagd.

Inzwischen hatte Unrat, ohne dem Ringkampf ein mehr als flüchtiges Interesse zuzugestehen, sich an Lohmann gewandt.

»Was ist denn nun aber mit Ihnen, Lohmann? Da sitzen Sie und rauchen – immer mal wieder – eine Zigarette; und heute morgen in der Klasse haben Sie gefehlt.«

»Ich war nicht disponiert, Herr Professor.«

»Aber zum Besuch des Blauen Engels sind Sie – traun fürwahr – stets disponiert.«

»Das ist etwas anderes, Herr Professor. Ich hatte heute morgen Migräne. Der Arzt hat mir geistige Anstrengung verboten und mir Zerstreuung verordnet.«

»So. Sei dem, wie ihm wolle …«

Unrat schnappte erst ein paarmal. Dann hatte er’s.

»Da sitzen Sie und rauchen«, wiederholte er. »Schickt sich das denn nun für den Schüler in Gegenwart des Lehrers?«

Und da Lohmann nichts tat, als ihn hinter halb gesenkten Lidern hervor mit müder Neugier ansehn, brauste Unrat auf: »Werfen Sie die Zigarette weg!« schrie er dumpf.

Lohmann ließ eine Weile verstreichen. Unterdessen taumelten Kiepert und Ertzum gegen den Tisch; Unrat mußte sich selbst, die Künstlerin Fröhlich und mehrere Gläser und Flaschen in Sicherheit bringen.

Als dies geschehen war: »Wie denn! Vorwärts nun also!«

»Die Zigarette«, versetzte Lohmann, »gehört zur Situation. Die Situation ist ungewöhnlich – für uns beide, Herr Professor.«

Unrat, erschrocken über den Widerstand, mit unterirdischem Beben: »Die Zigarette wegwerfen, sage ich!«

»Bedaure«, sagte Lohmann.

»Sie sollten es wagen! … Bursche! …«

Lohmann machte nur noch eine vornehm ablehnende Bewegung mit seiner spitzen Hand.

Da fuhr Unrat, gepackt vom Schwindel des bedrohten Tyrannen, vom Stuhl auf.

»Sie werfen sie weg, oder ich hemme Sie in Ihrer Laufbahn! Ich zerschmettere Sie! Ich bin nicht gesonnen –!«

Lohmann hob die Schultern.

»Wie bedauerlich, Herr Professor. Das alles ist ja vorüber. Daß Sie die Umstände so mißverstehen können.«

Unrat pfauchte. Er hatte die Augen einer wütenden Katze. Sein Hals war vorgestreckt mit höckrigen Sehnen; vor seinen Zahnlücken erschien Geifer; sein Zeigefinger drang, am Ende des im Winkel ausgelegten Armes, mit gelbem Nagel auf den Feind ein.

Die Künstlerin Fröhlich klammerte sich an ihn, aus der Verdauung der gehabten Genüsse jäh aufgeschreckt, noch etwas wirklichkeitsfremd, blind loskeifend gegen Lohmann.

»Was wollen Sie denn? Beruhigen Sie ihn lieber«, meinte Lohmann.

Da fielen Ertzum und Kiepert, über zwei krachende Stühle hinweg, dem umschlungenen Paar in den Rücken und warfen es mit den Nasen auf den Tisch. Aus dem ziemlich stillen Winkel hinter Rosa Fröhlichs Toilettentisch ertönte Kieselacks heller Jubel. Er tröstete sich ungestört mit Frau Kiepert.

Als Unrat und seine Freundin sich wieder aufgerafft hatten, schalten sie weiter.

»Sie kommen bei mir immer zuletzt«, schrie sie Lohmann zu.

»Ich erinnere mich, gnädiges Fräulein, daß Sie mir das bereits verheißen haben, und ich sehe dem gern entgegen.«

Und er bekam, da sie verzottelt, halb aufgeknöpft, mit zerlaufener Schminke, wüst und heiser sich vor ihm abarbeitete, plötzlich eine ungestüme Lust auf sie: wieder diese Lust, seine grausame Liebe zu demütigen durch die düstern Liebkosungen des Lasters!

Das ging aber gleich vorbei. Unrat, in seinem Angstkrampf, ließ es sich nämlich einfallen zu drohen: »Wenn Sie nicht augenblicklich die Zigarette fortwerfen, begleite ich Sie stehenden Fußes zu Ihrem Vater!«

Nun enthielt das Lohmannsche Haus an diesem Abend einige Gäste, darunter auch Konsul Breetpoot mit seiner Frau. Lohmann stellte sich vor, wie Unrat in den Salon einbräche … Er konnte Dora Breetpoot um so weniger diesen Auftritt zumuten, als er seit gestern wußte, daß sie in andern Umständen sei. Seine Mutter hatte es herausgebracht … Und das war auch der Grund, weshalb Lohmann heute in der Klasse gefehlt hatte. Den Kopf auf den Fäusten, in den Versgestalt annehmenden Martern des Gedankens an dieses Kind, das sie von Assessor Knust, vielleicht noch von Leutnant von Gierschke, möglichenfalls aber auch von Konsul Breetpoot hatte, saß Lohmann nun tagelang in seinem verschlossenen Zimmer …

»Kommen Sie mit!« rief Unrat. »Ich befehle Ihnen, Sekundaner Lohmann, mit mir zu kommen!«

Lohmann ließ ungeduldig die Zigarette fallen. Darauf sank Unrat befriedigt auf seinen Sitz.

»Sehen Sie! Freilich nun wohl. So ziemt es sich für einen Schüler, der sich um den Lehrer wohlverdient machen möchte … Sie, Lohmann, entschuldigt der Lehrer, denn Sie sind – immer mal wieder – als mente captus zu bezeichnen. Haben Sie doch eine unglückliche Liebe.«

Lohmann ließ die Arme sinken. Er war geisterblaß, und seine Augen glühten so schwarz, daß die Künstlerin Fröhlich ihn mit Bewunderung anstarrte.

»Haben Sie etwa keine?« fragte Unrat, giftig frohlockend. »Sie machen Verse – ohne darum doch –«

»– das Ziel der Klasse zu erreichen?« ergänzte zaghaft die Künstlerin Fröhlich, denn sie kannte diese Wendung durch Kieselack.

Lohmann sagte sich: ›Der Elende weiß es. Jetzt drehe ich mich um, gehe nach Haus, ersteige den Speicher, richte die Flinte gegen mein Herz. Und drunten am Klavier sitzt Dora. Das kleine Lied, das Dora singt, flattert herauf, und sein Flügelstaub schimmert bis in meinen Tod …‹

Die Künstlerin Fröhlich äußerte: »Wissen Sie woll noch, wie Sie mich angedichtet haben?«

Sie fragte sehr sanft, mit einem Seufzer. Sie wünschte sich mehr von ihm. Sie hatte sich eigentlich immer viel mehr von ihm gewünscht, erinnerte sie sich jetzt; und fand ihn grausam; und auch ziemlich dumm.

»Und kommst du erst mal in die Wochen … Na, wer is nu in den Wochen?«

Auch das. Sie wußten auch das. Lohmann wandte sich ab und ging zur Tür, verurteilt. Wie er den Griff in der Hand hatte, hörte er Unrat sagen: »Freilich nun wohl. Sie haben eine unglückliche Liebe zu der Künstlerin Fröhlich, welche sich jedoch entschlossen hat, Ihrer zu entraten, und darum auch dem in jenem schamlosen Gedicht von Ihnen geäußerten Wunsche nicht entsprochen hat. Sie sitzen nun nicht bei der Künstlerin Fröhlich im Kabuff, Lohmann. Sie sind der Künstlerin Fröhlich nicht teilhaftig geworden, Lohmann. Sie können nun zu Ihren Penaten zurückkehren, Lohmann.«

Mit einem Ruck drehte Lohmann sich wieder um. Weiter war’s nichts?

»Jawoll«, sagte auch Rosa. »Es stimmt, und jedes Wort sitzt.«

Der alte Dummkopf floß über von greisenhafter Eitelkeit. Das andere Geschöpf war ein unappetitliches Mädel, nichts weiter. Beide ganz harmlos, beide ganz unwissend. Die Tragik seiner vergangenen Minuten, Lohmann hatte sie irrtümlich erlebt und ohne Recht. Er ging nicht mehr, sich zu erschießen. Er fand sich enttäuscht, beinahe albern, durch die Komödie der Dinge wieder einmal entwürdigt, noch immer im Leben vor, und in diesem Kabuff.

 

»So, von Ertzum«, versetzte Unrat. »Nun räumen auch Sie – immer mal wieder – das Feld. Und weil Sie sich erdreistet haben, in Anwesenheit des Lehrers eine Prügelei vom Zaun zu brechen, schreiben Sie die Gesangbuchverse, die Sie nicht gekonnt haben, sechsmal ab.«

Ertzum blieb stehen, ernüchtert, belastet mit der Erkenntnis, daß die soeben genossene Muskelfreude nur Selbsttäuschung gewesen sei, daß sein Sieg über den Athleten ihm nichts genützt habe, daß hier nur ein Sieger sei: Unrat; und sah schreckensvoll in das gleichgültige Gesicht der Künstlerin Fröhlich.

»Fort mit Ihnen!« rief Unrat.

Kieselack wollte hinterher.

»Wohin? Ohne vom Lehrer entlassen zu sein! … Sie werden mir vierzig Vergilverse memorieren!«

»Warum?« machte Kieselack, empörerisch.

»Weil der Lehrer es so will!«

Kieselack überflog ihn mit einem Senkblick; und verlor alle Lust, es mit ihm aufzunehmen. Er machte sich still davon.

Die beiden andern waren ein Stück voraus.

Ertzum, in dem Bedürfnis, Rosa samt ihrem Galan zu verachten und zu verwerfen: »Das Mädchen muß man also als verloren ansehn. Ich gewöhne mich schon an den Gedanken. Ich versichere dich, Lohmann, ich sterbe nicht dran … Aber was sagst du zu diesem Unrat? Ist dir so eine Schamlosigkeit schon mal vorgekommen?«

Lohmann lächelte bitter. Er verstand: von Ertzum war geschlagen und zog sich klagend auf die angestammte Moral zurück: auf die ewige Zuflucht der Geschlagenen. Lohmann verschmähte sie, so schlecht er heute weggekommen war, auch er.

Er sagte: »Es war verkehrt von uns, dahinein zu gehn und zu glauben, wir könnten ihn in Verlegenheit setzen. Wir mußten bedenken, er war darüber hinaus. Zu Mitwissern hat er uns längst. Zusammengeplatzt sind wir hier schon oft mit ihm. Er hat uns schon nach Haus geschleppt, damit wir ihm bei der Fröhlich nicht gefährlich würden. Hielt er es übrigens für ausgeschlossen, daß ihm inzwischen irgendein anderer bei ihr gefährlich ward?«

Ertzum stöhnte verwundert auf.

»Denn es wäre ungesund für dich, Ertzum, wenn man dir hierüber noch Illusionen ließe. Sei ein Mann!«

Ertzum versicherte mit schlecht gefesteter Stimme, Rosa sei ihm gleichgültig, er frage nicht, ob sie rein sei. Nur Unrat empöre ihn in seinem sittlichen Bewußtsein.

»Mich nicht«, gab Lohmann an. »Dieser Unrat fängt an, mich zu beschäftigen: er ist eigentlich eine interessante Ausnahme. Bedenke, unter welchen Umständen er handelt, was er alles gegen sich auf die Beine bringt. Dazu muß man ein Selbstbewußtsein haben, scheint mir – ich für meine Person brächte so eines nicht auf. Es muß in einem ein Stück Anarchist stecken …«

Dies alles reichte weiter, als von Ertzum reichte. Er brummte etwas.

»Wie?« machte Lohmann. »Nun ja. Die Szene im Kabuff war widerlich. Aber sie hatte etwas widerlich Großartiges. Oder, wenn du lieber willst, etwas großartig Widerliches. Aber großartig war dabei.«

Ertzum hielt sich nicht mehr.

»Lohmann, war sie wirklich nicht rein?«

»Nun, jetzt ist sie jedenfalls bedeckt mit Unrat. Da siehst du auch von ihrem Vorleben besser ab.«

»Ich hielt sie für rein. Mir ist überhaupt wie im Traum. Du wirst lachen, Lohmann, aber ich könnte mich erschießen.«

»Wenn du es wünschest, lache ich.«

»Wie soll ich darüber hinwegkommen. Hat schon mal einer das erlebt? Sie stand mir so hoch, ich habe eigentlich, wenn ich es genau bedenke, nie gehofft, sie zu erlangen. Du erinnerst, in welcher Aufregung ich neulich war, als ich das Hünengrab kaputtmachte. Übermut war das nicht; ich will nur ganz aufrichtig sein. Es war bloße Angst vor der Entscheidung. Ich hätte mich, Gott weiß es, gewundert, wenn sie mit mir gekommen wäre. Wie konnte ich mir das einbilden: sie hat ja viel zuviel Seele für mich … Und als dann der Würfel gefallen war –«

Lohmann musterte ihn von der Seite. Ertzum mußte in einem unerhörten Zustand sein, um von gefallenen Würfeln zu sprechen.

»– da war ich allerdings ein verzweifelter Mensch, das darf ich wohl sagen. Aber das war ’ne Wohltat, verglichen mit heute. Verstehst du denn überhaupt, Lohmann, wie tief sie jetzt gefallen ist?«

»Bis zu Unrat!«

»Denke nur! Da gehört sie doch nicht hin. Sie ist doch rein. Oder aber sie wäre das Letzte der Weiber.«

Lohmann gab es auf. Ertzum war nun einmal viel daran gelegen, daß die Rosa Fröhlich auf einem unzugänglichen Wolkenthron sitze. Offenbar brauchte er es so. Er machte seinem dümmeren Selbst weis, daß er sich auf die Rosa Fröhlich niemals wirkliche Hoffnung angemaßt habe. Zweck des Selbstbetrugs war, daß um so weniger Unrat aus seinem Pfuhl heraus nach ihr gelangt haben könne. Die Lebenserfahrung, die das Gesicht einer Kuhmagd trug, blieb dahinten; und ein hochgespannter Träumer entstieg dem roten Landjunker: denn es brachte Vorteil für Ertzums Eigenliebe … So war der Mensch, meinte Lohmann.

»Und wenn ich mich nun frage, warum«, sagte Ertzum noch, »da find ich wirklich keine Erklärung. Ich hab ihr alles geboten, was ihr ein Mensch nur bieten kann … Daß sie mich liebte, das konnte ich, ehrlich gesagt, allerdings kaum hoffen. Sie hat mich ja nicht besser behandelt als dich! Warum wohl auch grade mich! … Aber statt dessen Unrat? Glaubst du das, Mensch? Unrat?!«

»Die Frauen sind unfaßbar«, erklärte Lohmann und versank in Sinnen.

»Ich kann es nicht glauben. Ich glaube, er hat ihr schwindelhafte Vorspielungen gemacht; er wird sie noch ins Unglück bringen.«

Und Ertzum dachte hinzu: ›Vielleicht … dann …‹

Da überholte Kieselack die beiden. Er schlich schon seit einer Weile hinter ihnen her. Er verkündete gellend: »So blau. Unrat hat zehn Mark geblecht, ich hab es ja durchs Schlüsselloch gesehn.«

»Du lügst – Schwein!« brüllte Ertzum und brach los gegen den Kleinen.

Aber Kieselack hatte dies vorausgesehen und war im Nu über alle Berge.