Er ging noch ins Amt, kraft eines Restes von staatserhaltender Gewohnheit und obwohl er voraussah, daß einer dieser Schulgänge sein letzter sein werde. Die Oberlehrer hatten sich jetzt ausnahmslos dafür entschieden, ihn zu übersehn. Im Lehrerzimmer versteckte sich alles hinter Zeitungen, floh den Tisch, spie in die Ecken, sobald Unrat mit seinen zu korrigierenden Heften sich niederließ. In der Klasse fehlten Lohmann, von Ertzum und Kieselack, alle drei. Die übrigen verachtete Unrat und ließ sie gewähren. Manchmal bedachte er, aufzischend, irgendeinen mit halbtagelangem Karzer. Später vergaß er aber, den Pedell mit der Ausführung des Urteils zu beauftragen.

Draußen schlich er dahin, ohne jemand zu sehen, hörte weder Schmähungen noch Ruhmeserhebungen, merkte es auch nicht, wenn die Lohnkutscher ihre Pferde anhielten, um ihre Fremden auf Unrat als eine städtische Sehenswürdigkeit aufmerksam zu machen. Wo er vorüberkam, ward von seinem Prozeß gesprochen. Für die Leute war eigentlich Unrat der Angeklagte, und sein Auftreten vor Gericht erregte Bedauern und Zorn. Ältere Herren, Schüler aus den ersten Jahrgängen, für die Unrat heitere, von der Zeit zärtlich vergoldete Jugenderinnerungen umhertrug, blieben bei seinem Anblick stehn und schüttelten die Köpfe.

»Was is denn aus unserm alten Unrat bloß geworden. Das is ja ’n Jammer, is es ja, was er neuerdings für Geschichten macht.«

»So tritt ’n Lehrer doch nich auf gegen so ’ne Jungens. Soll das ’n Jugenderzieher sein? Und denn seine Ausfälle gegen die Kaufmannschaft und gegen die ersten Familien. Vor Gericht, bitte.«

»Wer sich selber in seinen Jahren noch pikante Seitensprünge vorzuwerfen hat und öffentlich damit reinfällt. Er sitzt doch überhaupt in ’n Glashaus. In der Bürgerschaft soll die Geschichte zur Sprache kommen, und daß sie ihn nich mehr haben wollen bei der Schule, das weiß ich von Breetpoot. Er kann man wegziehn mit seiner Freundin.«

»Aber ’ne feine Deern is es.«

»Das is es.«

Und die Herren lachten sich an, jeder mit einem kleinen Gefunkel im Blick.

»Wie Unrat da bloß auf gekommen is.«

»Tjä, hab ich es Ihnen nich schon immer gesagt? Gegen so ’n Namen kann auf die Dauer keiner an: er is nu mal ’n rechter alter Unrat.«

Andere erinnerten an Unrats Sohn, der sich einst mit einem anrüchigen Frauenzimmer auf offenem Markt hatte blicken lassen. Sie beriefen sich auf den Apfel, der nicht weit vom Stamm falle, und behaupteten nach dem Vorgang des Oberlehrers Hübbenett, der sittliche Zusammenbruch des Vaters sei bestimmt vorherzusagen gewesen. Man wollte auch von jeher etwas Menschenscheues, Unheimliches, gründlich Verdächtiges an Unrat wahrgenommen haben und erklärte, sich über seine vor Gericht geführten, gegen die Angesehensten der Stadt gerichteten Reden keinen Augenblick zu wundern.

»So ’n altes Ekel hätt man schon lange totschlagen sollen«, äußerte bei Unrats Nahen, in seine Ladentür gelehnt, der Zigarrenhändler Meyer, dessen Rechnungen für Professor Raat immer mit einem durchgestrichenen U begonnen hatten.

Der Pächter des Café Central sagte in der Frühe, wenn Unrat die Hausfront entlangschlich, zu seinen das Lokal säubernden Kellnern: »Sittlicher Unrat muß egal raus.«

Andererseits gab es unzufriedene Bürger, die Unrats Emanzipation mit Freuden begrüßten, ihn für ihre dem Bestehenden feindlichen Werbungen als Bundesgenossen beanspruchten und Versammlungen einberiefen, wo über sein mutiges Auftreten gegen die Privilegierten der Stadt debattiert ward, und wo er reden sollte. In ihren öffentlichen Aufrufen hieß es: »Hut ab vor solchem Manne!«

Unrat ließ ihre schriftlichen Einladungen unerwidert. Ihre Abordnungen verabschiedete er durch die verschlossene Tür. Er saß und gedachte mit Haß, Sehnsucht und Grausamkeit der Künstlerin Fröhlich und daran, wie er sie nötigen könne, die Stadt zu verlassen und in großen Tagemärschen davonzuziehen. Es fiel ihm wieder ein, daß er dies bei ihrem allerersten Zusammentreffen ihr strenge geboten hatte. Wenn sie damals sich nicht dem Lehrer widersetzt hätte! Jetzt hatte sie eine Masse Unfug getrieben, Unheil angestiftet, und Unrat konnte sich, in fassungsloser, martervoller Rachgier, nichts Ersehnenswerteres mehr vorstellen, als daß die Künstlerin Fröhlich in einem tiefen und finstern Kabuff ihr Leben enden möge.

Er vermied tagsüber peinlich die Straßen, in denen er ihr begegnen konnte. Des Nachts nur geschah es, daß er in jene Stadtgegend schlich, zu einer Stunde, wo hinter der verhängten Scheibe keines Lokals mehr die Schatten von Oberlehrerköpfen mit den Gebissen klappten. Dann machte Unrat, scheu, feindselig und voll bittern Verlangens, eine weite Runde um das Hotel zum Schwedischen Hof.

Einmal trat ihm dabei aus dem Dunkel ein Mensch entgegen und grüßte: es war Lohmann. Unrat prallte zuerst zurück und rang nach Luft. Dann spreizte er die Hände und griff, mit beiden zugleich, nach Lohmann, der höflich auswich. Als Unrat wieder fest auf den Beinen stand, begann er zu pfauchen: »So wagen Sie Elender es denn also, mir noch unter die Augen zu treten! Dicht bei der Wohnung der Künstlerin Fröhlich muß ich Sie fassen! Sie haben schon wieder Nebendinge getrieben!«

»Ich versichere Sie«, erwiderte Lohmann sanft, »Sie irren sich, Herr Professor. Sie irren sich von vorn bis hinten.«

»Was haben Sie hier etwa sonst angefangen, verruchter Bube!«

»Ich bedauere, mich darüber nicht äußern zu können. Nur so viel, daß es Sie, Herr Professor, in keiner Weise berührt.«

»Ich werde Sie vollends zerschmettern!« verhieß Unrat, mit den Augen einer wütenden Katze. »Seien Sie gewärtig, mit Schmach und Schande von der Schule gejagt zu werden …«

»Es sollte mich freuen, wenn Ihnen die Genugtuung würde, Herr Professor«, sagte Lohmann, ohne die Absicht zu spotten, eher wehmütig, und ging langsam weiter, verfolgt von Unrats Drohungen.

Er war nicht mehr aufgelegt, Unrat zu kränken. Heute, wo alles über ihn herfiel, hätte Lohmann sich dessen geschämt. Er fühlte Mitleid mit dem Alten, der noch davon sprach, ihn von der Schule zu jagen, in dem Augenblick, wo Unrats eigene Entlassung schon beschlossen war – Mitleid und auch eine Art von zurückhaltender Sympathie für diesen einsamen Allerweltsfeind, der unbedenklich so viel gegen sich auf die Beine brachte; für den interessanten Anarchisten, der hier im Ausbrechen war …

Sein ewiger Verdacht auf Lohmann wegen dieser Fröhlich war kläglich und rührend; er war sogar voll tragischer Ironie, wenn man ihn zusammenhielt mit dem, was Lohmann in Wirklichkeit in diese Nacht hinausgeführt hatte. Lohmann kam aus der Kaiserstraße. Frau Dora Breetpoot war heute abend entbunden. Und Lohmanns unbekannte Zärtlichkeit neigte sich über ihr Schmerzensbett. Sein Herz, ein fruchtlos und demütig schwelendes Feuerchen, sehnte sich, den kleinen, zitternden Kinderkörper zu erwärmen, dessen Entstehung vielleicht Assessor Knust, vielleicht Leutnant von Gierschke, vielleicht auch Konsul Breetpoot bewirkt hatte … Lohmann war heute nacht vor das Breetpootsche Haus gegangen und hatte die verschlossene Tür geküßt.

 

Wenige Tage später hatten die schwebenden Schicksale sich gesenkt. Lohmann, dem nichts daran lag, durfte, bis er nach England ging, auf der Schule verbleiben; seine Verwandten waren zu mächtig, als daß an seine Entfernung zu denken gewesen wäre. Kieselack verdankte seinen Abschied nicht dem Vorfall mit dem Hünengrab; eher seiner ungebührlichen Aufführung vor Gericht; vor allem aber seinen zur Künstlerin Fröhlich unterhaltenen und von ihr bekanntgegebenen Beziehungen, die unzulässig erschienen für einen Sekundaner. Von Ertzum ging freiwillig und überantwortete sich einer Presse. Unrat ward entlassen.

Er behielt das Recht, seine Lehrtätigkeit bis zum Herbst fortzusetzen. Er brach sie aber, im Einvernehmen mit der vorgesetzten Behörde, sofort ab. An einem von Unrats ersten schulfreien Vormittagen, wie er, unbeschäftigt und planlos für immer, im Sofa saß, kam Pastor Quittjens. Er hatte zugesehen, wie hier jemand immer tiefer in Sünde und Verlegenheiten hineinritt. Jetzt, da der Mann am Boden lag, war er der Meinung, daß für das Christentum etwas zu machen sei.

Er begann sofort, und rauchte dabei eine Zigarre wie jeder andere Mensch, sich über Unrats traurige Sachen zu erbarmen, über seine Vereinsamung, über die Anfeindungen, denen er sich gerade von seiten der Besseren ausgesetzt habe. So etwas habe doch niemand gern, dagegen müsse man was tun. Wenn Unrat wenigstens noch seine gewohnte Tätigkeit besäße. Seine Entlassung mache das Unglück voll, indem sie ihn seinen bittern Gedanken rettungslos ausliefere … Nun, rettungslos sei zuviel gesagt. Pastor Quittjens machte sich anheischig, für Unrats Wiederaufnahme bei den Besseren zu sorgen, ihn in einen politischen Verein, in einen Kegelklub hineinzulotsen. Bedingung sei allerdings – dies schien der Pastor zu bedauern und als unvermeidliches Übel anzusehn –, daß Unrat vor Gott und den Menschen seine Verirrungen bereuen und ihnen ein Ende machen müsse.

Unrat antwortete hierauf so gut wie nichts. Der Vorschlag interessierte ihn nicht. Wenn er schon der Künstlerin Fröhlich verlustig ging, fand er es zwecklos, eine Kegelpartie dafür einzutauschen.

Darauf griff Pastor Quittjens zu größeren Gesichtspunkten. Er beklagte die Schüler, denen ein zu ihrer Hut Berufener die Schwelle des Jünglingsalters durch solch ein Beispiel vergifte. Und nicht nur die Schüler der Untersekunda, nein, alle andern ebenso; und nicht nur alle andern innerhalb des Gymnasiums, sondern, über die Mauern des Gymnasiums hinaus, alle die ehemaligen Schüler – also die Stadt in ihrer Gesamtheit. Alle diese, und Pastor Quittjens ließ seine Zigarre ausgehn, müßten an den Lehren ihrer Jugend Zweifel empfangen und in ihrem schlichten Glauben wankend werden. Ob denn Unrat so schwere Dinge auf sein Gewissen nehmen wolle. Schon sei der Knabe Kieselack ins Unglück geraten, und Unrat werde wohl nicht verkennen, daß für den Fall dieses Kindes ihm selbst eine Mitverantwortlichkeit zukomme. Das sei aber sicher nicht der einzige Schade, den der Abfall eines Mannes wie Unrat von Glaube und Sitte zu stiften bestimmt sei …

Unrat ward stutzig. Von Kieselacks Vernichtung erfuhr er erst jetzt; und er brannte von jäher Freude darüber, sie bewirkt zu haben. Daß sein Beispiel andern gefährlich werden, in der Stadt Verderben aussäen könne, darauf war er noch nicht verfallen. Hier öffneten sich Aussichten auf Rache und erregten ihn. Er bekam rote Flecke und zupfte, atemlos in sich selbst vertieft, an seinen spärlichen Gesichtshaaren.

Pastor Quittjens mißverstand ihn und sagte, das habe er gewußt, daß Unrat sich das nahegehen lassen werde. Besonders, wenn man das Geschöpf in Betracht ziehe, wegen dessen er sich und andere den größten Unannehmlichkeiten aussetze, dann trete ja der Fauxpas ohne weiteres zutage.

Unrat fragte, ob der Pastor von der Künstlerin Fröhlich rede.

Natürlich. Jetzt, seit ihren in öffentlicher Gerichtsverhandlung abgelegten Geständnissen, seien Unrat ja wohl die Augen geöffnet. Liebe mache blind, dies sei – und Pastor Quittjens zündete seine Zigarre wieder an – zuzugestehen. Andererseits möge Unrat sich doch nur seiner Studienjahre erinnern und des Mannigfachen, das man damals in Berlin erfahren habe. Man sei ja auch kein Frosch gewesen, huhu, und wisse über solche Dämchen ziemlich Bescheid. Die seien es denn doch nicht wert, daß man seine Existenz und die von andern Leuten auf den Kopf stelle. Ja, wenn er an Berlin denke –

Pastor Quittjens lächelte selig und schickte sich an, vertraulich zu werden. Unrat benahm sich immer unruhiger, und plötzlich unterbrach er. Ob dies alles sich etwa auf die Künstlerin Fröhlich beziehe. Der Pastor war verwundert und bejahte. Darauf schnellte Unrat vom Sofa, pfauchte und stieß dumpf und bedrohlich, während der Saft seines Mundes über Pastor Quittjens hinspritzte, die Worte aus: »Sie haben die Künstlerin Fröhlich beleidigt. Die Dame steht unter meinem Schutz. Verlassen Sie – vorwärts nun also! – mein Haus!«

Der Pastor rückte erschrocken in seinem Stuhl weit fort. Unrat hastete zur Tür und öffnete sie. Als er dann nochmals, zornbebend, auf Pastor Quittjens losfuhr, rutschte der Pastor in einem feigen Bogen mitsamt seinem Stuhl aus der Tür hinaus. Unrat schloß sie.

Er keuchte noch lange durch das Zimmer. Er mußte sich gestehn, der Künstlerin Fröhlich erst vor kurzem sehr Übles gewünscht zu haben. Die schlimmsten Gedanken hatte er sich gemacht über sie. Aber was Unrats Recht war, dazu besaß Pastor Quittjens noch lange nicht die Erlaubnis. Die Künstlerin Fröhlich stand über Pastor Quittjens. Sie stand über allen – allein und heilig im Angesicht der Menschheit. Es war gut, daß auf solche Weise Unrat wieder zum wahren Bewußtsein der Dinge kam. Die Künstlerin Fröhlich war ja seine Angelegenheit! Man vergriff sich an ihm selbst, wenn man sich unterstand, sie nicht gelten zu lassen! Seine von Angst durchjagte Tyrannenwut packte ihn, und er mußte sich stützen: wie damals, als das Publikum des Blauen Engels sie ausgelacht hatte. Sie auszulachen, die er eigenhändig geschminkt hatte! Ihre Leistungen zu beanstanden, die er gewissermaßen selber vorführte! Es waren – gewiß nun freilich – keine erfreulichen Leistungen, deren sie sich beim Hünengrab beflissen hatte, und sie hatten Unrat Schmerz gekostet. Das aber hatten nur sie selbst miteinander auszumachen, Unrat und die Künstlerin Fröhlich. Er wollte zu ihr hingehen, er war nicht gesonnen, dies länger zu unterlassen! Er griff zum Hut und hängte ihn wieder hin.

Sie hatte ihn verraten – immerhin denn wohl. Andererseits war sie so der Weg geworden, der zum Verderben des Schülers Kieselack geführt hatte. Ward sie hierdurch nicht gerechtfertigt? Noch nicht? Wenn sie aber noch andern Schülern – zum Verderben gereichte?

Unrat blieb stehen, mit gesenktem Kopf, über den eine rote Wolke zog. Seine Rachgier und seine Eifersucht kämpften, indes er sich nicht regte. Endlich hatte die Rachgier gesiegt. Die Künstlerin Fröhlich war gerechtfertigt.

Und Unrat begann zu träumen von Schülern, denen sie zum Verderben hätte gereichen sollen. Wie schade, daß der Zigarrenhändler vom Markt nicht mehr auf der Schule war; und jener Lehrling, der nicht grüßte, sondern feixte; und alle andern in der Stadt. Ihnen allen hätte die Künstlerin Fröhlich zum Verderben gereichen sollen. Sie alle hätten ihretwegen mit Schimpf und Schande aus der Schule vertrieben werden sollen. Ein andersgeartetes Verderben konnte Unrat sich nicht vorstellen. Auf einen Zusammenbruch, der nicht darin bestand, daß einer aus der Schule vertrieben ward, verfiel er nicht …

 

Als er bei der Künstlerin Fröhlich anklopfte, trat sie grade selbst, zum Ausgehen fertig, in die Tür.

»Hu! Da is er! Wenn ich nu nich eben zu dir wollte! Du glaubst es natürlich nich, aber ich will dot hinschlagen, wenn es nich wahr is.«

»Mag’s denn sein«, sagte Unrat. Und es war die Wahrheit.

Die Künstlerin Fröhlich hatte, als Unrat sich durchaus nicht mehr blicken ließ, zuerst einfach gesagt: »Na denn nich«, und hatte sich darauf gefaßt gemacht, ihre eigene Wohnung nicht mehr zu beziehen, sondern vom Erlös der geschenkten Möbel noch eine Zeitlang zu privatisieren, um dann, weil das Ehepaar Kiepert anderweitig versorgt und schon abgereist war, ein neues Engagement zu suchen. Sie hatte ihrem alten Unrat weiß Gott die freundschaftlichsten Gefühle entgegengebracht; aber die konnte man einem Menschen ja nicht am Reck vorturnen, und wenn er’s nicht glauben wollte, mußte er’s lassen. Sie hatte ihre Philosophie. Es war viel leichter, einen zu beschwindeln, nachdem man was angestellt hatte, als es einem zu beweisen, wenn man grade mal wirklich unschuldig war. Überhaupt kam man aus dem Versteckenspielen mit gewesenen Dingen nie mehr heraus, wenn ein Mann schon in solchen offenbaren Kindereien wie der Hünengrabgeschichte ein Haar fand und sich einbildete, sie ginge auch nach ihrer Bekanntschaft mit ihm mit all und jedem. Dann war der Alte eben doch ihr Genre nicht. Es kam ja vor, daß einer sich irrte; darein ergab man sich denn. Auf der Straße lief einem manchmal einer nach, halbe Stunden lang, bis er es schließlich riskierte, überholte einen und glupte einen von der Seite an. Da schwenkte er auf einmal ab und tat, als wär er’s nicht gewesen. Unrat hatte sie bisher auch wohl bloß von hinten gekannt, und sobald er sie ins Gesicht zu sehen kriegte, war’s alle. Na laß ihn.

Wie sie dann die Zeit hingehn sah, sich langweilte und das bare Geld vermißte, überlegte sie, daß es doch zu dumm sei, die Sache einfach so in die Brüche gehn zu lassen. Der Alte schämte sich am Ende bloß, schmollte und wartete, daß sie ihm ’n kleinen Finger hinhielt. Konnte gemacht werden. Er war ja ’n altes Kind, ’n bißchen komisch eigensinnig. Sie dachte daran, wie er den Kapitän aus der Garderobe hinausgesetzt hatte und es deswegen sogar mit Kiepert aufgenommen hatte; und sie lachte. Gleich nachher aber bekam sie wieder die starren, sinnenden Augen, mit denen sie Unrat manchmal betrachtet hatte. Eifersüchtig war er, das mußte wahr sein; und es gab ihr Hochachtung ein. Vielleicht saß er nun und giftete sich und war ihr spinneböse und konnte vor Galle nicht Mittag essen. So was war ja schrecklich. Ihr gutes Herz bewegte sich. Und nicht nur ihres Vorteils wegen, nein, auch aus Mitleid und auch aus Hochachtung machte sie sich auf den Weg.

»Wir haben uns ja lange nich gesehn«, sagte sie, schüchtern und spöttisch.

»Das hat denn auch seine Gründe«, brachte Unrat hervor. »Ich war – immer mal wieder – beschäftigt.«

»Ach so. Und womit denn?«

»Mit meiner Entlassung aus dem Lehrkörper des hiesigen Gymnasiums.«

»Ich verstehe. Das hab ich als Vorwurf aufzufassen.«

»Du bist gerechtfertigt. Ist doch auch der Schüler Kieselack entfernt worden und der dem Gebildeten offenstehenden Laufbahnen für immer verlustig gegangen.«

»Der Ekel, dem gönn ich es.«

»Von diesem Geschick ist es nun freilich zu wünschen, daß es zahlreiche andere Schüler ereile.«

»Ja wie sollen wir das bloß anstellen«, und sie lächelte von unten. Unrat ward rot. Es entstand eine Pause, während deren sie ihn hineinführte und hinsetzte. Sie glitt auf seine Knie, versteckte das Gesicht hinter seiner Schulter und fragte demütig scherzend: »Ist Unratchen seiner kleinen Künstlerin Fröhlich nu auch gewiß nich mehr böse? Weißt du, was ich vor Gericht erzählt hab, das war ja tatsächlich alles. Gott is mein Zeuge, hätt ich fast gesagt, obschon das einem auch nischt hilft. Du kannst mir aber glauben.«

»Mag’s denn sein«, wiederholte er. Und in dem Bedürfnis, sich ihr näherzubringen durch Klärung und Zusammenfassung der Vorgänge: »Es ist mir – traun fürwahr – recht wohl bekannt, daß die sogenannte Sittlichkeit in den meisten Fällen auf das innigste mit Dummheit verknüpft ist. Hieran kann höchstens der nicht humanistisch Gebildete zweifeln. Immerhin ist die Sittlichkeit von Vorteil für den, der, sie nicht besitzend, über die, welche ihrer nicht entraten können, leicht die Herrschaft erlangt. Es ließe sich sogar behaupten und nachweisen, daß von den Untertanenseelen die sogenannte Sittlichkeit strenge zu fordern sei. Diese Forderung hat mich indes – aufgemerkt nun also! – niemals dazu verleitet, zu verkennen, daß es andere Lebenskreise geben mag mit Sittengeboten, die von denen des gemeinen Philisters sich wesentlich unterscheiden.«

Sie lauschte angestrengt und verwundert.

»Ach nee. Wo sind denn die. Is das kein Schwindel?«

»Ich selbst«, fuhr Unrat fort, »habe mich persönlich stets an den sittlichen Gepflogenheiten des Philisters beteiligt: nicht, weil ich ihnen Wert beigemessen oder mich an sie gebunden erachtet hätte, sondern weil ich – vorwärts, immer mal wieder! – keinen Anlaß traf, mich von ihnen zu trennen.«

Er mußte sich im Sprechen selber anfeuern, so stockend und von Farbe und Kraftlosigkeit des heftigsten Schamgefühls befallen, brachte er seine kühne Lebensauffassung zum Vorschein.

Sie bewunderte seine Rede und fühlte sich geschmeichelt, weil er sie ihr, nur ihr zum besten gab. Als er noch hinzusetzte: »Von dir dagegen habe ich, ich kann nicht umhin, dies festzustellen, zu keiner Zeit einen dem meinigen verwandten Lebenswandel erwartet« – da schnitt sie ihm vor Überraschung und Rührung eine Fratze und küßte ihn. Sie ließ kaum seinen Mund los, und er erläuterte schon wieder: »Was jedoch nicht verhinderte –«

»Na was denn? Was verhinderte es denn nich, Unratchen?«

»– daß meine zu dir gefaßte Zuneigung mir das Ertragen der dem Grundsatze nach zu billigenden Dinge in diesem konkreten Falle erheblich erschwert hat, ja, daß diese Dinge mir zum Schmerze gereicht haben.«

Sie erriet ungefähr und hielt ihm ein schmeichlerischschiefes Köpfchen hin.

»Denn ich erachte dich für eine solche, deren teilhaftig zu werden nicht so leicht einer verdient.«

Sie ward ernst und nachdenklich.

Unrat beschied sich.

»Mag’s denn sein.«

Aber dann, hervorgestoßen, unter dem Ansturm einer schrecklichen Erinnerung: »Nur einen gibt es, den könnte ich dir nie verzeihn, dessen mußt du dich – traun fürwahr – enthalten, den darfst du niemals wiedersehen. Das ist Lohmann!«

Sie sah ihn erschöpft, voller Schweißtropfen, und begriff es nicht, weil sie nichts wußte von dem quälerischen Bilde, das ihn einmal überwältigt hatte – Lohmanns Bild mit ihrem.

»Ach ja«, äußerte sie. »Auf den bist du immer so wild gewesen. Du wolltest doch Wurst aus ihm machen. Sollst du auch, mein Unratchen, sei man wieder gut. Mir sagt so ’n dummer Junge gottlob gar nischt. Wenn ich dir das bloß klarmachen könnte. Aber da gibt’s auch nischt, was hilft. Man möchte weinen.«

Und sie hatte in Wahrheit Lust dazu: weil sie durchaus keinen Glauben fand in betreff ihrer Herzenskühle gegen Lohmann; und weil sie ganz im Hintergrunde ihres Herzens etwas Lohmann Angehendes ahnte, das ihr die Glaubwürdigkeit eigentlich genommen hätte; und weil Unrat, das dumme alte Kind, so oft und so ungeschickt daran rührte; und weil es im Leben sichtlich den Frieden nicht gab, den sie sich sehnlich wünschte.

Aber weil Unrat die Herkunft ihrer Tränen nicht verstanden haben würde, und weil sie die Lage nicht unnötig verwickeln wollte, versagte sie sich das Weinen.

 

Übrigens kam jetzt eine schöne Zeit. Sie gingen zusammen aus und vervollständigten Einrichtung und Ausstattung der Künstlerin Fröhlich. In Toiletten aus Hamburg saß sie fast jeden Abend in einer Loge im Stadttheater, und Unrat, an ihrer Seite, empfing mit einer hinterhältigen Genugtuung alle die neidisch-entrüsteten und übelwollendbegehrlichen Blicke, die herüberkamen. Nun ward auch das Sommertheater eröffnet, und man konnte sich, mitten unter die wohlhabende und ehrbare Gesellschaft, in den Garten setzen, Butterbrot mit Lachs essen und sich freuen, daß es einem nicht gegönnt ward.

Die Künstlerin Fröhlich trug kein Bedenken mehr, Unrat den feindseligen Einflüssen auszusetzen. Die Gefahr war überstanden, er hatte ihretwegen seine Entlassung auf sich genommen samt der allgemeinen Ächtung.

Es war ihr anfangs ein wenig unheimlich dabei zumute gewesen. Wie grade sie dazu käme, meinte sie im stillen, daß einer sich ihretwegen so viel auf den Hals lüde. Zunächst zuckte sie die Achseln: »Die Männer sind nu mal so.«

Allmählich sah sie ein, daß er recht gehabt hatte, und daß sie dies und noch mehr wert sei. Unrat wiederholte ihr so standhaft, wie hoch sie stehe und wie wenig die Menschheit ihren Anblick verdiene, daß sie endlich anfing, sich selbst sehr ernst zu nehmen. Es hatte sie noch niemand so ernst genommen, und darum auch sie selbst sich nicht. Sie war dem dankbar, der es sie lehrte. Sie fühlte, daß sie sich bemühen müsse, ihrerseits den Mann recht hochzuschätzen, der ihr eine solche Stellung anwies. Sie tat mehr: sie strengte sich an, ihn zu lieben.

Plötzlich erklärte sie ihm, sie wolle Lateinisch lernen. Er willfahrte ihr sofort. Sie ließ ihn dann reden, antwortete falsch oder überhörte die Frage und sah ihn nur immer an, voll anderer Fragen an sich selbst. In der dritten Unterrichtsstunde erkundigte sie sich: »Nu sag mal, Unratchen, was is denn eigentlich schwerer zu kapieren, Latein oder Griechisch?«

»Meistens wohl das Griechische«, entschied er, und darauf sie: »Denn will ich Griechisch lernen.«

Er war entzückt; er fragte: »Warum jedoch?«

»Darum, mein Unratchen.«

Sie küßte ihn, und es sah aus wie die Parodie einer Zärtlichkeit. Und doch war es eine echt gemeinte. Er hatte sie ehrgeizig gemacht; und sie verlangte, ihm zu Ehren, statt des Lateinischen das Griechische, weil es schwerer war. Ihr Verlangen war eine Liebeserklärung – die vorweggenommene Erklärung einer Liebe, zu der sie sich nötigen wollte.

Schwer genug fand sie’s ja, ihr altes Unratchen zu lieben. Griechisch war auch nicht schwerer. Sie strich immer, als wollte sie ihn sich recht zu eigen machen, mit den Fingern um den Umriß seiner hölzernen Maske, um die klappenden Kiefer, die eckigen Höhlen, aus deren Winkeln seine Augen hervorschielten, giftig nach allen andern und nach ihr voll kindlicher Dienstfertigkeit. Das gab ihr Mitleid ein und leichte Zärtlichkeit. Seine Gebärden und seine Worte, die hilflose Komik der einen und die umständliche Geistigkeit der andern: alles rührte sie. Auch an die Hochachtung, die er verdiente, erinnerte sie sich oft. Aber weiter kam sie nun einmal nicht.

Um den Mißerfolg ihres Gefühls zu vergüten, nahm sie einige Male beim Griechischen allen ihren Verstand zusammen. Unrat rötete sich fleckig und eilte wonnebebend den Partikeln entgegen. Als er den Homer aufschlug und sie zum erstenmal ein μέν… δέ νὔν herauslesen ließ – als diese geliebten Laute nun wirklich aus dem bunten Gesicht der Künstlerin Fröhlich und von ihren anmutig bemalten Lippen fielen: da klopfte sein Herz. Er mußte das Buch weglegen und sich sammeln. Seine Atmung war noch sehr in Unruhe; er nahm auf dem Tisch die kleine weiche und immer etwas fettige Hand der Künstlerin Fröhlich und sagte, er sei nicht gesonnen, sich auch nur für eine Stunde des ihm erübrigenden Lebens von ihr zu trennen. Er wolle sie heiraten.

Erst verzog sie den Mund zum Weinen. Darauf lächelte sie bewegt, lehnte ihre Wange an seine Schulter und wiegte sich darauf. Das Wiegen ward zum Zucken; ihr Jubel brach aus, sie riß Unrat vom Stuhl, schwenkte ihn umher.

»Nu wer’ ich Frau Unrat! Ich lach mir ja ’n Ast! Frau Professor Unrat – nee, Raat, bitte, meine Herrschaften.«

Und sie spielte sofort eine würdige Dame, die sich im Sessel niederläßt. Einen Augenblick redete sie vernünftig: Nun wolle sie gar nicht mehr ihre neue Wohnung; das meiste sei doch schon verkauft. Nun wolle sie mit in Unrats Villa vorm Tor und sie ganz neu einrichten! Dann platzte sie wieder aus. Schließlich beruhigte sie sich, ward nachdenklich aussehnd und äußerte nur noch: »Was aus ’n Menschen werden kann.«

Als er fragte, ob sie sich freue, und die Dinge sollten doch wohl recht bald vonstatten gehen, lächelte sie nur noch zerstreut.

Sie schien ihm die folgenden Tage niemals ganz bei der Sache. Zuweilen sah sie geradezu sorgenvoll aus, leugnete es aber standhaft. Sie ging oft aus und ward ungeduldig, wenn er mitwollte. Er war betroffen und empfand dunkel ein peinliches Rätsel. Eines Tages kam er darüber zu, wie sie aus einem niederen Gasthaus trat. Nach einer Weile schweigsamen Nebeneinandergehens versetzte sie geheimnisvoll: »Es is nich immer alles so, wie mancher woll meint.«

Dies beunruhigte ihn vollends, aber sie wollte sich nicht erklären.

Eines weiteren Tages endlich trippelte, wie Unrat allein und betrübt durch die mittäglich leere Siebenbergstraße ging, ein kleines weißgekleidetes Kind auf ihn zu und sagte mit einem einfältigen Plärrstimmchen: »Komm nach Haus, Papa.«

Unrat blieb erstaunt stehen und sah auf die kleine, weißbehandschuhte Hand, die das Kind ihm hinstreckte.

»Komm nach Haus, Papa«, wiederholte es.

»Was heißt nun das?« fragte Unrat. »Wo wohnst du denn?«

»Da«, und es zeigte hinter sich.

Unrat sah auf, und da erblickte er an der nächsten Ecke die Künstlerin Fröhlich, mit schmeichlerisch-schiefem Köpfchen und mit einer halben Gebärde der Hand, die sich schüchtern ein Stückchen von der Hüfte weg bewegte, als entschuldigte sie, und als bäte sie.

Unrat klappte ratlos mit den Kiefern. Auf einmal hatte er begriffen; und das weißbekleidete Händchen, das ihm noch immer hingehalten ward, er nahm es einfach.