Die Familie besuchte das nah gelegene Seebad. Sie wohnte im Kurhotel und hatte am Strande eines der hölzernen Chalets inne. Die Künstlerin Fröhlich trug weiße Schuhe und weiße Federboas zu weißen Voilekleidern. Sie sah frisch und luftig aus mit dem flatternden weißen Schleier an ihrem Crêpelisse-Hut und mit ihrem weißen Kind an der Hand. Auch Unrat bekam einen weißen Strandanzug. Auf der Bretterpromenade, an den langen Dünen hin, ward ihnen aus allen Holzhütten mit den Operngläsern nachgesehen; und jemand aus der Stadt erzählte Fremden ihre Geschichte.

Wenn das Kind der Künstlerin Fröhlich mit feuchtem Sande buk, mußte es seine Kuchenformen ganz festhalten; denn kaum lief es die unbestimmteste Gefahr, eine davon in Sand oder Wasser zu verlieren, stürzte sich schon irgendein eleganter Herr darüber her und brachte sie – nicht dem Kinde, sondern der Künstlerin Fröhlich. Dann nannte er mit einer Verbeugung vor Unrat seinen Namen. Infolgedessen saß die Familie in ihrem Strandhäuschen beim Kaffee nun schon mit zwei Hamburger Kaufleuten, einem jungen Brasilianer und einem sächsischen Fabrikanten.

Die zusammengewürfelte Gesellschaft machte Segelpartien, bei denen allen Herren übel ward, nur Unrat nicht. Er und die Künstlerin Fröhlich lachten einander zu. Das Kind erhielt täglich Pfunde Pralinés, nebst aufgetakelten Schiffchen, hölzernen Schaufeln und Badepuppen. Immer war man guter Dinge. Man ritt auf Eseln, Unrat mit verlorengegangenen Steigbügeln und an die Mähne geklammert, im Galopp bei der Kurmusik vorbei, grade zur Stunde des Konzerts. Die Künstlerin Fröhlich kreischte, das Kind jauchzte, und an den Tischen fielen saure Bemerkungen.

Als noch ein Berliner Bankier mitsamt einer ungarischen Tänzerin dazukam, nahm die »Rotte Unrat« allen Raum ein, lärmte an der Table d’hôte, verlangte vom Kapellmeister die Musikstücke, mit denen die Künstlerin Fröhlich in ihrer Laufbahn zu tun gehabt hatte, ließ auf eigene Faust Feuerwerke abbrennen, stellte alles auf den Kopf und stiftete Vergnügen und Empörung.

Unrat war denen, die um seiner Frau willen mit ihm lebten, ein Rätsel. Er gab sich Blößen beim Verzehren mancher Gerichte, fiel auf einer Reunion lang hin, trug seine englischen Anzüge wie eine Verkleidung und schien, wenn man ihn so ansah, kein ernstes Hindernis bedeuten und keine andere Wirkung hervorbringen zu können als eine durch Kläglichkeit belustigende. Er dünkte einem von Natur immer im Verlieren. Dabei fing man aber, während man mit seiner Frau im besten Flirten war, unversehens einen trocken spöttischen Blick auf, den er einem von hinten widmete. Wenn er das Armband bewunderte, das man seiner Frau schenkte, hatte man auf einmal die Empfindung, man sei hineingefallen. Und noch nach Erlangung nahezu entscheidender Vorteile – auf einem späten Spaziergang an die See hinunter, allein mit der Frau, während der Gatte mit den andern bei der Bowle saß – kam man sich bei seinem Gutenachthändedruck wie der Ausgelachte vor und zweifelte nachdrücklich, ob man je ans Ziel kommen werde.

Und man kam nie hin. Denn Unrat verstand es viel zu gut, einen bei der Künstlerin Fröhlich zurückzuwerfen und abzutun. Er verspottete, sobald er mit ihr allein war, die englischen Redensarten der beiden Hamburger, zuckte die Achseln über den Brasilianer, der, anstatt flache Kiesel über das glatte Wasser springen zu lassen, Markstücke dazu nahm, und ahmte die feudalen Kopf- und Handbewegungen des Leipzigers nach, beim Anzünden einer Zigarette und beim Öffnen einer Flasche. Dann lachte die Künstlerin Fröhlich. Sie lachte, ohne daß Unrats Gründe für die Verächtlichkeit von alledem sie recht überzeugt hätten. Auch brachte er eigentlich nichts vor, als daß die Griechen das nicht so gemacht haben würden. Aber wer sie zu einem Gelächter aufforderte, dem war sie immer dankbar. Und überdies ward sie bezwungen von Unrats hartnäckiger und in ihrer Unangreifbarkeit beinahe majestätischer Überzeugung, daß kein menschliches Wesen in Frage komme neben ihm und ihr. Im Bann eines Starken, gewann auch sie an Selbstgefühl und Haltung. Zu dem Brasilianer, der an einer einsamen Klippe vor ihr im Sande kniete und die Hände rang, sagte sie, als gingen ihr nun wirklich die Augen auf, im Ton unmittelbarer Anschauung: »Sie sind doch ’n Baffze.«

Dabei hatte es ihr geschmeichelt, daß dieser junge Mensch, der bei einer Familie aus der Stadt zu Gast war, alle seine Bekannten liegenließ, um mit ihr zu zigeunern und sein Geld auszugeben. Aber er war ein Baffze, kraft Unrats Verfügung.

Er fragte sie nach solchen Abwesenheiten niemals aus. Er zeigte sich nicht beunruhigt, wenn sie zu vorteilhaft angezogen war, wenn ihre Sommerkleider aus Spitzen und leichtem Leinen die Bewerber zu schlau in Atem hielten. Im Gegenteil, indes die Herren draußen warteten, half Unrat der Künstlerin Fröhlich, sich schön zu machen und schminkte sie, wie früher in der Garderobe. Er bemerkte mit seinem giftigen Lächeln: »Das Volk wird ungeduldig. Man müßte Klavier spielen lassen, damit es aushält.«

Oder:

»Wenn du jetzt, halb geschminkt und ihnen unerwartet, den Kopf durch die Tür stecken würdest, ei, da riefen sie denn wohl wieder hohohoho.«

 

Die Abreise aus dem Seebad erfolgte nicht ohne einen lebhaften Zwischenfall. Am Bahnhof war die ganze »Rotte Unrat«, und der Brasilianer hatte grade erst einige Worte mit der Künstlerin Fröhlich beiseite sprechen können, da keuchte hinkend ein alter Herr herbei, der Makler Vermöhlen, zu dessen Familie der junge Fremde zählte, und versuchte, seine Hand auf das Etui in den Händen der Künstlerin Fröhlich zu legen.

Sie hatte es soeben in aller Form von dem Brasilianer geschenkt bekommen. Unrat mußte herzueilen und die Rechte seiner Frau wahrnehmen. Während der junge Mann, voll Scham, seine ganze Verwandtschaft verleugnete, hielt der alte Vermöhlen in großer Erregung dem Ehepaar Unrat vor, daß sein Neffe in ihrer Gesellschaft schon längst seine Mittel überschritten habe. Diese Brosche habe er nicht mehr kaufen können; leider habe seine schwache Tante ihm das Geld dazu gegeben; es sei aber Vermöhlens Geld gewesen, und darum gelte der Handel nicht.

Unrat versetzte dagegen mit zurechtweisender Ruhe, daß das Geld des Herrn und der Frau Vermöhlen wohl sicher eins und dasselbe sei; daß er auf solche inneren Angelegenheiten der Familie Vermöhlen Rücksicht zu nehmen nicht gesonnen sei; und daß übrigens zum drittenmal geläutet werde. Und seine grauen Finger fest um das Etui, schob er die Künstlerin Fröhlich in den Wagen. Alle schwenkten die Hüte, bis auf Vermöhlen, der mit dem Stock drohte.

Die Künstlerin Fröhlich machte zuerst eine verzagte Bemerkung über das Peinliche und über die möglichen Folgen. Unrat klärte sie über die Grundlosigkeit ihrer Befürchtungen auf. Er setzte hinzu, der Makler Vermöhlen habe Söhne, diese seien ehemalige Schüler, und Unrat habe sie nie »fassen« können. Vermöhlens seien verwandt mit vielen Familien der Stadt.

Die Künstlerin Fröhlich hatte sich beruhigt. Sie zeigte die kleinen Brillanten ihrem Kinde, lachte mit ihm und verhieß: »Die ollen Anhängsel und Feststecksel sind alle für Mimi, wenn Mimi mal erst ’ne Mitgift braucht.«

Unrat frohlockte, weil die Schüler Vermöhlen nun »gefaßt« waren. Allmählich ward er nachdenklich darüber, daß hier Schülern samt ihrer weitverzweigten Familie ein Schaden erwachsen war, der nicht aus Einsperrung ins Kabuff und nicht aus Vertreibung von der Schule hervorging. Schaden und – traun fürwahr – äußerstes Verderben ließen sich also auf andere Weise bewirken als durch Vertreibung von der Schule. Auf neue, unvorhergesehene Weise …

 

In der Stadt und in ihrer Villa begann wieder das vorige Leben. Es fehlte an Verkehr. Bis zum Abend, wo man immer ins Theater und ins Restaurant mußte, lag die Künstlerin Fröhlich im Frisiermantel auf allen Möbeln umher. Unrat schlug vor, sie durch Unterricht im Griechischen ein wenig zu zerstreuen. Sie lehnte unbehaglich ab. Eines Abends, in einem Lustspiel, entdeckte sie in der auftretenden Köchin eine alte Bekannte.

»Das is weiß Gott Hedwig Pielemann, daß sie die hier überhaupt nehmen, die konnte doch nie was.«

Darauf berichtete sie sofort eine Menge Anzügliches aus dem Leben der ehemaligen Kameradin. Und zum Schluß: »Du, die muß uns besuchen.«

Die Pielemann kam, und die Künstlerin Fröhlich setzte ihr, um sie zu blenden, kleine feine Frühstücke und Soupers vor. Nun lagen auf den Möbeln zwei Damen statt einer, rauchten und erinnerten einander an schon besprochene Erlebnisse. Unrat sah mit schlechtem Gewissen zu, wie sie sich langweilten. Er fühlte die Verpflichtung, einzugreifen, und blieb doch ratlos, bedrängt wie er war von geheimen Sorgen. Sooft es läutete, fuhr er vom Sitz auf und schlich ganz eilig an die Flurtür. Den Damen fiel es auf, daß er niemals dem Dienstmädchen erlaubte, die Tür zu öffnen.

»Entweder«, sagte die Künstlerin Fröhlich, »er will mich überraschen, oder er betrügt mich. Mein alter Unrat hat es überhaupt faustdick hinter ’n Ohren.«

Eines Tages kam ein Brief aus Hamburg, von den beiden guten Freunden. Sie wollten eine Herbstreise machen, zu Schiff an die spanische Küste und bis nach Tunis. Sie verlangten, daß Unrat und Frau mitkämen.

»Na also!« versetzte die Künstlerin Fröhlich. »Das is doch mal was. Wir reisen zu die Wilden. Du mußt mit, Pielemann, schind Urlaub raus. Wir schminken uns alle braun, nehmen Bettlaken um, un ich setz mir mein Diadem auf, was ich noch hab von der Zeit her, wie ich Künstlerin war.«

Die Pielemann war bald gewonnen. Unrat ward nicht gefragt. Man wunderte sich nur, daß er so wenig Begeisterung verriet. Er zog es hin, bis die Pielemann gegangen war; dann kam es endlich zu befreienden Geständnissen. Es war kein Geld mehr da.

»Is nich die Möglichkeit! ’n Professor muß doch Geld haben!« rief sie aus.

Unrat lächelte verlegen. Er hatte ja auch dreißigtausend Mark Ersparnisse gehabt. Sie waren dahin; Einrichtung, Toiletten, Vergnügungen. Die laufenden Ausgaben hielten nicht Schritt mit Unrats Pension; sie waren ihr weit voraus. Unrat kramte Mahnbriefe aus, die er an der Tür abgefangen hatte, von Lieferanten aller Art, Restaurateuren, Schneiderinnen. Er erzählte gedemütigt und haßerfüllt von den Schlichen, die er hatte lernen müssen, um das Auftreten des Gerichtsvollziehers hintanzuhalten: nicht mehr für lange.

Die Künstlerin Fröhlich verhielt sich erschreckt und reumütig. Sie habe sich ganz gewiß nichts dabei gedacht. Jetzt habe es aber auch geschnappt, und die beiden Fatzken könnten allein zu den Wilden. Heute mittag solle es bloß Suppenfleisch geben, obwohl allerdings ’ne Gans schon überm Feuer sei; und zu Abend Schlackwurst, und sie wolle nun auch wieder Griechisch lernen, weil das noch das Billigste sei. Unrat war gerührt, er versicherte, er kenne – freilich denn nun – seine Pflicht, der Künstlerin Fröhlich alles zu beschaffen, dessen sie benötige.

»Ach ja«, sagte sie, »die Goldkäferstiefel für sechzig.«

Sie teilte sogleich der Pielemann schriftlich mit: »Wir haben kein Geld.« Der Umstand brachte immerhin Bewegung in ihr Dasein.

Die Pielemann entschied, Unrat müsse Stunden geben.

»Wenn mein Mann hier nur nicht so gräßlich unbeliebt wäre«, meinte die Künstlerin Fröhlich.

Die Pielemann, stolz darauf, einen Dienst leisten zu können: »Ich schick ihm meinen Freund. Den kann er meinswegen rupfen, ich drück ’n Auge zu.«

»Lorenzen, den Weinhändler? Hände weg, das is ’n früherer Schüler von Unrat, er hat mich schon mit angeödet. Du seist ihm recht, sagt er, aber dein Freund käme ihm nich ins Haus … Un wenn ich ihn auch rumkrieg, Lorenzen wird sich hüten und ihm in die Fänge laufen.«

»Du kennst mich schlecht«, entgegnete die Pielemann. »Ich stelle die Vertrauensfrage: entweder – oder.«

Es ward Unrat mitgeteilt, der Weinhändler Lorenzen müsse Griechisch lernen, weil er griechische Weine verkaufe, und Unrat solle ihm Stunden geben. Unrat geriet zunächst in fliegende Unruhe, aber er brachte keine Weigerung vor. Er sprach erregt und mit tückischem Lächeln von den zahlreichen Vergehungen und Auflehnungsversuchen des Schülers Lorenzen, von den Gelegenheiten, wobei Lorenzen ihm seinen Namen gegeben hatte, ohne daß Unrat ihn jemals hatte »fassen« können.

»Ei, ei«, bemerkte er dazwischen, »noch ist nichts verloren.« Darauf: »Du erinnerst dich wohl, meine Liebe, des bei unserer Eheschließung herrschenden Lärmes, des Haufens, der unsern Wagen begleitete –«

»Jaja, laß man«, machte die Künstlerin Fröhlich, denn die Erwähnung dieser Vorgänge im Beisein der Pielemann beschämte sie.

Unrat, ohne sich stören zu lassen: »– der Rotte, die vor dem Standesamte – immer mal wieder – johlte und Nebendinge trieb, und insbesondere des Kiesels, der beim Einsteigen deine weiße Atlasrobe beschmutzte. Nun wohl! Es steht unerschütterlich fest, daß, unter die jugendlichen Attentäter gemischt und meinen Namen in die Lüfte hinausschmetternd, auch der Schüler Lorenzen sich damals mit Schmach bedeckt hat!«

»Dem werd ich es mal zu verstehen geben!« erklärte die Pielemann.

»Ich habe ihn leider nicht fassen können«, fuhr Unrat fort. »Ich vermochte nicht, es ihm zu beweisen. Jetzt aber soll er Griechisch lernen. Gar manchen konnte ich nicht fassen. Daß sie doch alle Griechisch lernten!«

Darauf stellte Lorenzen sich ein und ward milde behandelt. Wegen jedes fehlenden Heftes oder Bleistifts rief Unrat die Künstlerin Fröhlich herein und verwickelte sie in eine Unterhaltung. Zuerst mußte sie dem Schüler Lorenzen ihre Kenntnisse im Griechischen vorführen, dann glitt das Gespräch zu modernen Dingen. Der Schüler Lorenzen war eingetreten mit dem Anspruch auf überlegene Ironie. Er ließ ihn ruckweise fallen, als er die Künstlerin Fröhlich in so freier und maßvoller Anmut sich zwischen ihren Möbeln bürgerlichen Stils bewegen sah; als er sie besser gekleidet fand als seine eigene Frau, die sich im Theater jedesmal entrüstet hatte über die Künstlerin Fröhlich; als es ihm aufging, daß eine leichte Schminke, ein Anflug von Dirnenjargon und mehrere Messerspitzen Komödianterei das Familiesimpeln eigentümlich würzten. Dieser Schlaumops von Unrat! Auf diese Weise brauchte man allerdings weder in den Klub noch sonstwohin. Und statt seiner anfänglichen Hoffart bekam Lorenzen vor dem Ehepaar Unrat etwas Klebrig-Bittstellerisches.

Er erlangte die Erlaubnis, das nächste Mal etwas von seinem Wein mitzubringen. Er brachte außerdem eine Pastete, und ein kleines Frühstück ersetzte die griechische Stunde. Wenn draußen etwas zu besorgen war, ging jedesmal Unrat. Er ging zuerst nach einem Pfropfenzieher und später, als man getrunken hatte und der Schüler Lorenzen angeheitert war, nach vielen andern Dingen.

Wie diese Zusammenkunft sich wiederholte, äußerte die Künstlerin Fröhlich die Ansicht, es wäre noch viel netter mit mehreren Personen. Der Schüler Lorenzen war mehr für das Intime; aber Unrat gab seiner Gattin recht. Lorenzen mußte Freunde bitten. Die Pielemann führte eine Kollegin ein. Es war Sache der Herren, Kuchen, Aufschnitt, Früchte zu beschaffen. Den Tee lieferte dafür die Hausfrau. Regelmäßig stellte sich Appetit auf Sekt ein, und regelmäßig bemerkte Unrat dazu, mit seinem hinterhältigen Lächeln: »Es ist Ihnen bekannt, meine Damen und Herren, daß ich meiner Zugehörigkeit zum Lehrkörper des hiesigen Gymnasiums – mag es dahingestellt bleiben, ob verdienter- oder unverdientermaßen – verlustig gegangen bin.«

Man ließ ihn jedesmal zu Ende reden und freute sich. Dann legten die Herren zusammen, und es ward nach Sekt geschickt. Manchmal ging Unrat selbst und machte die Bestellung. Man sah ihn die Straße wieder heraufkommen, mit dem Korbträger vor sich, streng darauf bedacht, den Transport des Getränkes zu decken, wie er ihn ehemals im Blauen Engel gedeckt hatte.

Wenn die Laune hoch genug gestiegen war, willfahrte die Künstlerin Fröhlich den Bitten und trug ihre beliebten Lieder vor: einmal, als sie im Trinken unvorsichtig gewesen war, auch das vom runden Mond. Sofort unterbrach Unrat sie und schickte alle nach Haus. Sie wunderten sich, erhoben Widerspruch, begingen Dreistigkeiten. Aber als sie Unrat pfauchen und nicht gesonnen sahen, dies zu dulden, verzogen sie sich. Die Künstlerin Fröhlich bat ihren Mann kleinlaut um Verzeihung. Sie wisse wahrhaftig nicht, was ihr angeflogen sei.

Es waren alles jüngere Leute, und die meisten hatten zum Stammpublikum im Blauen Engel gehört. Solange sie in geringer Zahl waren, betrugen sie sich, unfähig, in einen rein menschlichen Verkehr mit Unrat hineinzufinden, scheu und frech; ulkten hinter seinem Rücken und fielen, wenn sie für ihre Witze einstehen sollten, in schülerhafte Demut zurück. Dann vermehrten sie sich, und der einzelne ward zum unverantwortlichen Zuschauer. Keine Vertraulichkeit fälschte mehr die Stimmung. Es war, als sei Unrat mit seiner Truppe einfach in ein kleineres Lokal übergesiedelt, wo man mit den Damen bequemer verkehren konnte. Dazu ward hier später geschlossen, und immer erst, wenn man freiwillig wegging. Einmal, als nur noch wenige da waren, bestimmte Lorenzen sie zu einem Baccara. Unrat bekundete Neugier, ließ sich das Spiel erklären und übernahm, als er es begriffen hatte, die Bank. Er gewann. Sobald dies aufhörte, gab er die Bank ab. Lorenzen fühlte sich, als Anreger der Partie, dazu gedrängt, Leben hineinzubringen. Er entnahm seiner Brieftasche Hundertmarkscheine in rascher Folge. Mehrere bekamen rote Köpfe und bedauerten einmal über das andere, nicht mehr Geld zu sich gesteckt zu haben. Der Bankier war wieder im Glück. Die Künstlerin Fröhlich glitt hinter ihren Mann und raunte: »Siehste woll? Was hast du denn die Bank nich behalten, oller Dussel.«

Unrat erwiderte: »Der Hut im Preise von achtzig Mark ist dein, meine Liebe. Auch bin ich in der Lage, dem Restaurateur Zebbelin vorläufig den Mund zu stopfen. Mag’s damit genug sein.«

Er sah gelassen den Lorenzenschen Banknoten nach, die nicht er selbst einsteckte. Worauf es ankam: der Schüler Lorenzen verlor sie; und Unrat, rascheren Atems, fühlte sich auf dem von unterirdischem Beben leise erschütterten Weg zum Triumph. Wie Lorenzen schließlich ernüchtert und mit einfältigem Gesicht in seine leere Brieftasche glotzte, ging Unrat auf ihn zu und versetzte: »Mag’s denn genug sein für heute, Lorenzen, mit unserer griechischen Stunde.«

 

Bald sickerte durch die Stadt die Kunde, daß bei Unrats Orgien gefeiert würden. Die Herren an der Börse und im Klub, an den Stammtischen, in den Kontoren erhielten durch einige Unverheiratete saftig übertriebene Schilderungen. Leichte Echos davon trugen sie in ihre Familien, und die Ehefrauen wisperten und wollten mehr wissen. Was denn der Cancan sei, den die Unrat getanzt haben sollte. Der Gatte vermochte es nicht hinlänglich zu erklären; und so stellten sie sich darunter irgendeine alle menschlichen Kräfte übersteigende Unzucht vor. Und dann das Spiel, das bei Unrats üblich sein sollte: ein Pfänderspiel. Mehrere Paare mußten sich auf den Fußboden legen unter eine große Decke, alle in einer Reihe, und immer ein Herr neben eine Dame. Sie lagen bis an den Hals zugedeckt, und solange die Decke sich nicht bewegte, ging es niemand etwas an, was darunter geschah. Bewegte sie sich aber, mußte derjenige ein Pfand geben, oder diejenigen. Dieses Spiel übte in der Stadt einen sagenhaften Reiz. Dunkle Berichte davon drangen in die Kreise der jungen Mädchen; und stundenlang sannen sie miteinander darüber nach, die Augen voll erschrockener Neugier. Außerdem wollten sie wissen, daß bei Unrats die Damen zuweilen mit ganz entblößtem Oberkörper erschienen. »Wie unglaublich unpassend!« Aber komisch mußte es sein.

Lorenzen brachte einige Offiziere mit, die den Wein für ihre Messe bei ihm kauften; darunter Leutnant von Gierschke. Assessor Knust war einer der ersten aus der feinen bürgerlichen Gesellschaft, die sich einstellten. Er trat in nachdrücklichen Wettbewerb mit dem jungen Oberlehrer Richter bei der Künstlerin Fröhlich. Richter war endlich verlobt mit dem Mädchen aus reicher, Oberlehrern sonst unzugänglicher Familie; und der Bräutigamsstand bekam ihm schlecht. Er ward reizbar, genußsüchtig, verlor leicht seinen sonst so gesetzten Beamtenkopf. Er verspielte, hingerissen durch das Beispiel Lorenzens, im Hause Unrat mehrere seiner Monatsgehälter an einem Abend, ging blöde Wetten ein, vergaß in der Hitze seiner Werbungen um die Hausfrau alle Zurückhaltung. Im Lehrerzimmer fielen böse Andeutungen über seinen Verkehr bei dem einen Schandfleck des Standes darstellenden Unrat.

Unrat hatte, wie das Spielglück es brachte, Höhen oder Tiefen. Einmal erhielt die Künstlerin Fröhlich einen Chinchillapelz für tausend Mark, und ihr bunter Kopf kam prickelnd heraus aus dem grauen, langhaarigen Fell. Dann wieder mußte Unrat, wenn die Gäste eintrafen, sich ins Bett stecken und krank sagen lassen, weil kein einziger Restaurateur mehr etwas zu essen schicken wollte. Tags darauf ging er hin und hielt den Leuten vor, daß sie von einer Katastrophe keinesfalls etwas zu hoffen hätten. Sie konnten sich der Einsicht nicht entziehen und verlängerten den Kredit, bis Unrat wieder gewonnen haben würde.

Die Künstlerin Fröhlich pointierte nur selten, und dann hörte sie nicht früher auf, als bis alles dahin war. Eines Abends aber suchte ein so wolkenloses Glück sie heim, daß ihr Gegner, Lorenzen, sich zurückziehen mußte … Er war sehr blaß und verschwand, indem er Drohungen ausstieß. Die Künstlerin Fröhlich saß da, überwältigt wie ein Kind nach der Bescherung, und hielt in kraftlosen Händen Papier und Gold. Man erbot sich, plötzlich sehr achtungsvoll, es ihr zusammenzuzählen; und es waren mehr als zwölftausend Mark. Sie sagte nur, sie wolle schlafen gehn. Und mit Unrat allein geblieben, die Augen voll Fieber, und mit einem süßen, halb versagenden Stimmchen: »Nu hat Mimi wieder ’ne Mitgift. Die Anhängsel und Feststecksel haben wir alle drangeben müssen, aber nu hat sie doch wieder eine und braucht es nich so zu machen als wie ich.«

Aber schon am frühen Morgen ward das Haus gestürmt von Gläubigern, die Geld witterten; und ob die Künstlerin Fröhlich die Mitgift ihres Kindes auch mit ihrem Leibe deckte, sie entrissen sie ihr.

Andererseits verbreitete sich das Gerücht, der Weinhändler Lorenzen stelle seine Zahlungen ein. Unrat lief sofort nach Erkundigungen, und wie er zurückkam, war er bleich, feucht, und konnte kein Wort hervorbringen. Schließlich, schnappend, mit klappenden Kiefern: »Er macht Bankrott. Der Schüler Lorenzen macht Bankrott!«

»Was ich mir dafür kaufe«, erwiderte die Künstlerin Fröhlich, auf der Ottomane zusammengesunken und mit den Händen schaukelnd zwischen den Knien.

»Der Schüler Lorenzen macht Bankrott«, wiederholte Unrat. »Der Schüler Lorenzen liegt zerschmettert am Erdboden und wird sich nicht wieder erheben. Seine Laufbahn ist – traun fürwahr – jäh beendet.«

Er redete ganz leise, als fürchtete er, vom eigenen Jubel gesprengt zu werden.

»Was hast du davon. Mimi ihre Mitgift sind wir los.«

»Der Schüler Lorenzen ist nun gefaßt worden. Diesmal ist es mir gelungen, ihn zu fassen und ihn seinem wohlverdienten Schicksal auszuliefern.«

Sie sah ihn umherstreichen, als sei er verwirrt. Seine Hände zitterten an Gegenständen, die zu berühren er sich nicht bewußt war. Sie äußerte noch mehreres und hörte ihn immer nur bebend hinhauchen: »Der Schüler Lorenzen liegt zerschmettert am Erdboden.«

Allmählich zog sein Benehmen sie an. Seine viel stärkere Seelenbewegung fuhr über ihre hin und löschte sie aus. Sie verlor ihren Kummer aus dem Sinn, sah ihrem Mann starr nach, undeutlich erschrocken über diese Leidenschaft, als sei sie ein auf Unrats Grunde immer sprungbereiter Wahnsinn; und dabei bezwungen und ihrem alten Unrat mit einem süßen Schaudern fester verbunden grade durch sie, durch diese Leidenschaft, durch diese gewalttätige und gefährliche Sache.