Daisy stellte die Milch zurück in den Kühlschrank, schloss leise die Tür und nahm die Tasse in die Hand. Als sie sich jedoch umdrehte, um die Küche zu verlassen, stand Melissa im Türrahmen. Der Kaffee schwappte über den Rand der Tasse auf den Steinboden. Bitte, ich …

Melissa aber rührte sich nicht, sie schob die Hände tief in die Tasche ihres Kapuzenpullis und wiegte sich auf ihren Fußballen vor und zurück, als müsse sie die Worte aus sich herauspressen. Das mit gestern tut mir leid.

Die Entschuldigung kam so unerwartet, dass Daisy nicht wusste, was sie antworten sollte.

Ich habe einfach drauflos gebrüllt, okay? Ich hab nicht nachgedacht.

Es ist egal. Ehrlich. Ich will einfach nur zurück auf mein Zimmer.

Warte. Melissa war wütend. Diese Geste hatte sie Überwindung gekostet und verdiente schon daher Anerkennung. Es ist okay, lesbisch zu sein. Ich habe keine Vorurteile.

Ich bin nicht lesbisch. Daisy bemerkte zu spät, wie laut ihre Stimme war. Sie hielt inne und horchte vorsichtig in der Angst, dass jemand im Esszimmer sein könnte. Ihre Hände zitterten. Sie stellte die Tasse ab. Bitte. Ich will nicht darüber reden.

Tja, vielleicht solltest du das aber.

Ein plötzlicher Stich absoluter Einsamkeit. Melissa war die Einzige, die Bescheid wusste, es gab niemanden sonst, dem sie sich anvertrauen konnte. Daisy streckte die Hand nach ihr aus. Ich brauche dich jetzt als Freundin. Sie wollte in den Arm genommen werden, doch sie brachte die Worte nicht hervor.

Locker bleiben, Lady, sagte Melissa.

Daisy sah sich selbst in der Küche stehen, mit ausgestreckten Armen wie ein Zombie. Zum zweiten Mal hatte sie sich wie eine Idiotin benommen. Sie stürmte über die Türschwelle und schubste Melissa zur Seite. Sie hörte, wie Melissa sagte: Du bist so dermaßen bescheuert, dann war sie im Flur und rannte die Treppe hinauf.

Abergavenny. Ursprünglich Gorbannia. Alex blätterte weiter. Ein britannisches Wort, das ›Fluss der Hufschmiede‹ bedeutet.

Britannisch?

Etwas von oder zugehörig zu den Briten.

Was ist mit deiner Hand passiert?

Alex warf einen flüchtigen Blick auf seine Knöchel. Ich habe im Schuppen mit der Walze herumhantiert. Er hatte sich die Erklärung vorher zurechtgelegt. Ich kann von Glück sagen, dass ich noch alle zehn Finger habe.

Dominic hatte den Reiseführer an sich genommen. Die Stadt sitzt zwischen zwei Bergen, Sugar Loaf und Blorenge.

Blorenge?

Richard tauchte in der Tür auf, und Alex versteckte sofort seine verletzte Hand unter dem Tisch. Richard lief an ihnen vorüber, klopfte ihm auf die Schulter, und Alex dachte: Fick dich.

Baron Hamelin, sagte Dominic. Wurzel Jesse. Bla bla. Perücken aus Ziegenhaar. Rudolf Hess.

Denkst du dir das aus?

Pfadfinderehrenwort.

Benjy kam mit seiner Schüssel Cornflakes und Nussmüssli herein und setzte sich neben Dominic. Er drückte sich nahe an seinen Vater heran, da er noch immer mit den Ängsten der letzten Nacht kämpfte, die das Tageslicht noch nicht ganz vertrieben hatte.

Hey, Kiddo.

Sagt mal, hat irgendwer von euch Daisy heute schon gesehen?

Nö.

Melissa?

Was?

Hast du Daisy heute Morgen schon gesehen?

Sie ist runtergekommen, um sich einen Kaffee zu holen. Sie war irgendwie komisch drauf.

Ich geh hoch und schau nach ihr.

Hey. 2007 und 2009 haben da die Landesmeisterschaften im Radrennen stattgefunden.

Paris des Westens.

Werd’ bloß nicht zickig.

Ich bin in einer Stunde zurück, sagte Richard und trank sein Wasserglas in einem Zug leer. Dann springe ich kurz unter die Dusche und dann können wir los.

Viel Spaß.

Verlauf dich nicht, sagte Alex.

Er war fest entschlossen, nicht nach Hause zurückzufahren, ohne einen richtigen Lauf absolviert zu haben, er hatte einiges für die Schuhe gezahlt, und außerdem brauchte er etwas Zeit für sich allein. Wenn er Alex tatsächlich eine Ohrfeige verpasst hätte … Es wäre wohl der sicherste Weg gewesen, alle hier im Haus gegen sich aufzubringen. Ein Warnsignal, dass er einen Schritt zurücktreten und Abstand gewinnen musste.

Er hockte sich auf den Steinweg, der von der Haustür zum Eisentor führte, zog die Zungen seiner Laufschuhe hoch und machte eine Doppelschleife. An diesem Morgen war die Luft feucht, aber klarer und transparenter als zuvor. Da war das tiefe Grün der Blätter. In der Stadt gab es das nicht, diese Art, wie sich das Licht ständig veränderte. Er lief zur Mauer und legte abwechselnd einen Fuß darauf, um seine Oberschenkelmuskulatur zu dehnen. Das Haus sah aus wie eine Erweiterung der Landschaft, die Steine aus einem Bruch in den walisischen Bergen, die Balken und Dielen und das Dach aus einem Wald, den man höchstwahrscheinlich vom Deich aus sehen konnte, das Moos, der Rost, die aufgeplatzten Stellen in der abblätternden Farbe ein Zeugnis seines Bestehens durch Zeit und Witterung, wie Kratzer und Seepocken auf dem Rumpf eines Tankers.

Er würde die Straße hochjoggen, den steilsten Teil des Berges hinaufgehen und dann wieder joggen, sobald er den Parkplatz hinter sich gelassen hatte, diesmal würde er mit seinen Kraftreserven haushalten, statt sie in einer Privatvorstellung von verkapptem Machismo zu verschwenden. Ein Blick auf die Uhr. 9:17 Uhr. Als er sich umsah, war er zugleich enttäuscht und erleichtert, dass niemand beobachte, wie er loslief.

Dominic schritt an der Wohnzimmertür vorbei und sah Melissa auf dem Sofa sitzen. Er trat ein und stellte sich neben sie. Sie zeichnete den kleinen Beistelltisch. Wenn man Melissa beim Zeichnen sah, musste man sie immer loben, wie gut sie das machte, sodass sie das Kompliment abwiegeln konnte. Sie weigerte sich, seine Anwesenheit wahrzunehmen. Was ist gestern mit Daisy passiert?

Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.

Doch, das hast du.

Ich dachte, sie sei krank. Sie liebte offene Konfrontationen.

Du lügst.

Das ist ein ziemlich schwerwiegender Vorwurf. Ich hoffe, du hast Beweise dafür.

Wer wird wohl eher die Wahrheit sagen, du oder Daisy? Auf eine Art hatte auch er sein Vergnügen daran.

Sie lachte. Das ist ziemlich witzig. Unter den gegebenen Umständen.

Hör mit dem Quatsch auf. Irgendetwas ist gestern passiert, und es hat Daisy ziemlich wehgetan, und Daisy ist mir wichtiger als jeder andere Mensch auf der Welt.

Melissa ließ den Stift sinken und drehte sich um, um ihn anzusehen. Du willst es nicht wissen, glaub’s mir.

Dir glauben?

Ernsthaft, du willst es nicht wissen.

Raus damit.

Sie lehnte sich vor und atmete aus. Sie ist lesbisch. Sie zog die beiden Silben weit auseinander.

Wie bitte?

Sie hat versucht, mir die Zunge in den Hals zu stecken. Darauf steh’ ich leider nicht, tut mir leid.

Er fühlte sich wie nach einem K.o.-Schlag.

Ich fürchte, sie kommt noch nicht so gut damit klar. Geschauspielerte Besorgnis, ein wenig übertrieben.

Du … Er musste gehen, bevor er die Selbstbeherrschung verlor. Du halt dein schäbiges kleines Maul.

Er lief ins Esszimmer. Alle saßen gemeinsam am Tisch. Alex winkte ihn herbei. Er drehte sich um und hastete die Treppe hoch, immer zwei Stufen auf einmal. Er ging ins Badezimmer, verriegelte die Tür und setzte sich aufs Klo. Die Erinnerung daran, wie er sich als Kind an solchen Orten versteckte, der wohlige Rückzug in den einzig abschließbaren Raum des Hauses, das Heizelement hoch oben, zwei rote Stäbe in ihrem kleinen Silberkäfig, die grünen Saughaken aus Gummi, die die Ecken der feuchten Handtücher hielten. Wenn er darüber nachdachte, schien das Ganze so offensichtlich. Er sollte zu Daisy gehen und mit ihr reden. Würde sie entsetzt darüber sein, dass er Bescheid wusste, oder erleichtert? Vielleicht war es besser, nicht darüber zu reden, denn unter seiner Verwirrung spürte er eine Abneigung, die er so nie erwartet hätte, es war unnatürlich, die gleiche Abneigung, die er der Kirche gegenüber empfand, Fremde, die kamen, um seine Tochter für sich zu beanspruchen und sie mit sich fortzunehmen.

Die zerknüllten Taschentücher, die Fliege auf dem Schüsselrand. Daisy hatte nie an Selbstmord gedacht, noch nicht einmal, nachdem sie erfahren hatte, dass es eine Todsünde war. Doch plötzlich verstand sie die verführerische Aussicht auf ein Ende der eigenen Existenz. Aber was, wenn man in der Hölle erwachte? Eine Schüssel mit kaltem, klebrigem Risotto auf dem Teppich neben dem Bett. Sie hatte ihren Kaffee unten vergessen, oder? Warum war niemand hochgekommen, um nach ihr zu sehen? Sie konnte nicht lesbisch sein, denn lesbisch zu sein war eine Sünde. Ihr war klar, dass das grausam klang, doch wer war sie, darüber zu urteilen? Die Rechte des Herrn sind wahrhaftig, allesamt gerecht. Man konnte nicht Gottes Liebe entdecken und sich dann über das Kleingedruckte beschweren. Man gehorchte, man sagte: Ich bin unwissend, ich verstehe so wenig, ich bin nur ein Mensch. Aber sie hätte es doch sicherlich schon früher gemerkt, das war nicht wie eine Allergie gegen Bienenstiche, die man erst zur Kenntnis nahm, wenn man schon in Lebensgefahr schwebte. Sie sollte ihre Kirchenfreunde anrufen. Meg, Anushka oder vielleicht Lesley. Die würden sie auf eine Art verstehen, wie es niemand hier im Haus tat. Doch warum konnte sie sich dann nicht dazu aufraffen sie anzurufen?

Sie vermisste Lauren. Sie vermisste Jack. Sie brauchte jemanden, der Interesse zeigen und sagen könnte: Erzähl mir alles, nicht: Du musst jetzt das und das tun. Doch Lauren war irgendwo in Gloucester, und Daisy hatte ihre Nummer verloren, als ihr altes Handy geklaut worden war. Allein der Gedanke daran löste bei ihr einen derartigen Schmerz aus, dass sie sich am Nachttisch festhalten musste, bis er vorüber war. Jack. Sie zog ihr Handy aus der Tasche. Wohnung B, 47 Cumberland Street. Sie konnte die Auskunft anrufen. Dieser Gedanke war wie eine Lichtsäule in der Dunkelheit ihrer Zelle.

Sie klopfte an die Tür von Alex und Benjy. Keine Antwort. Sie ging hinein und stellte sich auf den magischen Stuhl am anderen Ende des Zimmers. Möchten Sie die Nummer als SMS auf ihrem Telefon empfangen? Ihre Hände zitterten, als ginge es um Sekunden … Acht, sieben, sieben, null …

Der gewünschte Gesprächspartner ist zurzeit nicht erreichbar. Wenn Sie eine Nachricht hinterlassen möchten …

Sie sah Jack, wie er von ihrem Tisch im Blue Sea aufsprang. Du Scheißverräterin. Wie alle sie anstarrten, Tintenfischringe und Tomatenketchup, die Tropfen aus der umgekippten Essigflasche. Sein schmerzverzerrtes Gesicht und etwas anderes, das sie nicht wirklich ausmachen konnte, eine Gestalt am Rande ihres Sehfeldes, die verschwand, sobald sie den Kopf drehte. Sie konnte es nicht, sie drückte auf Auflegen und setzte sich auf den Stuhl. Hier sah es aus, als wäre jemand eingebrochen, eine Schublade war herausgezogen und ausgeleert worden, Benjys schmutzige Jeans lag auf links gedreht auf dem Teppich, darin steckte eine rote Unterhose, daneben ein zerdrückter Joghurt-Drink, Filzstiftgemälde eines Blutbads.

Er hatte das Ganze relativ gut eingeschätzt: fünfzig Schritte joggen, fünfzig Schritte gehen, abwechselnd auf der gesamten Strecke bergauf. Dreißig Minuten, nicht schlecht. Er hatte gesagt, dass er eine Stunde draußen wäre, doch er hatte noch keine Lust, jetzt schon umzudrehen, wo er gerade anfing, sich die Beine zu vertreten. Zwanzig Minuten mehr oder weniger würden auch keinen Unterschied machen, und außerdem wäre er auf dem Rückweg um einiges schneller. Morgen taten seine Beine bestimmt noch weh, doch jetzt fühlte er sich besser als in der gesamten Woche zuvor. Ein Netz kleiner Kieswege auf dem Bergrücken, Windböen. Vor zwei Tagen erst waren sie hier hochgelaufen, wie anders es sich jetzt anfühlte, der Eindruck, sich die Höhenmeter verdient zu haben, diese Art, jedes Gefühl für Proportionen zu verlieren, wenn kein Mensch mehr in Sichtweite war.

Ach du Scheiße. Sein linker Fuß war plötzlich nicht mehr unter ihm, und er stolperte zur Seite, wobei er seinen Fall mit der gespreizten linken Hand abfing, die auf einem kleinen, harten Stein landete. Verfluchter Mist. Er rollte sich auf den Rücken und wartete darauf, dass keine Sterne mehr über seine Netzhaut flimmerten. Er begutachtete seine Hand, in deren Fläche sich eine zackige, kieselsteinförmige Schürfwunde abzeichnete, die schon zu bluten begann. Sie erinnerte ihn an seine Schulzeit, schlitternde Fahrräder und Stürze vom Klettergerüst. Jetzt hatte er sich den Knöchel verstaucht, schwer zu sagen, wie sehr. Er wartete eine Minute ab, drehte sich auf alle viere und stand vorsichtig auf, indem er sich nur auf sein rechtes Bein stützte. Er belastete sein linkes Bein ein wenig und zuckte zusammen. Nicht gut. Er versuchte zu laufen und bemerkte, dass ihm nur eine Art hinkendes Hüpfen gelang. Anderthalb Stunden zurück? Zwei? Beliebt machte er sich damit nicht.

Der Druckabfall. Dunkelvioletter Himmel, Wind wie ein Zug, die Landschaft plötzlich lebendig, Bäume biegen sich und stemmen sich dagegen, breite Streifen wechselnder Farben rasen über das hohe Gras, der Himmel zieht sich wie eine Decke über das Tal. Ein leerer, weißer Düngemittelsack tanzt über die Bergseite. Fenster hämmern in ihren Rahmen, der Luftabzug des Boilers klappert und bollert. Eine Schindel löst sich vom Dach, schlägt ein Rad über die Gartenmauer und bleibt wie eine kleine Haifischfinne im Erdboden stecken. Die Mülltonnen zittern und rasseln im Holzschuppen, kämpfen gegen die Gummiseile, die sie zurückhalten.

Dann kommt es, wie ein riesenhafter grauer Vorhang, der aus den Bergen heruntergezogen wird, die Felder fleckig und dunkel. Ein Geräusch wie nasser Kies, der auf Glas fällt. Die Dachrinnen füllen sich und schäumen und Wasser schießt unten aus den Abflussrohren. Tropfen spritzen auf die Bank und die Steinstufen und auf das Dach des Mercedes. Wasser sammelt sich in den Ritzen der Einfahrt, tropft den Kaminschacht hinunter und zischelt und faucht auf dem heißen Eisen des Ofens, sickert durch den alten Kitt, der die verbleiten Fenster fixiert, und bildet Pfützen auf den Fensterbänken. Der Regen ist jetzt fast horizontal, ein lebendiges Diagramm der Windstärke. Draußen gibt es keine Orientierungspunkte mehr, keinen Horizont, keine festen Linien. Das Haus fliegt, es reitet den Sturm auf etwas, das weder ganz Luft noch ganz Wasser ist, Kansas ist schon lange verschwunden, Grenzen überschritten und verwüstet, der Erdboden eintausend Faden entfernt.

Benjy steht gebannt am Esszimmerfenster, überwältigt von dem tobenden Unwetter, von der Welt da draußen, die ausnahmsweise einmal lauter und hartnäckiger ist als die Welt in seinem Kopf. Tropfen rinnen die vergitterten Scheiben hinunter, machen Marmor aus der Welt, alles grün und silbrig, das Prasseln auf dem Glas mal sanfter, mal lauter, wenn der große Perlenvorhang der fallenden Flüssigkeit vor und zurück schwingt.

Die Arche Noah. Und Gott sprach, ich werde die Erde zerstören, denn die Menschen leben in Sünde. Die Tiere betraten sie in Zweierreihen, Krallenaffen und Schwarze Witwen, Japhet und Daphet und Baphet. Und alle anderen kamen um, wie in dem Tsunami, Autos und Wände und Bäume wurden die Straße runtergespült, Menschen zerquetscht in diesem großen, nassen Fleischwolf aus Wasser. Und wenn die Taube übers Land geflogen wäre, hätten dort überall schwarze, aufgedunsene Leichen gelegen wie in New Orleans. Ein plötzlicher Schatten und etwas prallt nur wenige Zentimeter von seinem Gesicht entfernt gegen das Glas. Er dreht sich um und rennt und ruft: Mum … Mum … Mum …

Dominic steht im Eingangsflur, das Wasser läuft unter der Haustür hindurch, es klingt wie das Rauschen zwischen zwei Radiosendern. Er sollte zu Daisy gehen und mit ihr reden, ihr sagen, dass alles gut wird, dass sie, ihre Eltern, sie lieben, immer lieben werden. Aber warum hat er so eine Angst davor? Er hat in ihr nie eine sexuell aktive Person gesehen. Diese Idee bestürzt ihn auf eine unerklärliche Weise. All diese kleinen Stationen auf ihrem Weg. Daisy, Alex, Benjy, das erste Mal, dass sie selbst lasen, das erste Mal, dass sie alleine zur Schule gingen. Er erinnert sich daran, wie er Daisy als Baby auf dem Arm trug, diese winzigen, perfekten Finger, die seinen Daumen umklammerten, der Milchschorf, die blonde Stirnlocke. Jetzt stellt er sich vor, dass jemand anders sie hält, dass beide nackt sind und das Aufeinanderprallen dieser beiden Arten von Zärtlichkeit ist wie zwei Streitwagenräder, die aneinandergeraten. Ganz unvermittelt denkt er an Andrew in einem Krankenhausbett, Amy sitzt neben ihm, mit hängendem Kopf hält sie seine Hand. Er schämt sich dafür, ihre Nachricht ignoriert zu haben. Nie hat er in seinem Leben ein schwieriges Problem gelöst, er hat immer nur den Blick abgewendet und darauf gewartet, dass jemand anderes die Drecksarbeit erledigt. Knarzendes Holz. Er dreht sich um und sieht Daisy die Treppe hinunterkommen. Wie geht es dir?

Etwas besser. Sie zögert kurz, ihre Hand liegt auf dem kleinen Eisenhund der Treppenspindel. Ich wollte mir nur etwas zu Essen holen.

Für einen kurzen Moment fragt er sich, ob sie ihm von ihrer gestrigen Begegnung mit Melissa erzählen will, doch offenbar will sie es nicht. Er ist vor allem anderen erst einmal erleichtert, dass sie schon viel besser aussieht, und hofft, dass er überreagiert hat. Vielleicht hat Melissa gelogen, und es gibt nichts für ihn zu tun.

Wachsende Gewissheit, dass etwas nicht stimmt, die animalischen Nackenhaare kräuseln sich im Stammhirn. Richard blieb stehen, um zu horchen und besser beobachten zu können. Eine plötzliche Kälte, etwas an der Art des Lichts, das Gefühl, dass andere Menschen nicht nur abwesend, sondern sehr weit weg waren. Es war hinter ihm, nicht wahr? Er drehte sich um und sah horizontalen Regen aus einer bleigrauen Wolkenwand kommen. Plötzliche Angst, dann traf ihn der Regen, eine kalte, seitliche Dusche, beinahe witzig, als es so weit war, er dachte an die Geschichte, die er später erzählen würde, wie er gezwungen war, irgendwo im Nirgendwo durch den prasselnden Regen zu hüpfen, mit nicht viel mehr am Leib als einem T-Shirt und Shorts. Zehn Minuten später war es schon nicht mehr so lustig, denn weder der Regen noch der Wind ließen nach. Er fror, der Schmerz in seinem Knöchel wurde, wenn überhaupt, schlimmer und es würde noch einige Zeit dauern, bis er von dem Bergrücken wegkäme. Kindische Szenarien spielten sich immer wieder in seinem Kopf ab, wie er mit dem roten Helikopter gerettet wurde, den sie vor zwei Tagen gesehen hatten, wie er das Bewusstsein verlor und sich hinlegte und es Nacht wurde. Ihm fiel ein, dass er niemandem gesagt hatte, welche Strecke er laufen wollte.

Louisa macht eine Kanne Kaffee und deckt den Esstisch, Zucker, Milch, die Kanne, ein schiefer Turm aus Tassen. Richard wollte schon vor vierzig Minuten zurückgekehrt sein, und draußen wütet noch immer der Sturm. Eine vage Notfallatmosphäre hängt über dem Haus, und auch wenn sich seine Bewohner ab und an davon entfernen, bildet dieses Zimmer den Gravitationsmittelpunkt, die Kommandobrücke, zu der sie immer wieder zurückkehren.

Er wird in fünf Minuten hier sein, sagt Melissa, und damit angeben, wie männlich er ist.

Ich hoffe, er verreckt da draußen, denkt Alex und fragt sich, ob Richard wohl Louisa von seiner Zurechtweisung erzählt hat. Vielleicht hat er sie auf die gleiche Art abgekanzelt. Alex sucht ihren Blick, doch sie ist zu abgelenkt von Richards Abwesenheit, um jemand anderen zu bemerken.

Angela sagt: Diese Wege sind bei dem Wetter ein Albtraum. Sie will beruhigend klingen, erklären, warum er seine Zeit brauchen wird, doch es kommt falsch heraus. Mit ihrer Nervosität steckt Louisa sie langsam an. Zu viele Menschen verloren, die Membran zwischen hier und der anderen Welt hauchdünn gedehnt von diesem Wetter, auf dass die Törichten und die zu wenig Geliebten hindurchstolpern.

Das ist ein neuer Rekord. Benjy hat einen neunstöckigen Turm aus Dominosteinen gebaut. Alex will, dass sie ihn bitten, Richard zu suchen, er wird es garantiert nicht anbieten, bevor sie ihn nicht fragen. Er will öffentliche Anerkennung für sein Expertentum in Sachen Laufen und Wandern in diesen Bergen. Er will, dass öffentlich anerkannt wird, dass Richard so getan hat, als wäre er zwanzig Jahre alt und dass er sich damit verdammt nochmal vor allen zum Affen gemacht hat.

Daisy betritt das Zimmer und Melissa sagt lasziv: Guten Morgen, Daisy, doch nur Daisy nimmt ihre Gehässigkeit wahr.

Hallo, Liebes, sagt Angela. Wie geht es dir heute?

Sie hofft, dass Mum anbietet, ihr ein Frühstück zu machen, damit sie zusammen in der Küche reden können, doch Angela wirkt geistesabwesend und sie wird sie bestimmt nicht in Melissas Beisein darum bitten, also geht sie in die Küche und stellt den Teekessel auf den Herd und stützt sich dann auf das Abtropfbrett, den Kopf in die Hände gestützt.

Oh!, sagt Benjy, und Oh!, sagen die anderen, als würden sie ein Feuerwerk ansehen, doch es ist nur Benjys Turm, der umgefallen ist, und die Dominosteine landen klackernd auf dem Tisch und dem Steinboden.

Eine Stunde, sagt Louisa, und ein Teil von ihr fragt sich, ob er das macht, um ihr eins auszuwischen.

Benjy baut einen neuen Turm, diesmal legt er die Steine horizontal, damit er stabiler wird.

Es ist Richard, sagt Angela. Dem geht’s gut.

Doch Richard geht es nicht immer gut, er macht Fehler, das weiß sie mittlerweile.

Man stirbt nicht daran, dass man beim Laufen vom Regen überrascht wird, sagt Dominic.

Das stimmt nicht ganz, erwidert Alex. Hier in den Brecon Beacons sind schon Leute witterungsbedingt gestorben. Das Zimmer gefriert.

Alex, sagt Dominic genervt, so was hilft jetzt nicht.

Er will sagen, dass es ihm leidtut, aber er ist nicht in der Stimmung, sich zu entschuldigen. Er steht auf und nimmt seine Kaffeetasse mit in die Küche. Hinter seinem Rücken hört er, wie sich Angela für die chronischen Fettnäpfchentritte ihres Sohnes entschuldigt.

Daisy hängt noch immer auf dem Abtropfbrett, der Teekessel wird kalt. Sie blickt auf. Schwester Daisy. Es ist ein alter Witz, so alt, dass Alex vergessen hat, dass es ein Witz ist.

Nicht jetzt, okay?

Was ist los?

Nichts.

Sag’s mir. Seine eigene Wut ist so überdimensional, dass er vermutet, Daisy wäre aufgrund irgendeines noch verborgenen Zwischenfalls ebenfalls wütend auf Richard, doch er bemerkt einen Tonfall in ihrer Stimme, den er schon lange nicht mehr gehört hat.

Sie könnte es ihm erzählen. Alex hält sie sowieso für einen Freak. Dann lacht sie, denn es ist genau das, was er will, seit sie angekommen sind, nicht wahr, Melissa küssen, dann erinnert sie sich wieder daran. Finger weg, du Scheißlesbe. Diese stechende Panik, dass man die Zeit nicht zurückdrehen kann.

Was ist?, fragt Alex. Lacht sie ihn aus?

Jetzt, bevor sie es sich wieder anders überlegt. Pass auf, ich muss dir etwas sagen.

Was denn?

Sie zögert. Was will sie von ihm hören? Dass ihr verziehen wird? Dass niemand es erfahren wird? Dass es nie passiert ist?

Alex? Mum ruft aus dem Esszimmer. Sorry. Er dreht sich um und geht und ihr wird klar, dass es jemandem zu sagen keine Lösung ist.

Alex, sagt Mum. Hast du irgendeine Ahnung, wo Richard langgelaufen ist?

Den Bergrücken hoch, nehme ich an. Er hat eigentlich nicht den geringsten Schimmer, doch er vermutet, dass Richard tatsächlich damit angeben wollte, den steilsten Weg zu nehmen.

Würdest du ihn suchen gehen?

Mit einem Mal ist er für alles entschädigt. Kein Problem. Er hastet die Treppe hoch.

Benjy ist zappelig, und die Dominosteine können seine Aufmerksamkeit nicht mehr fesseln. Die gleiche Angst wie bei Louisa und seiner Mutter, nur ohne deren Fähigkeit, sie in Schach zu halten und runterzuschlucken. Die Möglichkeit, dass Richard da draußen im Regen sterben könnte. Und Gott sprach, ich werde die Erde zerstören. Schwertkampf ist keine Aktivität für drinnen, also streift er durchs Haus und versucht, sich in den Details zu verlieren, in der Winzigkeit der Dinge. Er fährt mit den Fingern über das perforierte Blumenmuster der Flurtapete. Er sieht in den Stromkasten und stellt sich das ganze Haus als eine Steampunk-Galeone vor, Zylinder und das Brummen der Kolben. Er öffnet den Ledereinband des Gästebuchs. Der erste Eintrag ist von 1994. Max (8) und Susannah (6). Canterbury. Wir sind einmal nachts wach geworden und haben Dachse gesehen. Blaue Tinte, das Y von Canterbury verschmiert. Die Farmoors, Manchester. Das Black Bull in Hay serviert einen köstlichen Sonntagsbraten. Jemand hat auf einer Seite eine tolle Zeichnung des ganzen Hauses angefertigt. John, Joan, Carmen und Sophie Cain-Summerson, mit Oma und Opa. Er sitzt auf der Treppe und prüft, welche der Zinkstäbe des Geländers sich drehen lassen und welche zu fest sitzen. Er geht ins Bad und guckt in den Wasserkasten. Da ist ein orangefarbener Plastikball am Ende eines rostigen Hebels. Wenn man ihn runterdrückt, schießt Wasser aus der weißen Öffnung. Es sieht aus wie etwas, das man in einem Hafen vorfinden könnte, eine winzige Boje zwischen den Hummerfangkörben und Fischerbooten. Dad hat gesagt, das Haus gehört einer Familie und vielleicht kommen sie im Sommer und zu Weihnachten hierher. Benjy kennt niemanden, der zwei Häuser hat, wobei Michaels Familie einen Wohnwagen an der Küste von Devon besitzt. Er versteht nicht, worin der Reiz bestehen sollte, an zwei Orten zu Hause zu sein, man würde seine Sachen immer doppelt brauchen, Kuscheltiere, Playstation, Tierposter. Dann entdeckt er ein geheimnisvolles Schränkchen auf dem mittleren Treppenabsatz, das ihm vorher noch nie aufgefallen ist.

Er steckt in ernsthaften Schwierigkeiten, dieses Zittern in den Eingeweiden und in der Brust. Er kann nicht glauben, dass das hier tatsächlich passiert, er ist zwei Meilen von dem roten Haus entfernt und bekommt Hypothermie, er ist nicht auf halbem Weg den K2 oder das Ross-Schelfeis hoch, sondern in Herefordshire, verflucht noch mal. Er ist Arzt, dennoch liegt es mittlerweile durchaus im Bereich des Möglichen, dass er sterben wird, nicht heldenhaft, sondern wie ein Trottel, das rettende Haus beinahe in Sichtweite, in dem es eine heiße Dusche und eine Tasse Kaffee gibt. Er fragt sich, ob er den Hügel links hinunterlaufen sollte, um dem Wind zu entkommen, doch damit verringert sich die Chance, auf andere Jogger oder Wanderer zu treffen, außerdem ist fraglich, ob er die Energie hat, über Hecken und Zäune zu klettern, sollte er vom Weg abkommen. Die zwei Möglichkeiten führen in seinem Kopf einen kleinen Tanz auf, vor und zurück. Oben bleiben, runtergehen, oben bleiben, runtergehen. Er begreift, dass ihm seine Fähigkeit, klar zu denken, abhanden kommt. Sein Tod würde dem Sharne-Fall ein Ende bereiten, wenigstens das. Er fragt sich, ob das hier eine Art Bestrafung ist, obwohl es arrogant wäre zu denken, atmosphärische Druckverhältnisse würden so manipuliert, dass sie Einfluss auf das eigene Leben nähmen und vielleicht ist gerade diese idiotische Zufälligkeit eine bessere Strafe, aber wofür sollte er bestraft werden? Grundgütiger. Der Regen ist inzwischen zu Hagel geworden. Er kann sich nicht daran erinnern, was genau er falsch gemacht haben soll. Scheiße. Er stößt mit dem Fuß gegen einen Stein, und der Schmerz ist ebenso stechend wie alarmierend weit weg. Er blickt nach unten und sieht, dass sein Knöchel stark geschwollen ist.

Die Besitzer? Über die dachte man lieber nicht nach, die Vermutung, dass eine wohlhabende Familie auf zu großem Fuß gelebt hatte und nun gezwungen war, das Familiensilber zu vermieten. Sie kamen im Sommer und zu Weihnachten, und dann packten sie ihre persönlichen Dinge wieder zusammen und versteckten sie in einem verschlossenen Schränkchen auf dem mittleren Treppenabsatz, eine ausgestopfte Eule unter einer Glasglocke, eine Schachtel fleckiger Löffel in lila Plüsch. Da war ein Bilderrahmen mit einunddreißig Polaroids darin, die verblassten wie die Fotos im Schaufenster eines Friseursalons, Studenten in einem Achter, die ihren Steuermann in die Isis ruderten, ein schwarzer Retriever, Barbourjacken und Perlen, Pumps und gebügelte Rugby-Trikots, Gesichter, die sich von Bild zu Bild reimten, das plumpe Mädchen mit Haaren wie bei Drei Engel für Charlie, der rothaarige Mann, der von Jahr zu Jahr dicker wurde, der Tennis spielte, vor irgendeinem stalinistischen Karfunkel in einer osteuropäischen Hauptstadt posierte. Doch in ihre Londoner Wohnung war während ihres letzten Besuchs eingebrochen worden, sodass sie Hals über Kopf aufgebrochen waren, und vergessen hatten, das Schränkchen abzuschließen.

Alex kommt in Laufsachen, einer Wollmütze und seiner grellgelben Rennradjacke die Treppe heruntergejoggt. Benjy macht schnell das Schränkchen zu und fürchtet schon, gleich Ärger zu bekommen, aber Alex bemerkt ihn gar nicht, da er sich für einen Lauf im prasselnden Regen fertig macht. Bis später, Brüderchen. Benjy wartet, bis sich die Haustür hinter ihm schließt, dann holt er vorsichtig die Eule in der Glasglocke aus dem staubigen Dunkel. Er ist sofort vernarrt in sie. Zufällig hat er schon einen Namen für seine Eule parat, wenn er eine Figur in Harry Potter wäre. Tolliver. Das hier ist Tolliver. Er stellt sich vor, zu schreiben, Lieber Pavel …, dann würde er das Papier so straff zusammenrollen wie eine Zigarette, er würde ein rotes Bändchen darum knoten und es Tolliver in den spitzen kleinen Schnabel stecken, der dann seine weiten weißen Flügel ausbreiten und vom Sims des geöffneten Fensters losfliegen würde, der Himmel wäre ein einziges Hin und Her von Eulen, die ein Netz über eine Zauberwelt spannen, die von den Muggeln gänzlich unbemerkt blieb.

Wie eloquent Häuser sprechen, von Landschaft und Wetter, von Baumeistern und Familien, von Reichtum, Ängsten, Kindern, Bediensteten. Einsam kauernd oder vom Druck der Nachbarn in die Höhe gezwungen, stolz der Hauptstraße zugewandt oder dem Hügel, um das Gesicht vor Wind und Regen abzuschirmen. Schützend schräge Dächer, weiß gestrichene Wände, um die Sonnenstrahlen zu reflektieren. Innenhöfe, um die Damen des Hauses vor neugierigen Blicken zu schützen. Die neumodischen, kostbaren Autos, Austin Morris, Ford Cortina, erst in eigenen kleinen Räumen, bis plötzlich jeder einen hatte und sie auf den Bordstein verbannt wurden. Die Zweitküche im Keller und die Zimmer auf dem Dachboden, wo früher die Bediensteten schliefen. Die nackten Balken verputzt und wieder zur Schau gestellt, sobald sie nicht mehr Armut sagten. Das Vorderzimmer, das nur die Kiste mit dem goldbehangenen Weihnachtsbaum und das sogenannte Silber enthält, das niemand je betritt und in dem du vor deiner Beerdigung zwei Tage lang aufgebahrt liegen wirst. Die Speisekammer mit dem Kaninchendrahtfenster. Die neue Toilette, die das Plumpsklo im Garten ersetzt hat, in dem jetzt nur noch rostige Dreiräder und weiche, platte Fußbälle aufbewahrt werden. Rohre und Drähte, die zu Auffangbecken und Elektrizitätswerken führen, zu Telefonzentralen und Kläranlagen. Wasser aus Birmingham, Strom aus Schottland. Stimmen aus Brisbane und Calgary.

Die Zeit wird beschleunigt. Aus einem Tag wird eine Stunde, eine Minute, eine Sekunde. Flugzeuge verschwinden zuerst, Autos werden zu farbigen Rauchstreifen verwischt und lösen sich in Nichts auf. Die Menschen verschwinden, von ihnen bleiben nur Körper, die in Betten mit dem stetigen Kommen und Gehen der Dunkelheit aufflackern. Bauten bewohnen die Erde, sie wachsen wie Sporen, sie schlagen Wurzeln, säen neue Städte, neue Dörfer, neue Großstädte, die in Sand oder Urwald verschluckt werden. Eisenträger und Kamine zerfallen zu Staub. Zweitausend Jahre, zweihunderttausend Jahre, zwei Millionen Jahre und ein ernstes und ansehnliches Haus, das einmal im geometrischen Mittelpunkt eines rechteckigen Gartens mit Blick auf das Tal stand, ist nun ein Geist im Erdreich, eine Meile unter der Oberfläche eines Schneeballplaneten.

Daisy läuft zum Fensterplatz am anderen Ende der Küche und starrt hinaus in den Regen. Sie versucht, sich Sorgen um Richard zu machen, doch es gelingt ihr nicht. Wie grau die Welt ist. So viele Worte für Rot. Karmin, Scharlach, Rubin, Bordeaux, Magenta, Zinnober. Aber Grau? Sie dreht sich um und wirft einen Blick ins Wohnzimmer und sieht, dass Melissa endlich verschwunden ist. Der Druck in ihrer Brust wächst. Mum?

Was ist denn, Liebes? Angela dreht sich um und berührt ihren Arm. Du siehst fürchterlich aus.

Können wir reden?

Eine kurze Pause, in der Angela die Kuriosität und Intimität dieser Worte in sich aufnimmt. Natürlich.

Alex liebt dieses Wetter, wie er alle Arten von schlechtem Wetter liebt, Schnee, Regen, Hagel, Trübe, Dunkelheit, Dämmerung, eins zu werden mit der Landschaft, statt sie nur zu beobachten. Seine Gedanken kreisen, während er läuft. Songtexte, Gespräche, die er hatte oder gerne gehabt hätte, Sex, den er hatte oder gerne gehabt hätte. Der Vorfall mit Richard auf dem Weg hoch nach Red Darren in Dauerschleife. Du lässt mich dastehen wie einen Vollidioten. Dann stellt er sich Richard vor, wie er bewusstlos im Regen liegt, ein weitläufiger Schwenk wie im Film. Er ist sich nicht mehr sicher, ob er auf Louisa steht oder nicht, diese erbärmliche Art, mit der sie sich um Richard sorgt. Je höher er kommt, desto kälter wird es, der Regen wird zu Hagel, und er fragt sich, was passieren wird, wenn Richard tatsächlich in der Scheiße steckt und ihm wird klar, dass alle ihm die Schuld geben werden, sollte es ihm nicht gelingen ihn zu finden, obwohl er der Einzige ist, der etwas unternommen hat. Außerdem kann natürlich auch etwas passiert sein, das nichts mit dem Wetter zu tun hat. Ein gebrochenes Bein, ein Herzinfarkt, er kann in irgendein Loch gefallen sein. Sollte Richard bereits tot sein, wenn er ihn auffindet, wird man ihm natürlich nicht die Schuld geben. Dann wäre er derjenige, der den Leichnam gefunden hat. Er ist jetzt oben angekommen und Mann, es ist schweinekalt, durch diesen Mist zu joggen, und es ist gut möglich, dass Richard eine ganz andere Route gewählt hat und fünf Minuten nachdem Alex losgelaufen ist an der Haustür aufgetaucht ist, und das wäre richtig ätzend. Mittlerweile muss er wegen der Hagelkörner die Augen fast ganz schließen. Grauer Hintergrund und weiße Punkte, die geradewegs auf ihn zukommen, wie bei diesem alten Bildschirmschoner von Windows. Trägt Richard überhaupt eine Regenjacke? Hätte er, Alex, also besser eine zur Reserve mitbringen sollen? Zu spät, um sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Richard seine eigene geben und Extrapunkte sammeln. Wer von ihnen würde einen Faustkampf gewinnen? Alex nimmt an, es wäre ein klarer K.o., Richard war ein paar Zentimeter größer und hatte eine etwas größere Reichweite, aber er hatte auch dieses verweichlichte Aussehen von Männern mittleren Alters, die nicht mehr auf sich achtgaben. Großer Gott. Und da ist er auch schon, da vorne, er humpelt wie jemand, der aus dem Krieg kommt.

Richard fragt sich, ob das hier wirklich passiert, und ist ausreichend compos mentis, um zu verstehen, dass seine Unsicherheit kein gutes Zeichen ist. Noch ist er kein Fall für die Glasgow-Koma-Skala. Kommt da Alex? In einer leuchtend gelben Jacke wie ein Wachmann. Shorts und eine Wollmütze. Richard, ruft Alex in lockerem Golfclub-Ton. Lange nicht gesehen, ein großes Helles wie immer?, und so weiter. Mir ist wohl ein Malheur passiert. Alex zieht seine grellgelbe Jacke aus. Hier. Aber Richards Hände sind so taub, dass er es nicht schafft, seine Arme hineinzustecken. Seine Zähne klappern. Das haben sie seit der Schulzeit nicht mehr getan. Alex zieht ihm die Wollmütze über. Die Melodie von Cader Idris auf der Blockflöte. Gefrorene Milch, die die Alu-Verschlüsse der dicken Flaschen ausbeulte. Bevor Dad gestorben ist. Komm, ich helf dir. Er denkt an Krankenschwestern, die ältlichen Patienten in ihre Strickjacken helfen. Das Mädchen im Rollstuhl. Dann hat er die Jacke an und ihm wird klar, dass er bald Louisa sehen wird, und er versteht jetzt, wie viel Angst er tatsächlich hatte und möglicherweise kommen ihm deshalb gerade die Tränen, die im Regen hoffentlich unbemerkt bleiben. Alex legt Richards Arm um seine Schultern. Los jetzt, ein bisschen schneller, sonst bin ich derjenige, der erfriert. Richard schwingt sein gesundes Bein nach vorne, humpelt, schwingt erneut sein gesundes Bein, humpelt. Alex zieht ihn schneller, als ihm lieb ist. Er hat große Schmerzen, aber es ist gut, schneller voranzukommen. Er erinnert sich an ihr Gespräch gestern Abend. Später wird er sich entschuldigen. Ein heißes Bad, er wird ein heißes Bad nehmen können, aber, Gott, sein Knöchel. Danke.

Lauf einfach weiter.

Angela schließt die Tür, und Daisy denkt an Direktorenzimmer und Arztpraxen. Sie setzen sich nebeneinander aufs Sofa und blicken in den leeren Kamin. Daisy würde sich wünschen, dass dort ein Feuer brennt, doch das ist Richards Aufgabe. Was ist los?

Du musst mir versprechen …

Was muss ich versprechen?, fragt Angela.

Sie steht auf dem Sprungbrett. Einmal federn und nicht hinuntersehen.

Ich habe versucht, Melissa zu küssen.

Angela ist unsicher, ob sie richtig gehört hat, aber sie kann Daisy nicht darum bitten, den Satz zu wiederholen.

Um Himmels Willen, Mum, sag etwas.

Sie durchforstet ihr Gedächtnis nach Melissas und Daisys Aufeinandertreffen heute Morgen im Esszimmer. Und ich vermute, Melissa war nicht so begeistert davon.

Ich meine es ernst, Mum.

Ich auch. Sie fühlt sich wie in einem TV-Drama. Soll das heißen, du bist lesbisch?, fragt Angela.

Die Worte sind unförmig in Daisys Mund. Sie weint an Mums Schulter. Angela kann sich nicht an das letzte Mal erinnern, das sie ihre Tochter auf diese Art gehalten hat. Daisy ist erst einmal erleichtert, dass sie Melissa nun nicht mehr völlig allein ausgesetzt ist.

Weiß irgendjemand davon? Sie erinnert sich daran, wie Daisy sie vor ein paar Tagen auf der Straße hat stehen lassen, und fühlt sich jetzt, als hätte sie einen Wettkampf um die Zuneigung ihrer Tochter gewonnen: Sie hat Melissa geschlagen und Dominic. Kreisförmig streichelt sie Daisy über den Rücken. Zehn Jahre verschwinden. Die Albträume. Ich fände es nicht schlimm, wenn du lesbisch wärest. Sie drückt Daisy etwas fester.

Daisy weicht zurück. Ich bin nicht lesbisch, okay? Panik in ihrer Stimme.

Okay. Angela tastet sich vorsichtig voran, denn diese Situation ist kurz davor, gefährlich vom Skript abzuweichen.

Ich bin nicht lesbisch, okay.

Also hast du Melissa geküsst, weil …? Es klingt vorwurfsvoll, dabei will sie doch nur ihre Tochter verstehen. Die Klinke klickt, und Benjy steht im Türrahmen. Nicht jetzt, ja? Er geht weg. Sie wendet sich Daisy zu. Bist du deshalb in diese Kirchengemeinde eingetreten? Plötzlich fällt es ihr wie Schuppen von den Augen.

Ich bin nicht deshalb in die Kirche eingetreten. Die alte Wut in ihrer Stimme. Warum zur Hölle muss Mum jetzt damit anfangen?

Tut mir leid, sagt Angela. Sie hält Daisys Hände. Wieder blitzt Karen auf, wirkliche und mögliche Töchter, die Daisy, die vielleicht hätte existieren können, wenn diese Gemeinde sie nicht in ihre Klauen bekommen hätte. Sie sollte sagen: Ich helfe dir. Ich halte mich raus. Sag mir einfach, was ich tun soll. Aber ist das Ganze wirklich so anders, als wenn sie sich in einen gewalttätigen Typen verlieben würde? Es gibt so viele Wege, einen Menschen zu zerstören. Wirst du mit jemandem von der Kirche darüber sprechen?

Warum sollte ich mit jemandem von der Kirche darüber reden?

Was würden sie denn dazu sagen?

Was spielt das für eine Rolle?

Hör mir zu, sagt Angela.

Daisy hält sich die Hände vors Gesicht.

Ich liebe dich. Vielleicht bist du lesbisch, vielleicht auch nicht. Für mich macht das nicht den geringsten Unterschied. Aber du hast dich mit Menschen umgeben, die …

Daisy nimmt die Hände weg. Nein. Hör auf. Du hörst mir nicht zu. Das hier hat nichts mit der Kirche zu tun. Das hat auch nichts mit dir und deinen Vorurteilen zu tun. Sie hat eine Flasche mit giftigem Inhalt geöffnet, doch die Flasche hat kein Etikett, und es gelingt Daisy nicht, sie wieder zu schließen. Ich habe einen Fehler gemacht. Ich habe einen blöden Fehler gemacht. Sie steht auf.

Daisy, warte. Es tut mir leid.

Ach Scheiße … halt einfach deinen Mund, okay? Und die Tür knallt hinter ihr zu.

Angela sitzt eine geschlagene Minute lang da. Das schräge Ticken der Standuhr. Dann kniet sie sich hin, öffnet das Kamingitter, nimmt eine alte Ausgabe des Daily Telegraph aus dem Korb und zerknüllt das Papier zu kleinen Bällen, die sie auf das Bett aus Asche legt. Aus der anderen Ecke des Zimmers sieht sie sich selbst dabei zu. Sie bedeckt das zerknüllte Papier mit einem kleinen Floß aus Feuerholz und greift nach den Streichhölzern auf dem Kaminsims. Sie hat versagt, nicht wahr, wieder einmal. Das hat nichts mit dir zu tun. Eine Tür hatte sich aufgetan, und sie hat sie zugeknallt. Gott. Alex und Richard. Sie sah auf die Uhr. Was für ein Tag.

Alle bis auf Dominic und Louisa hatten das Esszimmer verlassen. Angela führte das Gespräch mit Daisy, das er hätte führen sollen. Was empfand er? War er dankbar, dass es nun Angelas Problem war? Trauer, dass er außen vor blieb? Schämte er sich seiner Prokrastination? Hauptsächlich war es die Rückkehr jener Starre, die ihn damals ins einem Job im Buchhandel, bei Waterstone’s, paralysiert hatte, das Gefühl, dass sich das Leben anderswo abspielte, zu schnell, zu komplex, zu anspruchsvoll, um danach zu greifen, wenn es ab und an durch seine Welt schwang.

Was Louisa hingegen am stärksten fühlte, war Wut, Wut auf Richard, dessen Aufgabe es sein sollte, ihr die Angst zu nehmen, Wut auch auf sich selbst, weil sie so egozentrisch war, wütend, ausgerechnet jetzt entdecken zu müssen, wie abhängig sie war, just in dem Moment, da sie gerade hatte feststellen müssen, wie fehlbar sie war. Sie stellte sich vor, wie es liefe, wenn er nicht mehr da wäre, und dann machte ihr die Frage, was aus ihr werden würde, fürchterliche Angst.

Die Wohnzimmertür ging auf und knallte wieder zu. Louisa sprang auf in der Annahme, es sei Richard, doch es war Daisy, und irgendetwas war sichtlich schiefgelaufen. Louisa versenkte sich wieder in sich selbst. Dominic stand auf. Ich komme gleich wieder. Er verließ das Zimmer, und plötzlich war niemand mehr da und das Haus war still und sie stellte sich vor, ihm hinterherzulaufen und Zimmer um Zimmer abzusuchen und alle wären leer und sie würde rufen und niemand würde antworten, nur das Geräusch des Windes und des Regens, der gegen die Fenster hämmerte.

Sie hatten die Straße fast geschafft, waren schon an der Kreuzung vorbei, nur noch wenige hundert Meter. Der Regen ließ etwas nach, doch Richard stützte sich stark auf ihn, und seine Schritte wurden ungleichmäßiger und schwerfälliger. Ungeschickt fielen sie auf dem Seitenstreifen hin, und Alex hatte große Mühe, Richard wieder auf die Beine zu bekommen. Seine Fingerspitzen waren gelb. Richard? Aber Richards Worte klangen undeutlich, und Alex schämte sich dafür, sich seinen Tod vorgestellt zu haben und so langsam jagte ihm diese ganze Sache eine Höllenangst ein. Komm schon. Du musst laufen, kapiert? Alleine schaff ich das hier nicht.

Angela kniete vor dem geöffneten Kamin und schützte die Streichholzflamme mit ihrer Hand. Bisher hatte Richard jeden Tag das Feuer entzündet. Sie lehnte sich zurück und schloss das quietschende Eisentor. Ich habe gerade mit Daisy geredet.

Das habe ich mir schon gedacht.

Wo sollte sie anfangen? Sie hat Melissa geküsst.

Ich weiß, sagte Dominic.

Was soll das heißen?

Ich habe mit Melissa gesprochen.

Du hast mit Melissa darüber gesprochen?

Nicht darüber, einfach nur gesprochen. Daisy wollte nicht sagen, was mit ihr los ist, also habe ich Melissa gefragt.

Wann?

Heute Morgen.

Dominic und Daisy und ihr kleiner magischer Kreis. Und wann hattest du geplant, es mir zu sagen?

Ich dachte, dass es niemand wissen sollte.

Natürlich soll es niemand wissen, weil diese fürchterlichen Menschen der Meinung sind, dass sie dafür in die Hölle kommt. War es das, was die Kirchenleute dachten? Sie war sich nicht sicher. Und du wolltest lieber, dass sie sich einfach weiterhin wie ein Stück Scheiße fühlt. Warum taten sie das? Ihrer Tochter ging es schlecht, und sie, die Eltern, nahmen das zum Anlass, um Streitigkeiten wiederaufleben zu lassen, die schon seit Jahren nirgendwo hinführten. Sie hörte, dass jemand gegen die Haustür hämmerte und sah, wie Louisa in den Eingangsbereich rannte, und mit dem großen Riegel kämpfte. Angela stand auf, als Alex hineinstolperte und Richard beinahe trug. Sie wollte zu ihnen gehen, etwas tun, doch das Bild von ihnen dort in der Tür war so spannungsgeladen und intim, wie Louisa ihn im Arm hielt, als würde sich das Ganze hinter einer Art Rampenlicht abspielen, in das man nicht eindringen durfte. Unten ins Badezimmer, sagte Alex, dann waren sie verschwunden.

Was hast du zu ihr gesagt, fragte Dominic. Jetzt eben?

Dass ich sie liebe. Ich habe gesagt, was jeder halbwegs normale Elternteil sagen würde. Sie hielt inne und rieb sich mit den Händen über das Gesicht und holte tief Luft. Bitte, lass uns damit aufhören. Dominic starrte auf seine Füße. Schämte er sich? Oder biss er sich nur auf die Zunge? Ich habe wieder mit der Kirche angefangen, okay? Weil ich das immer tue. Sie hob die Hände, als wolle sie sich ergeben. Das Knallen eines umfallenden Stuhls im Esszimmer. Sie sagt, sie sei nicht lesbisch. Sie sagt, es sei ein Unfall gewesen. Das Feuer hinter der schmutzigen Scheibe loderte auf. Kannst du mit ihr reden? Auf mich hört sie nicht, und wenn sie jetzt wegen dieser Leute glaubt, ein schlechter Mensch zu sein …

Ich rede mit ihr. Doch was, wenn sie sich irrten? Was, wenn es einfacher war, Gott zu lieben als andere Menschen? War es denn so verwerflich, sich ein einfaches Leben zu wünschen? Vielleicht später. Wenn sich die Lage etwas entspannt hat.

Sie sah in die Flammen. Eigentlich sollte es beruhigend sein, Wärme in der Dunkelheit, die Wölfe wurden in Schach gehalten, doch das hitzebeständige Glas ließ sie an irgendeine infernalische Substanz im Innern eines Reaktors denken, einen kleinen Teufel auf einer Tretmühle. Diese Fotos, ihr Verlangen, sie zu sehen, war so stark. Manchmal blättert sie in einer Zeitschrift oder sieht einen Film und fragt sich plötzlich, ob er es ist. Große Männer, starke Männer, die ihre Fehler haben, aber im Grunde ehrenhaft sind, Männer, auf die man sich verlassen kann, wenn es hart auf hart kommt, diese rechtschaffene Wut, die sie auf Schritt und Tritt begleitet, wie eine Waffe im Holster, als letztes Mittel immer griffbereit. Das Gegenteil von Dominic. All diese Annahmen, die man sein ganzes Leben mit sich herumschleppt, darüber, wie eine Familie sein sollte. Wie ein Ehemann sein sollte. Wie ein Vater sein sollte. Sie musste gehen und nachsehen, wie es Richard ging.

Louisa rang mit der Türverriegelung, und dann stolperten sie ungelenk in den Eingangsbereich, wobei sie einige Jacken auf den Boden warfen und einen Haken aus der Wand rissen.

O Gott. Richard?

Mir geht’s gut. Er klang betrunken.

Sie schließt ihn in ihre Arme, doch Alex schält sie behutsam von ihm ab. Unten ins Badezimmer. Nimm seinen anderen Arm. Mum und Dad saßen im Wohnzimmer und taten mal wieder absolut gar nichts. Richard, du musst mithelfen.

Ich sollte einen Krankenwagen rufen.

Ihm geht es gleich wieder gut. Stimmte das auch? Alex war sich nicht sicher. Doch ein Krankenwagen würde auf diesen Straßen, was?, eine halbe Stunde brauchen? Whoa. Richard stolperte wieder zur Seite, doch diesmal gelang es Alex, ihn aufrecht zu halten. Lass schon mal Wasser ein. Louisa rannte ihnen durch die Küche voraus. Erleichterung und Panik, darüber, was hätte passieren können, was noch immer passieren konnte. Fast geschafft. Er manövrierte Richard durch die Küche. Weiter vor sich hörte er das Zischen und Donnern des heißen Wassers. Ein Bild von Callum, der sich weinend auf dem Bordstein hin und her wand, der gebrochene Schienbeinknochen ragte durch die Haut hindurch. Durch die Besenkammer, Richard schwankend auf dem unebenen Steinboden, wie ein Kind oder ein alter Mann, der Zwiebelgeruch seines Schweißes. Sie meisterten die Schikane der Badezimmertür und gelangten in die dampfende Luft, Louisas Hände flatterten beinahe. Wie sollten sie das anstellen? Er ließ Richard auf die Toilette sinken, legte eine Hand in seinen Nacken und zog ihm die Wollmütze und die gelbe Jacke aus. Schuhe. Louisa zerrte sie von seinen Füßen. Er würde Richard auf gar keinen Fall ausziehen können, aber egal. Elegant würde das hier sowieso nicht werden. Er hievte Richard hoch, setzte ihn auf den Badewannenrand und stieg dann hinter ihm ins Wasser, das sich von seinen schmutzigen Laufschuhen braun färbte. Er zog Richard nach hinten und ließ ihn mit dem Hintern zuerst ins Wasser gleiten, wobei seine Beine mit hinein klatschten, sodass braunes Wasser die Wand hochschwappte und über Louisas gesamtes Hemd. Alex stieg heraus und ließ vorsichtig los. Richard hielt sich gerade. Hol ihm etwas Heißes zu trinken. Ich bleibe hier. Louisa lief aus dem Badezimmer. Das Wasser stieg.

Richard hat Angst, seine Endorphine schon lange verbraucht, Kälte bis ins Mark, im Becken, unter den Rippen. Seine Zähne klappern noch immer. Alex sagt etwas, doch Richard ist nicht sicher, was. Er hat einen Abszess, das muss er irgendwem sagen, bevor die Wanne voll ist. Kommt herbei, Kameraden, lichtet eure Anker. Sein Vater steht mit verschränkten Armen im Türrahmen, dieser grimmige Gesichtsausdruck, der den Druck steigen lässt. Richard fragt sich, ob er herausgehoben und übers Knie gelegt wird. Der Geruch von alten Zigaretten und Old Spice. Gott, das heiße Wasser brannte.

Die Mikrowelle macht Ping, und Louisa schlägt mit einem Klick das Türchen zu und taucht mit etwas auf, das nach warmer Milch aussah. Alex denkt daran, wie er als Kind mitten in der Nacht aufwachte. Er riecht Honig, Louisa und ihre gefalteten Servietten und militärisch ordentlich gemachten Betten, selbst jetzt. Sie kniet nieder und hält Richard die Tasse hin. Er nimmt sie in die Hände, ein gutes Zeichen, obwohl er seine Finger offensichtlich noch immer nicht einzeln bewegen kann. Gott, was für ein merkwürdiges Bild. Richard in Anziehsachen in einer Badewanne voller Ochsenschwanzsuppe, Louisa, die sich in einem Blümchenhemd zu ihm lehnt, Schlammabdrücke auf dem weißen Plüschläufer, wie ein schäbiger Hundehaarteppich. Er entdeckt die blutige Schürfwunde an Richards Hand und betrachtet seine eigenen blutigen Knöchel. Louisa nimmt die Tasse und stellt sie auf der Ecke der Badewanne ab und macht sich daran, Richard die Jacke auszuziehen, die Wanne ist jetzt beinahe voll. Es fühlt sich unangenehm intim an, ihr dabei zuzusehen, Richards haarige Brust, schwabbelige Männerbrüste, seine schiere Masse, erbärmlich und bedrohlich zugleich. Alex meint, gehen zu müssen, doch er kann nicht. Er stellt sich Louisa auf Richard vor, nackt. Ist es dumm, keinen Krankenwagen zu rufen? Er dreht sich um und sieht Mum und Dad im Türrahmen. Louisa bemerkt die beiden nicht, doch Angela fragt: Wie geht es ihm? Alex zuckt lediglich mit den Schultern, um sie für ihre verdammte Untätigkeit zu bestrafen.

Können wir irgendwie helfen?

Essen, sagt Alex. Er erinnert sich an eine Folge von Natural Born Survivor. Haben wir Schokolade da? Irgendwas Weiches und Süßes. Eigentlich will er sie nur aus dem Badezimmer jagen, denn er hat sich seinen Platz hier im Zentrum des Geschehens verdient und sie nicht.

Ich kümmere mich drum, sagt Dominic.

Melissa war es überhaupt nicht in den Sinn gekommen, dass Richard in Gefahr schweben könnte, zumal er immer derjenige war, der sich um Menschen kümmerte, die in Gefahr schwebten, doch als sie runter kam, um sich eine Tasse Kaffee zu machen, sah sie Dominic, der eine Suppendose heiß machte und Angela sagte: Er ist in der Badewanne, Melissa fragte sich, wen zur Hölle sie meinte.

Alex hat ihn zurückgebracht, sagte Dominic.

Bald wird es ihm wieder gutgehen, sagte Angela.

Hoffen wir’s.

Und dann dämmerte ihr alles, doch Alex tauchte in der Tür auf, klatschnass, noch immer in seinen Laufschuhen. Er hat das Schlimmste überstanden, denke ich. Er ging zum Brotkasten und schnitt sich eine zwei Zentimeter dicke Riesenscheibe ab. Ich brauche eine Dusche. Melissa, kannst du hochgehen und Richard ein paar trockene Klamotten holen? Sie sträubte sich, aber das war jetzt der falsche Moment. Klar. Lieblichkeit und Licht. Sie drehte sich um und lief zurück ins Esszimmer.

Alex nahm einen großen Bissen Brot. Ruft einfach, wenn ihr meine Hilfe braucht, ja?

Dann war auch er verschwunden, und Dominic empfand Stolz auf seinen Sohn. Vielleicht war es doch nicht so schlimm, wenn die junge Generation die Welt übernahm.

Daisy machte einen Schritt hinaus auf den Flur und sah Melissa, die wie ein Zimmermädchen mit einem Stapel gefalteter Kleider verschwand. Kurz darauf tauchte Alex in seinem Handtuch auf, mit einem Stück Brot im Mund.

Alles etwas abenteuerlich da unten.

Ja?

Hat sich den Fuß verstaucht. Und Unterkühlung. Nun sitzt er in einem heißen Bad. Er schob sie sanft zur Seite. Ich brauche jetzt eine Dusche, sonst ergeht es mir genauso.

Plötzlich konnte sie die Idee, alleine zu sein, nicht mehr ertragen. Kann ich mit dir ins Badezimmer kommen?

Er hob die Augenbrauen. Wenn du unbedingt willst, meinetwegen. Denn schließlich war dies einer dieser Tage, an denen die normalen Regeln vorübergehend außer Kraft gesetzt waren, also gingen sie hinein, sie machte die Tür hinter sich zu und setzte sich auf die Toilette. Vosene-Haarpflege, Miracle Moist-Shampoo, Louisas rosa karierte Kulturtasche. Er stellte die Dusche an, nahm noch einen Bissen Brot, legte die verbleibende Rinde auf den Waschbeckenrand, dann ließ er das Handtuch fallen und stieg hinter die große Kabinenwand aus Plastik, wobei er sich von ihr wegdrehte, um die Sicht auf seine Scham zu verdecken. Seitliche Dellen in seinen Pobacken, seine Rückenmuskulatur, unerwartet unbekümmert ohne seine Klamotten. Daisy erinnerte sich daran, wie sie sich in ihrem Körper fühlte, wenn sie schwamm, diese Gleichgültigkeit darüber, wie sie aussah, reine Freude darüber, wie er funktionierte. Sie waren wieder wie Kinder.

Also bist du jetzt der Held des Tages?

So weit würde ich nicht gehen. Doch sie hörte den Stolz in seiner Stimme. Man, das tut gut. Wie er es genoss, das heiße Wasser auf seiner Haut zu spüren, war auf merkwürdige Weise intimer als der Anblick seines nackten Körpers.

Es tat gut, zusammen hier zu sein, fast wie in einem Versteck, tröstlich und geheim. Aber jetzt geht es ihm gut? Seine Silhouette verschwommen und dampfend hinter dem beschlagenen Plastik.

Ich denke schon. Er beugte sich hinunter, um den Dreck von seinen Knöcheln zu entfernen. Er war fast bewusstlos, als ich ihn endlich bis zum Haus bekommen hatte. Er spritzte Shampoo auf seine Haare. Was für ein Schwachkopf.

Mir fiel auf, dass er sich lauter neue Laufutensilien gekauft hat.

Jetzt sehen sie nicht mehr ganz so neu aus.

Eine Weile saß sie schweigend da. Er drehte das Wasser ab und stieg heraus, wobei er sich von ihr wegdrehte, um sein Handtuch aufzuheben und sich abzutrocknen. Wie ein Model, aber auch wie ein kleiner Junge. Er steckte das letzte Stückchen Brot in den Mund und sagte: Na ja. Ich muss jetzt jedenfalls pinkeln und das ist etwas merkwürdig, also solltest du vielleicht irgendwie weggucken oder so.

Ich glaube, ich bin vielleicht lesbisch. Als hätte jemand anderes an ihrer statt gesprochen, als hätte jemand anders sie vom höchsten Sprungturm gestoßen. Die Zeit blieb stehen, sich kräuselnde Lichtreflexe auf der Wasseroberfläche weit unten, die beißende Kälte und dann blaue Stille.

Meinst du? Er hatte die Augenbrauen zusammengezogen, als würde er sich mit einem Kreuzworträtsel abmühen.

Klingt das völlig geisteskrank?

Ein bisschen. Lesbisch. Er hatte noch nie eine Lesbe getroffen, noch nie jenseits von Pornos über sie nachgedacht, wobei das keine Lesben waren. Sie sahen zu gut aus. Oder war das ein Vorurteil? Heißt das, dass du keine Christin mehr bist?

Ich hab Angst, Alex. Sie war den Tränen nahe. Und jetzt musst du bitte etwas sagen.

Er musste darüber nachdenken, und das war schwierig. Wenn sie ein Mann wäre, würde er vielleicht die Nerven darüber verlieren, sich den Sexteil nicht vorzustellen. Aber das hier? Er stellte sich vor, sie hätte eine Freundin, was irgendwie so wäre, als hätte man zwei Schwestern. Es sei denn, die Freundin wäre furchtbar, oder hässlich.

Bitte?

Alex versuchte, sich neben sie auf den Klodeckel zu setzen, aber der war zu schmal und außerdem war er halb nackt, also kniete er sich neben sie und nahm sie ungeschickt in die Arme.

Ich hab Melissa geküsst.

Was?

Ich hab Melissa geküsst.

Heilige Scheiße. Ist die auch lesbisch?

Es war eigentlich eher ein Unfall. Sie riss vier Blatt Klopapier ab und putzte sich die Nase.

Er setzte sich auf den Badewannenrand. Ich hab sie auch geküsst. Davon war sie auch nicht gerade begeistert. Er dachte, Daisy damit zum Lachen zu bringen, doch offenbar hatte sie ihn nicht gehört. Sie ist schon ziemlich heiß.

Sie hat mich eine Scheißlesbe genannt.

Und plötzlich verstand er, wovor sie so fürchterliche Angst hatte. Die ganze Scheiße, die sie durchmachen würde. Erst hatte sie all ihre Freunde wegen dieser Gemeinde verloren, und jetzt würden diese scheinheiligen Arschlöcher sie wahrscheinlich rauswerfen. Er wollte Melissa eine Ohrfeige geben. Weiß es sonst noch irgendwer?

Nein. Ja. Ich fühl mich wie eine Idiotin.

Für einige Sekunden waren sie still. Diese Leere. Vermutlich hatte dieser Augenblick mehr verdient, Mariachi-Trompeten, einen tödlichen Blitzschlag, der auf sie herniederging. Ich hab’s Mum gesagt.

Und …?

Sie war ätzend, wie immer.

O Mann, sagte Alex. Was für ein komischer Tag. Daisy sah gekränkt aus. Komisch auf eine gute Art. Richard doch nicht ganz tot, und du … Was? Du auch nicht ganz tot?

Alex? Dominic rief von unten.

Alex stand auf. Okay, jetzt muss ich wirklich pinkeln. Geh und sag Dad, dass ich in ein paar Minuten unten bin, ja?

Sie bewegt sich nicht. Er spürte es auch, dass dieses Ereignis irgendwie festgehalten werden sollte, aber wie?

Dad rief noch mal. Alex …?

Er lag auf dem Sofa, dicker Pullover, eine Tasse gesüßter Tee, ein Bein auf Louisas Schoß. Sie legte die Packung mit gefrorenen Erbsen zur Seite und begann, den alten Verband um seinen Knöchel zu wickeln. Unter dem Waschbecken ein Erste-Hilfe-Koffer, so etwa Jahrgang 1983. Die Kamintür stand offen, sodass er die Wärme auf der einen Hälfte seines Gesichtes spüren konnte. Musik von César Franck im Hintergrund, die Sonaten für Violine und Klavier, Martha Argerich und Dora Schwarzberg. Na bitte, das sollte reichen. Ihm war ein wenig übel von den Mars-Riegeln, die Alex ihm in der Badewanne aufgedrängt hatte, diese zittrige Müdigkeit und Gliederschmerzen wie bei einer Grippe. Louisa befestigte den Verband mit einer Sicherheitsnadel. Leichte Angstwellen fielen und stiegen, das körpereigene Warnsystem, das sagte Hier stimmt etwas nicht, obwohl er objektiv betrachtet wusste, dass er sich erholte. Er war, wenn er sich richtig ans Lehrbuch erinnerte, haarscharf an einer schweren Hypothermie vorbeigeschrammt. Louisa hob sein Bein, um ein Kissen unter seinen Knöchel zu schieben, damit er noch höher lag. Im Endstadium treten Paradoxes Entkleiden und Terminales Höhlenverhalten auf. Dieses Foto von dem alten, nackten Mann in dem Schrank hatte ihn immer verstört. Irgendwie ein Schock, die Erkenntnis, dass Sterben vermutlich unangenehm war. Er hatte immer angenommen, dass das Gehirn so weit schrumpfte, dass es durch die kleine Tür passte, durch die man hinausging, Montaigne, der von seinem Pferd fiel, oder war er während einer Messe verstorben? Im Krankenhaus sterben, das war die Lektion. Mit einer ordentlichen Dosierpumpe fürs Morphium in Griffweite. Doch es war ein gutes Gefühl, wenn sich jemand so um einen kümmerte. Louisa legte die gefrorenen Erbsen zurück auf seinen Knöchel und widmete sich wieder ihrem Stephen-Fry-Buch. Lächerlich, dass es einer so riesigen Aufregung bedurft hatte, damit sie endlich mal nebeneinandersaßen und nichts taten. Aber dieser Pillbox-Bunker hinter seinem Vater, auf dem Foto, sie waren hineingegangen, oder? Er und Angela. Er erinnerte sich an Uringestank und eine zerdrückte Coca-Cola-Dose. Camping oder Wohnmobil? Pommes in Zeitungspapier, Versuche, auf einer blauen Luftmatratze zu surfen.

Richard? Sie berührte seine Schulter.

Er kam zu Bewusstsein. Ich bin nur müde. Sie beobachtete ihn, doch er konnte ihren Gesichtsausdruck nicht deuten. Ihre Worte der letzten Nacht. Deine Stücke. Deine Filme. Er war egoistisch, nicht wahr. All diese Jahre mit Jennifer, zwei Singles, die sich ein Haus teilten. Du hast recht. Ich habe von dir erwartet, dass du in mein Leben hinein passt.

Ich hätte das alles nicht sagen sollen.

Aber es war die Wahrheit. Dort oben auf dem Berg hatte er sie vergessen, oder? Er hatte gedacht, dass er sterben würde, und sich gar nicht daran erinnert, dass er eine Frau hatte. Vielleicht hast du den Falschen geheiratet.

Hey. Hör auf. Sie rieb seine Schulter.

Falsche Produktbeschreibung et cetera. Ich will nicht, dass du glaubst … Es ist kein verbindlicher Vertrag.

Du bist völlig erschöpft. Sie legte einen Arm um ihn. Wir reden später darüber, wenn du dich aufgewärmt hast.

Wirklich erstaunlich, dass es so plötzlich geschehen war. Wie ein Münzwurf. Unerklärlich, dass sie es nicht schon früher gewusst hatte. Hatte es die ganze Zeit in ihrem Rücken gelauert wie ein bösartiger Pantomime, den jeder sehen konnte, außer ihr selbst? Wie fremd man sich sein konnte, verändert in einem einzigen Augenaufschlag. Und Jack, natürlich, plötzlich verstand sie es, dieses Gefühl des Verrats, Steinkreise im Mittsommer, all die Zeichen, die bedeutungslos schienen, bis das Licht zur Sommersonnenwende hineinfiel. Katy Perry, der Film Maurice, dieser Artikel im Guardian Magazine, Mulholland Drive – Straße der Finsternis. Sie wollte von jemandem gehalten werden, der das Ganze schon durchgemacht hatte. Lesbe. Ein Wort wie aus einem Gezeitentümpel hervorgezogen, nur Pinzetten und Flüssigkeiten und Fremdheit. Ausgerechnet Melissa. Wie dumm sie gewesen war. Die Kirche. Es würde keine Diskussion geben, oder? Meg, Anushka, Lesley, Tim. Fait accompli. Und die Mauern fielen um. Wer also war sie jetzt? Sie ließ sich zu Boden sinken und zwängte sich in die Ecke hinter dem Kleiderschrank. Die Sicherheit eines engen Raumes. So hatte sie sich zuletzt hingekauert, als sie sechs Jahre alt war und sich vor den Monstern verstecken wollte. Sie hob Harry vom Boden auf und drückte ihn fest an sich, wobei sie sich sanft vor- und zurückwiegte. Schäbige Korridore und traurige Hotels. Hundescheiße im Briefkasten.

Komisch auf eine gute Art. Keine Mariachi-Trompeten, kein Blitzschlag. Doch er hatte bloß mit den Schultern gezuckt und es akzeptiert. Mr Normalo. Aber was wollte sie mehr? Wenn du die Chance hast, gerettet zu werden, solltest du sie ergreifen. Eine silberne Bibel blitzte am Strand auf. Wie schnell sie ihren Glauben gefunden hatte. Ein Augenaufschlag. Und jetzt hatten sich die Diener wieder in Mäuse zurückverwandelt, und sie saß abermals in rußigen Lumpen am Feuer.

Auf der Treppe blieb Dominic auf halbem Wege stehen. Er stellte sich Alex im Krankenhaus vor, Benjy im Krankenhaus. Wie ein Bissen Fleisch, den er nicht herunterbekam und der das Atmen schwer machte. Seine eigene Angst vor allem, was mit Medizin zu tun hatte, schon die Manschette zum Blutdruckmessen beim Arzt, das Schrappen des Klettverschlusses und die schwarze Gummipumpe schüchterte ihn ein. Vielleicht war sie verheult und am Boden zerstört, aber wann hatte er selbst zuletzt wahrhaftige Freude empfunden? Sie wäre gern nach Neuseeland gezogen, doch auch er konnte denselben Sog spüren, saubere Luft, ein Neuanfang. Und wie weit war er gekommen? Das Leben ist keine Generalprobe. Die zähneknirschende Wahrheit von Kneipenplattitüden. Er musste sie anrufen.

Richard schlief an ihre Schulter gelehnt ein, er zuckte im Schlaf wie ein träumender Hund. Was hatte es mit diesem Haus nur auf sich? Wie es sie alle aus der Bahn warf, sie und Richard, Angela nachts in der Küche, Daisy und Melissa, die erst Feinde waren, dann Freunde und jetzt wieder Feinde, ihr eigenes blödes Geständnis. Diese Kälte, vielleicht waren das unsere eigenen Geister. Vielleicht hasste sie deshalb alte Häuser, weil wir alle frühere Leben haben, die dort aufgewirbelt werden. Als könnte man die Vergangenheit mit Deckenstrahlern und Zierkissen auslöschen. Vielleicht hast du den Falschen geheiratet. Vielleicht konnte er sehen, was sie so lange Zeit versucht hatte, nicht zu sehen, dass sie noch immer das Mädchen mit den Schuhen aus zweiter Hand war, das in der Wohnung in Hanwell über dem schwindelnden Abgrund hing, Autoscooter und Discos und Penny, die im Laden an der Ecke ihren Rock hob, damit sie ein Päckchen John Player Special klauen konnten. Jetzt arbeitete sie in einer Tankstelle, diese merkwürdige Zufallsbegegnung beim letzten Mal. Das Feuer verglühte, doch wenn sie sich bewegte, würde er vielleicht aufwachen, und sie hatte Angst, dass dies das letzte Mal sein könnte, dass sie ihn auf diese Art hielt.

Gerade aßen sie ein improvisiertes Lunch-Buffet, als sie Schritte auf der Treppe hörten. Daisy blieb im Türrahmen stehen und sah beklommen aus. Alex brauchte einige Sekunden, um sich wieder zu erinnern, denn vor fünf Minuten hatte er einem nackten Richard dabei geholfen, sich anzuziehen, was einen Großteil seines Kurzzeitgedächtnisses beanspruchte. Er sah zu Melissa herüber. Scheißlesbe. Er entschloss sich, das hier so offensichtlich wie möglich zu machen. Daisy … Er hob den Arm, sodass sie herüberkam, sich darunter setzte und ihn ihre Schulter drücken ließ. Jetzt schaute er Melissa geradewegs an, und er sah es in ihren Augen, sie wusste, dass er es wusste, Mum auch, Resignation in ihrem Blick. Und es war glorreich und amüsant, seine Eltern und Melissa plötzlich in einem Team zu sehen, am anderen Ende des Feldes, einige Tore im Rückstand. Er wandte sich an Daisy. Was darf ich dir aus unserer edlen Selektion servieren? Doch Daisy sagte: Was um Himmels Willen ist das?

Tolliver, sagte Benjy, denn in der Tischmitte stand die Eule unter ihrer Glasglocke.

Aus dem Schrank auf der Treppe, sagte Dominic in dem Versuch, die Familie wieder zusammenzubringen. Gehört den Besitzern.

Den Besitzern, sagte Daisy. Sie hatte nie über sie nachgedacht und sah sich um, als könne man sie hier irgendwo entdecken.

Alex gab ihr einen Teller mit Käse und Haferpfannkuchen und eine Auswahl an Saucen, und sie saßen nebeneinander und aßen, und ihr strahlendes Miteinander drängte nach und nach alle aus dem Raum außer Benjy. Mum und Dad tätschelten beide Daisys Schulter, bevor sie das Zimmer verließen, als wäre dies eine Totenwache und sie die trauernde Witwe. Dann waren sie verschwunden, und Benjy baute eine Modellbrücke aus Humus und Möhren, also fragte Alex leise: Und hast du dann bald eine Freundin?

Alex. Mein Gott. Das klingt, als würde ich mir einen Toaster kaufen.

Sorry.

Freundin. Dieses lauernde Wort. Sie erinnerte sich an einen eisigen Januarmorgen. Sie kam aus dem Wheelan Centre. Atemwolken und violetter Himmel und die Straßenlaternen gingen gerade an. Sie und Lauren hatten zehn, fünfzehn Sekunden lang Händchen gehalten, länger nicht, jemand war auf dem Gehsteig auf sie zugekommen und sie hatten losgelassen. Wie wenn man sich im Halbschlaf an jemanden kuschelte und dann so tat, als wäre es nie passiert. Lauren. Wir sehen jetzt durch einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse, dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht. Es war nicht einfach, nicht wahr, und ging auch nicht schnell. Die Münze fiel und fiel und fiel.

Jetzt wird die Zeit schnell vorgespult, Lauren öffnet die Tür in einer Straße, die Daisy nicht erkennt. Verheiratet, zwei Kinder, im Hintergrund läuft der Fernseher, ihr Gesicht müde und faltig, aber schön. Wir sind zusammen zur Schule gegangen …? Sind Sie sicher …? Sie dreht sich um und rennt die Straße hinunter und bricht in Tränen aus. Und jetzt weint sie in echt, und Alex streichelt ihr über den Rücken und sagt: Ist schon gut. Benjy sieht auf. Was hat Daisy? Und Alex ist sich wirklich nicht sicher, ob sie weint, weil sie glücklich ist oder unglücklich, denn so langsam verliert er den Überblick. Also steht Benjy von der Bank auf und kommt zu ihnen herüber, setzt sich auf Daisys andere Seite und schließt sie in die Arme und sagt: Daisy-Sandwich, denn das gleiche haben sie mit ihm früher gemacht, wenn er traurig war. Sie drücken und lassen los.

Scheiße, sagt Daisy und wischt sich mit einem herrenlosen Trockentuch die Tränen ab. Verschissene Scheiße.

Sie spielen Karten, essen Toast, gucken sich Die Monster AG an und Richard sagt: Im Grunde gar nicht schlecht, als hätte man der Queen zu Weihnachten ein Handy geschenkt, und alle lachen, weil er plötzlich mehr Spaß versteht. Die karierte Wolldecke, vielleicht, seine benebelte Stimme, die Art, wie sich Louisa um seinen Fuß kümmert. Obwohl es schon merkwürdig ist, denkt Angela. Sie kann sich an die Aufregung erinnern, als sie einen Farbfernseher bekamen, sie erinnert sich an Zeiten, da die Marionetten der Thunderbirds-Serie das Allerneueste in Sachen Animation waren, obwohl man die Fäden sah, die benutzt wurden, um ihre Augenbrauen zu heben, wohingegen heute …? Man kann die animierten Dinosaurier nicht mehr von den echten unterscheiden, wie jemand mal irgendwo gesagt hat.

Melissa versucht, in der Zivilisation anzurufen, doch sie haben den Sendekreis mal wieder verlassen, und als Angela sie zu einer Runde Scrabble herausfordert, ist ihr so gnadenlos langweilig, dass sie einwilligt, und die beiden spielen, als wäre es ein Kampf um Leben und Tod. Krümel. Beguine. Phalanx für 95 Punkte. Benjy und Alex beschwören eine Fantasygeschichte herauf, in der der rothaarige Mann und das Mädchen mit den Drei-Engel-für-Charlie-Haaren lediglich die sterblichen Hüllen für schwabbelige Aliens sind, die sich von Senioren ernähren. Richard hört sich Idomeneo an (Colin Davis, Francisco Araiza, Barbara Hendricks …), Daisy sieht auf die Dracula-Seiten, aber die Worte verschwimmen. Alex liest Andy McNab und Louisa liest Stephen Fry und Dominic geht, um das Abendessen vorzubereiten, und der Regen hört auf und die Welt sieht aus, als käme sie frisch gewartet aus der Werkstatt zurück.

Der gewünschte Gesprächspartner ist zurzeit nicht erreichbar.

Jack. Hey. Hier ist Daisy. Erinnerst du dich noch an mich? Sie ließ den Blick über eine Moräne von Jungssachen schweifen. Ich bin gerade mitten auf einem kleinen Berg an der walisischen Grenze. Wir sind im Urlaub. Hör zu … Sie sah aus dem kleinen Fenster. Benjy stand auf dem Rasen und wurde pitschnass, er machte Ninja-Übungen mit einem Stab, nur dass es keine Ninja-Waffe war, sondern ein Regenschirm, und er war Gene Kelly. Es tut mir wirklich leid. Ich glaube, ich verstehe dich jetzt. Wenn du weißt, was ich meine, dann ruf mich bitte zurück, ja? Es wäre wirklich schön, was von dir zu hören.

Zögerlich denkt Angela an Karen, an den Geburtstag, sie streift das Thema nur, als würde sie einen Elektrozaun mit dem Handrücken berühren, um ihn nicht mit den Fingern zu umschließen. Nichts. Es sind die Fotos von Dad, als wäre da immer eine Lücke gewesen, die sie mit der falschen Person zu füllen versucht hat. Ein Gewicht fällt von ihr ab. Ein wenig ängstlich ist sie noch immer, dass Richard die Fotos vielleicht nicht mehr wiederfindet, dass sie in der Post verloren gehen könnten, dass Dad sich vielleicht umgedreht hat oder irgendwie unscharf sein könnte, dass er sie vielleicht nicht ansieht.

Große Pie-Form, zwei beschichtete Kuchenformen, Idomeneo im Hintergrund (Odo da lunge armonioso suono … Von Weitem höre ich den Wohlklang, der mich an Bord des Schiffes ruft. Ich eile dorthin…) Tomatensauce mit Zwiebeln und Knoblauch, denn sie hatten vor Richards Debakel geschworen, in Abergavenny in jedem Fall bei einem Supermarkt vorbeizufahren, falls sich dort so etwas finden ließ, also hat Dominic angeboten, ein Gericht zuzubereiten, das er mit dem etwas pompösen Namen Olchon Valley Pie bedacht hat und das so ziemlich alles enthalten wird, was sich in Kühlschrank und Küchenregal finden lässt. Pastinaken, Möhren, Spinat, Butterbohnen, Muschelnudeln, Pinienkerne und getrocknete Aprikosen, wobei sich diese beiden letzteren Zutaten als Überraschungshits entpuppen werden. Das alles wird mit Kartoffelbrei überzogen und mit diesem merkwürdigen, unidentifizierbaren Käse, dessen Verpackung verloren gegangen ist. Und als Beilage scheibenweise Saucisson Sec Supérieur à l’ancienne, damit Richard keine Anämie bekommt.

Sprichst du das Tischgebet?, fragte Richard, worauf es plötzlich sehr still wurde. Er sah in die Runde. Melissa grinste. Bin ich irgendwie in ein Fettnäpfchen getreten?

Überhaupt nicht, sagte Daisy und senkte den Kopf. Möge Gott uns wahrhaft dankbar machen für das, was wir erhalten werden. Amen.

Sie setzten sich und Dominic stach den großen, gezahnten Löffel in die Pie und Benjy sagte Ich will ganz viel Käse. Louisa lehnte sich zu Angela herüber und flüsterte Was war das denn?, und Angela sagte Ach, gar nichts.

Doch Daisy sah, wie sich die Münze wieder drehte, denn es war eben kein Fait accompli, man konnte seinen Glauben nicht einfach wieder weglegen. Das war kein Mantel und auch kein Fahrrad, es war eine Sprache, in der man gelernt hatte, zu sprechen und zu denken. Gott sei in meinem Kopf und in meinem Erkennen. Gebete, Glaube, Auferstehung, Trost, wie sollte man die Welt ohne diese Dinge zusammenhalten?

Richard verlagerte vorsichtig sein Gewicht, um die am wenigsten schmerzvolle Sitzposition zu finden, das Nurofen war nicht stark genug, um den Schmerz stumpf zu machen. Er sah über den Tisch hinweg zu Louisa und empfand Demut. War das zu dramatisch ausgedrückt? Er hatte seine Selbstgenügsamkeit immer als eine bewundernswerte Eigenschaft betrachtet, eine Art, sich selbst anderen Menschen nicht aufzudrängen, doch nun verstand er, dass es eine Beleidigung für die Menschen war, die einem nahestanden. Er hatte Louisas Meinungen, ihren Gedanken, ihren Interessen nie genug Aufmerksamkeit gewidmet. Ein Stich der Beschämung. Wenn das zur Gewohnheit wird, wirst du es später sehr schwer im Leben haben.

Daisy schielte seitwärts zu Melissa hinüber, darum bemüht, dass ihre Blicke sich nicht trafen. Hatte sie alles völlig falsch verstanden? Handelte es sich einfach um eine weitere Stufe in ihrer seelischen Entwicklung, ein Test, in dem sie durchgefallen war und den sie nun wiederholen musste? Sie versuchte, ihre Gedanken und Gefühle aufzudröseln, aber da waren einfach zu viele. Der zersplitterte Teller, es war so schwierig, das zerbrochene Muster zu erkennen. Der Nachmittag mit Jack, Melissa, die ihr Höschen herunterzog, um ihr das Vogeltattoo zu zeigen. Sie ist schon ziemlich heiß. Laurens Hand in der Kühle der Morgendämmerung, Bilder, so lebendig, dass sie Angst davor hatte, sie vor ihrem geistigen Auge heraufzubeschwören, da sie fürchtete, sie könnten herauslaufen und für alle sichtbar sein. Gott ist die Burg in meinem Leben.

Ein paar hundert Meter die Straße hoch bekam Dominic Empfang. Er drehte sich um, lehnte sich an einen Zaun und blickte auf das Haus, goldene Fenster schwammen in der aufziehenden Dunkelheit. Er spürte seinen Herzschlag. Wie immer dieses Verlangen, einfach weiterzulaufen, das alles hinter sich zu lassen, über die Berge, auf und davon. Er musste es jetzt tun, je länger er wartete, desto mehr tat es ihr weh. Es tutete sieben Mal, acht. Die Hoffnung, sie würde vielleicht nicht rangehen.

Dom.

Amy.

Ich hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben.

Wir sind in einem Tal. Der Netzempfang ist quasi nicht vorhanden. Unheimlich, dieses befriedigende Gefühl, überzeugend zu lügen. Wie geht es Andrew?

Ganz gut.

Er fühlte sich betrogen. Du hast gesagt, er läge im Krankenhaus.

Wahrscheinlich wird er morgen entlassen.

Ich dachte, er hätte eine Lungenentzündung.

Das dachten die Ärzte auch.

Hatte sie ihn angelogen? Dann würde er sich weniger schlecht fühlen. Hör zu.

Was?

Tu es. Mir ist etwas klar geworden. In den letzten Tagen.

Dom?

Du und ich.

Was soll das heißen?

Das heißt …

Ich liebe dich, Dom. Sie weinte.

Sie liebte ihn nicht, oder? Sie brauchte ihn, das war alles, brauchte irgendjemanden. Das war nicht sein Job.

Tu mir das nicht an, Dom.

Die Art, wie sie seinen Namen sagte, wie ein Kind, das an seinem Ärmel zog, sie erdrückte ihn. Wie ließ sich das erklären? Plötzliche Wut darüber, wie sie ihre Schwäche ausnutzte, um ihn zu manipulieren.

Dom?

Ich habe aus allem einen Scherbenhaufen gemacht. Eigentlich hatte er ihr etwas vorspielen wollen, doch er war ungewollt auf die Wahrheit gestoßen. Ich muss aufhören, davonzulaufen. Ein Ballon, der sich in ihm aufblies und immer größer wurde. Vor dem Arbeiten, meiner Verantwortung, vor Angela, vor Daisy, vor Alex, vor Benjy, vor meinem Job. Warum hatte er das nicht schon früher getan?

Ich weiß nicht, was ich ohne dich tun würde. War das echt? Oder machte sie die Pferde scheu? Du verlässt mich?

Er ließ dies in der Luft hängen. Er fühlte sich fies und edel zugleich, dabei machten Menschen das andauernd, andere für das Allgemeinwohl zu verletzen. Kollateralschaden.

Und du machst es über das Scheißtelefon?

Die Wut in ihrer Stimme gab ihm neuen Antrieb. Willst du, dass ich dich jetzt anlüge und es dir bei unserem nächsten Treffen ins Gesicht sage?

Ich will, dass du mich nicht wie den letzten Dreck behandelst.

Der japanische Lampion, ihre kleinen Brüste, die Art, wie ihre Hüftknochen hervorstachen, wenn sie auf dem Rücken lag. Plötzlich wollte er sie. Was, wenn er seinen Vorteil ausnutzte und die Beziehung zu günstigeren Konditionen wiederbelebte?

Ich werde nicht zulassen, dass du mir das antust, Dom.

Die Leitung war tot, und die große Stille flutete hinein. Das Farbdisplay schwebte in der Dunkelheit und erlosch. Sie hatte ihn ausgespielt. Es ärgerte ihn, dass sie es geschafft hatte, das letzte Wort zu haben und gleichzeitig fürchtete er, dass es vielleicht nicht das letzte gewesen war. Er hatte vorher nie darüber nachgedacht, was sie ihm antun könnte, oder seiner Familie. Er steckte das Handy ein und wandte sich dem Berg zu. Er sah aus wie eine monumentale Welle absoluter Dunkelheit, die kurz davor war, ihn zu überrollen.

Nach der Sache mit dem Joint und der Sache mit Richard und der Sache mit dem Kuss schien ihr dies ein geeigneter Moment, um die Wogen zu glätten, also bot sie Mum an, beim Abwasch zu helfen, und während sie bei den Gläsern waren, sagte sie: Weißt du schon das Neueste?

Ich bin mir nicht sicher, ob ich es hören will.

Daisy ist lesbisch.

Okay …, sagte Louisa vorsichtig. Genau davor hatte sie Angst. Dass es Melissa so gut gelang, einen auf dem falschen Fuß zu erwischen. Die Hüterin und Verwalterin von Geheimnissen.

Sie hat versucht, mich zu küssen.

Melissa war eine zu gute Lügnerin, als dass sie riskieren würde, sich etwas so Verrücktes auszudenken.

Als wir spazieren gegangen sind. Sie nahm das Trockentuch von der Leiste des AGA-Herdes und faltete es adrett auf ein Achtel seiner ursprünglichen Größe.

Ich habe gesagt, dass das nicht mein Ding ist.

Es war ein Friedensangebot, die frisch erlegte Beute, die sie zurück zur Höhle brachte. Louisa wollte mit dieser Geschichte nichts zu tun haben, doch sie war zu verlockend, um sie einfach fallen zu lassen.

Ich dachte, sie sei Christin.

Ich könnte mir vorstellen, dass ihr genau das gerade ein bisschen Kopfschmerzen bereitet.

Dann zählte Louisa eins und eins zusammen. Die Mädchen verstanden sich, dann verstanden sie sich nicht mehr. Warst du deshalb etwa fies zu ihr?

Ich mache mir nur Sorgen um sie, das ist alles. Allmählich fand sie ihr Gleichgewicht wieder.

Danach habe ich dich nicht gefragt.

Wie gesagt, ich habe ihr nur gesteckt, dass das nicht mein Ding ist.

Danach auch nicht.

Warum musst du immer mir die Schuld an allem geben? Warum bin ich immer die, die etwas falsch gemacht hat? Melissa drehte sich um und stürmte aus der Küche.

Morgen würde Louisa einen Weg finden, um mit Daisy zu reden, sich für ihre Tochter zu entschuldigen, was auch immer diese zu ihr gesagt hätte.

Erzähl mir von den Fotos. Angela lehnte sich über den Tisch und goss Richard ein neues Glas ein, denn der Cabernet Shiraz schlug endlich an, schaffte das, was das Neurofen nicht vermocht hatte.

Es sind Polaroids. Ist das das richtige Wort? Die, die man schütteln muss?

Beschreib sie mir. Das klang verrückt. Aber hier ging es um ihren Vater.

Okay. Also … Richard strich sich über die Mundwinkel und sah an ihr vorbei, als hingen die Fotos hinter ihr als Poster an der Wand. Das eine muss im Urlaub gemacht worden sein. Er steht vor einem Pillbox-Bunker in den Dünen. Normandie 1968, denke ich, oder vielleicht die Scilly-Inseln ein paar Jahre später.

Wieder einmal ist sie fassungslos über die gestochen scharfen Erinnerungen ihres Bruders. Aber er, wie sieht er aus?

Er trägt so ein Karohemd, schmale braune Streifen auf beigefarbenem Grund. Es macht ihm Spaß. Sie haben dreißig Sekunden, um sich die Gegenstände auf dem Tablett zu merken. Die Ärmel sind hochgerollt, er raucht, eigentlich raucht er auf allen drei Bildern. Gott weiß, wie lange er noch gelebt hätte, wenn der Hodenkrebs ihn nicht erwischt hätte.

Seine Lockerheit nagt an ihr, doch sie weiß, dass sie gerade durch starke Strömungen navigieren und sie den richtigen Kurs beibehalten muss.

Nummer zwei. Er lehnt auf der Motorhaube unseres Autos, einem grünen Hillman Avenger, mit dem langen Kühlergrill und den viereckigen Scheinwerfen links und rechts. Es sieht so aus, als hätte er ihn gerade poliert. Ich glaube, auf dem Dach liegt ein Putzlappen. Er trägt ein weißes, kurzärmliges Hemd.

Erzähl mir von ihm. Nicht von seiner Kleidung, von ihm.

Etwas an ihrer Anspannung ist unheimlich. Erinnerst du dich wirklich nicht?

Erzähl es mir einfach.

Volles schwarzes Haar, Koteletten, ein großer Mann, großer Bizeps. Hieran hat er keine Freude. Er beschwört seinen Vater etwas zu überzeugend herauf. Rostiges Metall und schiere Masse und Gischt. Blut in seinen Haaren. Er fragt sich, ob es gar nicht die Möwe war, er fragt sich, ob es nicht sein Vater gewesen ist, der ihn geschlagen hat, ob er sich falsch erinnert. Warum willst du das alles unbedingt wissen?

Er ist mein Vater. War das nicht offensichtlich? Wenn ich diejenige gewesen wäre, die die Fotos besaß, und du sie nie zu Gesicht bekommen hättest, wärest du nicht neugierig gewesen?

Nein, ich glaube nicht.

Warum nicht?

Weil er kein sehr netter Mensch gewesen ist.

Sie schüttelt ihren Kopf. Nicht, weil sie anderer Meinung wäre, sondern aus Fassungslosigkeit.

Erinnerst du dich wirklich nicht?

Sie versucht, eine Lösung zu finden, die es ihnen erlaubt, auf diplomatische Weise unterschiedlicher Meinung zu sein. Wir alle blicken zurück und sehen Dinge auf verschiedene Art und Weise. Sie sagt es ganz ruhig, beinahe amüsiert, als wäre er derjenige, der sich beruhigen muss. Erinnerst du dich nicht daran, dass er uns verprügelt hat?

Damals haben alle ihre Kinder geschlagen. Obwohl sie sich nicht sicher ist, was genau Richard mit verprügelt meint.

Ich erinnere mich daran, wie du dich einmal im Auto übergeben hast. Es war Sommer, und wir sind nach Hunstanton gefahren. Du hast ihn die ganze Zeit gebeten, irgendwo anzuhalten, aber er hat sich wie immer geweigert. Also hast du dich erbrochen, und dann ist er ausgerastet und hat dich aus dem Auto gezerrt und dich übers Knie gelegt und dir auf die Beine geschlagen. Er war so wütend, er hat einfach immer weiter geschlagen. Die Erinnerung macht ihm mehr zu schaffen, als er es gedacht hätte.

Warum tust du das? Warum versuchst du, mir das kaputt zu machen?

Weil du krank bist. Der Gedanke plötzlich klar und scharf. Er lenkt ein. Ich glaube, du hattest auch Angst vor ihm. Deshalb hast du es vergessen.

Dad war kein Monster.

Ich habe nicht gesagt, dass er ein Monster war.

Was zur Hölle willst du denn dann sagen?

Dass er oft wütend geworden ist. Dass er sich nicht sonderlich um andere Menschen gekümmert hat. Ich will sagen, dass er nicht wusste, wie man mit Kindern umgeht. Und ich hatte Angst vor ihm, und deshalb sehe ich mir die Bilder nicht gerade gerne an, weil sie mich daran erinnern, wie sich das angefühlt hat.

Ist es das, was Mum dir erzählt hat? Ist das ihre Version?

Ich kann mich nicht erinnern, dass Mum auch nur ein einziges Wort über ihn verloren hätte, nachdem er tot war. Die Trauerarbeit, 1970. Er fragt sich, ob er den Arm ausstrecken und Angelas Hand nehmen sollte, aber er ist in der Beurteilung dieser Dinge nicht gut.

Du und Mum, ihr habt Dad im Krankenhaus besucht, am Tag, bevor er gestorben ist. Ich durfte nicht mit. Ich habe euch dafür gehasst. Ich hatte diesen wiederkehrenden Traum, dass ihr beide ihn getötet habt. Sie versucht, das Ganze wie einen Witz klingen zu lassen, doch es gelingt ihr nicht, weil sie den Traum noch heute manchmal träumt.

Du wolltest nicht mit.

Was?

Warum um Himmels Willen solltest du denn nicht mitgedurft haben?

Weil Mum so war, weil sie Leute gerne manipuliert hat, weil sie nie wollte, dass andere Menschen glücklich sind.

Nach seinem Tod, nachdem sie angefangen hatte zu trinken, als ihr klar wurde, dass sie ihr Leben wegkippte, ab da hat sie Leute manipuliert. Er machte eine Pause und sammelte sich. Ich glaube, das war die einzige Art von Macht, die ihr noch blieb.

Warum soll ich nicht mitgewollt haben? Er war mein Vater.

Er zuckt mit den Schultern. Ihm ist noch immer nicht ganz klar, warum ihr das so wichtig ist. Ich denke, die Frage ist vielmehr, warum ich mitwollte. Er sucht nach einem Weg, es auszusprechen, ohne vorwurfsvoll zu klingen. Warum sollte jemand seinen Vater sterben sehen wollen? Ich …? Ich weiß nicht, vielleicht hat schon damals ein Arzt in mir geschlummert. Er fragt sich, ob er im tiefsten Innern damals tatsächlich wollte, dass sein Vater starb, ob er mitkam, um sicherzugehen, dass es tatsächlich passierte, um auf Nimmerwiedersehen zu sagen, um sicherzugehen, dass er niemals wiederkam.

Stopp. Warte. Das ist alles zu viel.

Es tut mir leid. Er hebt beide Hände.

Sie will, dass er unrecht hat, doch er denkt sich das alles nicht aus, oder? Er hat keinen Grund mehr für böses Blut, und sie hat nur ihre eigene Geschichte, die sie gegen seine abwägen muss. Ungeschickt steht sie auf. Ich brauche jetzt etwas Zeit allein.

Auf dem Weg nach oben fühlen sich ihre Beine schwach an. Ist Dominic noch immer spazieren? Das Zimmer ist leer. Sie setzt sich auf die Bettkante. Wieder diese Leere. Welches Jahr haben wir? Diese Frau im Zug, rotes Brillenband, Altersflecken. Ich kann nicht … Dad, der sie auf dem Rastplatz schlug, ein Bild, das sich langsam auf der grauen Oberfläche des geschüttelten Fotos formte. Wenn ihre Erinnerung falsch ist, trügt dann auch ihre Gegenwart? Ihr Vater verschwindet wieder. Der leere Türrahmen. Schilf und Schleim. Eine andere Figur taucht in dem dunklen Rechteck auf. Wird in Wellen deutlicher. Ein hohes Summen. Karen. Sie hat sie betrogen, hat sie vergessen, sie weggleiten lassen. Ein regenbogenfarbiger Windschutz, sie streicht sich die Haare aus dem Gesicht. Sie lacht, aber es ist kein gütiges Lachen. Ihr Geburtstag. Morgen. In all der Aufregung um die Fotos hat Angela es vergessen. Dafür wird sie büßen müssen.

Wie geht es dir?

Richard saß mit Antony Beevors Stalingrad im Schoß aufrecht im Bett. Besser. Viel besser. Er hätte leichtere Kost zum Lesen mitbringen sollen, obwohl Mittelmaß seiner Erfahrung nach anstrengender zu lesen war, so als hörte man jemandem zu, der ein Instrument nicht beherrschte.

Sie setzte sich aufs Bett und nahm ihre Ohrringe heraus, indem sie ihren Kopf zuerst nach links, dann nach rechts neigte.

Ich mache mir Sorgen um Angela.

Das habe ich dir gar nicht erzählt. Sie legte die Ohrringe vorsichtig zu den anderen in die glänzende, mit indischen Mustern verzierte Schatulle. Elefanten und Jasmin. Ich habe sie neulich nachts in der Küche gefunden.

Gefunden inwiefern?

Sie stand im Dunkeln und hat eine Schüssel Cornflakes gegessen.

Warum hast du mir nichts davon gesagt?

Weil ich sauer auf dich war und nicht dachte, dass Angela wollen würde, dass ich es überall herumerzähle.

Er legte das Stalingrad-Buch weg. Bist du immer noch sauer auf mich?

Als du gesagt hast, das hier sei kein verbindlicher Vertrag …

Ich schätze dich nicht genug.

Ist das irgendein mieser Schleichweg, um mir zu sagen, dass du mich nicht liebst?

Ich glaube … Er hievte sich noch etwas höher im Bett. Ich glaube, es ist eher ein mieser Schleichweg, um dir zu sagen, dass ich nicht gerade stolz auf mein Verhalten bin.

Richard …

Warte. Unten schlug die Haustür ins Schloss. Dominic kehrte von seinem nächtlichen Streifzug zurück. Als du mich gefragt hast, ob ich dich liebe oder nicht …

Stopp. Hör zu. Bist du gerne mit mir zusammen?

Ja.

Willst du, dass ich glücklich bin?

Sogar sehr.

Findest du mich attraktiv?

Ich denke, die Antwort darauf kennst du.

Was würdest du tun, wenn ich dich verließe und du alleine wärst?

Ich würde vermutlich zusammenbrechen, vielleicht nicht sofort, aber …

Würdest du dein Leben für mich riskieren?

Ich würde mein Leben für viele Menschen riskieren. Für ein kleines Kind, das auf die Straße rennt, für eine ertrinkende Frau im Fluss. Ich korrigiere. Ich denke, ich würde mein Leben für dich geben. Wenn die Frage wäre, du oder ich. Rettungsboot, brennendes Gebäude. Über so etwas hatte er zuvor nie nachgedacht.

Wow, Richard. Wenn das nicht Liebe ist… Sie klang ehrlich erbost.

Ich habe noch nie jemanden wirklich geliebt und bin auch nicht geliebt worden, wenn ich genauer darüber nachdenke, als Erwachsene meine ich. Er blickte auf seine Hände, als ergäben die Notizen in seiner Handfläche keinen Sinn mehr. Mein Gott, das war jetzt Gefühlsduselei vom Feinsten, was? Ach so, was die anderen Männer betrifft. Darf ich wenigstens ein bisschen eifersüchtig sein?

Die waren furchtbar und mit denen ging es mir hundsmiserabel. Sie legte ihren Kopf in seinen Schoß. Übrigens, Daisy ist offenbar lesbisch.

Er sah an die Decke. Plötzlich war er todmüde. Das wirst du mir morgen früh noch einmal sagen müssen.

Daisy will natürlich glücklich sein, irgendwo hingehören, geliebt werden, doch vor allem will sie, dass ihr Leben irgendeine feste Form hat, statt wie eine Flipperkugel von einer Zufälligkeit zur nächsten zu schnellen. Es kann auch eine Tragödie daraus werden, solange sie nur sagen kann: Ich verstehe jetzt, was es bedeutet. Ich weiß, wer ich bin.

Hat sie die Wahrheit entdeckt, oder hat sie sich verlaufen? Was wird in der Kirche passieren, in der Schule, zu Hause? Jack hat nicht zurückgerufen, und sie weiß nicht, was das bedeutet. Sie hat keine Ahnung, wie Mum und Dad wirklich darüber denken, hat keine Ahnung, wenn sie ehrlich ist, wie sie selbst darüber denkt und fühlt, abgesehen von einer Sehnsucht, die so stark und namenlos ist, dass sie nicht weiß, ob sie sich nach einer Freundin sehnt oder nach Gott oder einfach nach all den kleinen, alltäglichen Problemen, die ihr nun, im Nachhinein, wie ein Segen vorkommen. Sie kann nicht lesen, kann sich noch nicht einmal hinlegen, also läuft sie auf und ab, mal starrt sie aus dem Fenster in die Dunkelheit, mal hockt sie sich in eine Zimmerecke, mal setzt sie sich auf den Stuhl und wiegt sich sachte vor und zurück. Täusche dich nicht, das hier ist kein Ort.

Benjy lag eine Weile wach und betrachtete den Lampenschirm, eine beigefarbene, umgekehrte Pyramide. Sie erinnerte ihn an einen Film, in dem jemand in einen Operationssaal geschoben wurde und die Kamera aus der Patientenperspektive auf die Decke gerichtet war. Was ihn wiederum an den Dad von Carly aus der Schule denken ließ, der einen Herzinfarkt gehabt hatte, weshalb er als Nächstes an Grannys Beerdigung dachte und Angst bekam, dass er wieder einen dieser Träume haben würde, der nicht bloß ein Traum war. Er sah auf die Uhr. 11:30 Uhr. Vielleicht waren Mum und Dad noch wach. Er ging hinaus auf den Korridor, lief zum Treppenabsatz, blickte über das Geländer und sah, dass im Wohnzimmer noch Licht brannte. Als er jedoch hinunterging und in der Diele stand, hörte er niemanden. Mum…? Dad…? Er hatte Angst, die Schwelle zu übertreten, falls jemand hinter der Tür stand und den Atem anhielt.

Er wollte sich schon umdrehen und leise wieder hochgehen, als er ein Piepsen hörte und in der Tasche einer der Jacken, die neben der Tür hingen, kurz etwas aufleuchtete. Er erschrak zunächst, doch es war nur eine SMS, die auf einem der Handys eingegangen war und dadurch erschien das Haus moderner und alltäglicher. Das Handy steckte in Dads Jacke. Mum erlaubte ihm manchmal, die Spiele auf ihrem Handy zu spielen, auf Dads durfte er das nie. Also dachte er sich eine Geschichte aus, in der Dad eine wichtige Nachricht von jemandem erhielt, der in großer Gefahr schwebte und dringend Hilfe brauchte. Er würde sich die Nachricht ansehen und dann Dad das Handy hochbringen, und sein Vater wäre zunächst wütend und schließlich sehr dankbar. Er zögerte neben den Jacken und lauschte noch einmal auf die Stille. Wenn es sich nicht um einen Hilferuf handelte, könnte er das Handy einfach zurückstecken und niemand würde je davon erfahren. Er griff in die Tasche und zog es raus. Er wollte ein eigenes Handy haben, nicht, um zu telefonieren, sondern weil es sich so richtig anfühlte, wenn man es in der Hand hielt, wie eine Pistole oder ein Dolch. Er drückte die Menütaste, und das Display leuchtete auf. Der Hintergrund war ein Foto von ihm und Daisy und Alex an diesem großen, steinigen Strand bei Blakeney und in der Mitte des Bildschirms stand in einem kleinen blauen Kästchen Neue Nachricht. Er tippte es an. Blakeney verschwand und die Nachricht lautete: Ruf mich an ich halte das nicht mehr aus Amy , und er wusste nicht, ob dies ein Hilferuf oder ein Geheimnis war, er wusste nur, dass er etwas sehr Schlimmes getan hatte.