Daisy machte sich eine Tasse Tee mit Zucker und lief in Mantel und Schal hinaus, um die Sonne aufgehen zu sehen. Eine riesige Lichtwippe balancierte auf dem Black Hill, auf der einen Seite ging die Sonne auf, auf der anderen Seite glitt das Licht Offas Deich hinunter und veränderte dabei stetig seine Farbe. Sie bekam die Schönheit nicht zu fassen. Die Welt war so weit weg, und der Kopf sagte immer nur Ich, ich, ich. Belanglose Sorgen stiegen in ihr auf und gaben keine Ruhe: Benjy war so distanziert, Mum ständig wütend auf sie, und dann das furchtbare Graffito in der Umkleidekabine in der Schule. Doch das Tal … war das nicht unglaublich? Sieh doch, musste man sich selbst sagen, sieh.

In Wahrheit hatte sie nicht schlafen können. Sie hatte es mit der Lektüre von Dracula versucht, doch was bei Tageslicht lächerlich klang, war bei Nacht eine Doku. Sie fühlte sich so verloren. Alle sagten, dass man sich mit sechzehn veränderte, und Veränderungen waren schwierig. Aber das hier war nicht normal, es kam völlig überraschend, die unumstößliche Überzeugung, dass sie äußerlich wie ein menschliches Wesen aussah, obwohl nichts in ihr war, außer Schleim und Kreisläufe.

Vor achtzehn Monaten war sie ganz zufällig mit Wendy Rogan ins Gespräch gekommen, der Hilfslehrerin für Naturwissenschaften. Sie erinnert sich nicht mehr, warum. Vielleicht war es Schicksal. Wendy hatte vorgeschlagen, nach der Schule einen Kaffee trinken zu gehen, und dann hatte Wendy ihr zugehört wie niemand je zuvor, nicht ihre Freunde, nicht Mum und Dad. Am nächsten Wochenende hatten sie in Wendys Wohnung miteinander zu Abend gegessen, als die Lehrerin ihr vorschlug, ein Video zu gucken. Für einige fürchterliche Sekunden dachte Daisy, es wäre vielleicht etwas Pornografisches und als sich herausstellte, dass es sich um ein Promo-Video für den Alpha-Kurs handelte, war sie froh gewesen. Ein Fußballer schoss ein Tor, ein Model stolzierte über den Laufsteg, ein Bergsteiger erklomm einen Felsvorsprung, dann drehten sie sich jeweils zur Kamera und sagten: Hat das Leben mehr zu bieten als das hier? Weichzeichner und Soft Rock. Sie fühlte sich überrumpelt und gedemütigt.

Eine Woche später fiel ihr ein, warum ihr der Bergsteiger bekannt vorgekommen war. Es war Bear Grylls, der Typ, den Alex so toll fand, der den Everest bestieg und Maden aß und im Fernsehen seinen Urin trank. Sie googelte ihn und erwischte sich dabei, wie sie mit einer Mischung aus Faszination und Abscheu ein Video auf YouTube ansah, in dem er auf einer Tropeninsel festsaß. Wenn du die Chance hast, gerettet zu werden, solltest du sie ergreifen. Er schwang sich Lianen entlang und schwamm durch die Bucht, machte ein Feuer am Strand und erregte schließlich mit dem silbernen Kreuz vorne auf seiner Bibel die Aufmerksamkeit des Hubschraubers. Es war lächerlich. Doch sie weinte.

Nun war das Tal beinah lichtüberflutet, der Tau trocknete, alles wurde in ihrer Abwesenheit gereinigt. Melissa hasste sie. Das war irgendwie beruhigend. Nichts zu verlieren. Keine Möglichkeit der Selbstzufriedenheit.

Habt Geduld, hatte David gesagt. Der Heilige Geist wird kommen. Und da war eine Wärme in diesem Raum, die sie nirgendwo sonst spürte, die sich erhebenden Stimmen richteten sie auf, doch der Heilige Geist war nicht gekommen, nur die ewigen Salven der Stimme: Ich bin intelligenter als diese Leute. Genau darin bestand natürlich der Test, ständiger Druck auf deinen Schwachpunkt. Glauben ist das Vertrauen ins Unmögliche. Natürlich wirkte das nach außen hin lächerlich. Jesus liebt dich, Bitch. In das Metall des Schulspinds geritzt, damit man es nicht abwaschen konnte.

Plötzlich war da ein Fuchs. Orangefarben, nicht das dreckige Braun der Londoner Füchse. Er trottete durch das Gartentor, selbstsicher und gebieterisch wie der Geist eines früheren Besitzers. Zwei verschiedene Zeitalter flossen durch den Garten. Der Fuchs blieb stehen. Hatte er sie gesehen? Gewittert? Sie hielt die Luft an. Das Loch zwischen ihr und der Welt schloss sich. Sie war das Gras, sie war das Sonnenlicht, sie war der Fuchs. Dann fragte sie sich, ob dies eine Art Zeichen war, doch plötzlich war der Spuk vorbei, der Fuchs verschwand hinter der Rückseite des Hauses, und sie zitterte.

Dominic steht mit geschlossenen Augen unter der Dusche, Wasser rieselt auf seinen Kopf. Verrückt, so spät in der Geschichte der Menschheit am Leben zu sein. Minenarbeiter in ihren Waschzubern, ein Kessel auf den Kohlen, Königin Elisabeth I., die nur drei Bäder im Jahr genommen hat. Doch in den Ferien war die Dusche nie heiß genug oder der Strahl nicht stark genug, nicht wahr. Diese blöde Plastikbox. Weiter unten im Flur hat Benjy im zweiten Level von Captain Brickbeard alle Teile des Minikits gesammelt und bekommt den Zauberer, während Melissa durch die turbulenten Regionen des Halbschlafes schwebt, ein Teil von ihr noch immer in der Grundschule, alles in Zeitlupe, ein Tiger, der ganz langsam um die Pulte schleicht. Balken knacken und Rohre rütteln, während das Haus zum Leben erwacht. Ein Trippeln unterm Dach, derselbe Hund in der Ferne. Alex pinkelt lautstark. Das Surren einer elektrischen Zahnbürste. Ein junger Hahn. Daisy schüttet sich eine Portion Knuspermüsli in eine Schüssel.

Nahe der Eingangstür saß Alex auf den Fliesen und schnürte seine Sportschuhe, dann dehnte er seine Oberschenkel, indem er sich gegen die efeubedeckte Fensterbank lehnte. Ein entfernter Hauch von Dünger in der hellen, feuchten Luft. Er stellte seine Stoppuhr und joggte den Feldweg entlang bis zur Hauptstraße, die Kieselsteine knackten und rutschten unter seinen Schuhen. Er liebte die wilde Natur, fühlte sich zwischen Seen und Bergen auf eine Art beheimatet, die er weder zu Hause noch in der Schule empfand. Häufig stiegen er und Jamie am Wochenende in den Transit von Jamies Bruder, die Mountainbikes im Kofferraum, das Kanu auf dem Dach, und Josh fuhr sie in die South Downs, nach Pembrokeshire oder Snowdonia. Du baust dein Zelt in der Dunkelheit auf und erwachst in diesem Iglu-Leuchten. Er kletterte über den Zaunübertritt und begann den langen, mühsamen Weg nach Red Darren. Manchmal fragten ihn Dominic und Daisy danach, und wenn es nach ihnen ging, war sein Unvermögen, darüber zu berichten, ein Beweis für sein Unvermögen zu fühlen, aber auf dem Llyn-Gwynant-See, auf dem Nine-Barrow-Down-Hügel, überkam ihn eine Art wachsender Zufriedenheit, nach der die beiden sich sehnten, die sie jedoch niemals ganz erreichten, und die Tatsache, dass Alex es nicht erklären konnte, dass es jenseits von Worten war, war Teil des Geheimnisses.

Weil du dich sonst verbrennst. Angela gab ihm zwei Eier. Gib sie vorsichtig in die Schüssel.

Was wäre, wenn du und Dad gleichzeitig tot wärt?

Was wäre dir in dem Fall am liebsten?

Ich würde zu Pavel ziehen.

Das müsste ich erst mit Pavels Mutter absprechen.

Aber was wäre mit meinem Spielzeug?

Sie gab ihm eine Gabel. Das würdest du mitnehmen. Sie dachte daran, wie klein das Haus war, in dem Pavel lebte. Und jetzt tust du etwas Milch rein und verrührst es.

Und der Fernseher?

Hat Pavel nicht schon einen Fernseher?

Ja, aber was wäre mit unserem Fernseher? Er war kurz vor einem Tränenausbruch.

Den kannst du haben.

Ich hab’s mir überlegt. Ich will doch bei Daisy leben. Etwas in ihm brach und er unterdrückte sein Schluchzen.

Sie drehte das Gas runter und nahm ihn in die Arme.

Benjamin weinte, und Richard wollte nicht stören, also goss er sich eine Tasse Kaffee ein und ging nach draußen, wo er auf Alex stieß, der auf dem Rasen Liegestütze machte, richtige Liegestütze, Knie und Rücken gestreckt, Ellenbogen durchgedrückt, mit der Nase bis auf den Rasen, ein großer Schweißadler auf seinem Rücken. Deltoideus, Teres major, Rotatorenmanschette. Er hielt sich noch immer für sportbegeistert, Cross-Country-Läufe in der Schule, 400-Meter im College, doch im letzten Jahr hatte er allenfalls mit Gerhardt ein paar Runden Squash gespielt und war zwei Wochen lang mit dem Fahrrad zur Arbeit gefahren, nachdem das Auto geklaut worden war. Alex stand auf. Vielleicht sollte ich auch mal eine Runde drehen.

Alex stellte einen Fuß auf die Bank, um seinen Schuh aufzumachen. Ist ein ziemlich steiler Berg.

Mit ihrem Kumpel Jack hätte Daisy es fast getan. Sie war sich nie sicher gewesen, ob sie zusammen waren oder nicht. Er trug drei Ohrringe, hielt eine Schlange als Haustier und es gab eine unsichtbare Grenze, die nur Daisy passieren durfte. Sie hatten zwei große Gläser eines gruseligen, grünen Schnapses getrunken, den sein Vater aus Italien mitgebracht hatte. Er hatte eine Hand unter das Bündchen ihrer Unterhose geschoben, und ihr war plötzlich aufgefallen, wie eckig er war, Knochen und Kanten, aber sie würde ihn machen lassen, weil ihr keine Alternative einfiel, weil das die Tür war, durch die jeder hindurchgehen musste. Mit diesem Gedanken kam eine quälende Panik. Sie wollte nicht durch diese Tür, wollte nicht so sein wie alle anderen. Da kriegte sie keine Luft mehr und schob ihn weg, und er schien hauptsächlich erleichtert zu sein, doch das gerade noch abgewendete Unglück hatte sie beide so aufgewühlt, dass sie die Flasche leer tranken und ihre Beschämung von der Erinnerung an einen so legendär schlimmen Kater überdeckt wurde, dass sie später regelmäßig auf Partys von ihm erzählten. Sechs Monate lang waren sie beste Freunde, dann hatte sich Daisy der Kirche angeschlossen, und er nannte sie eine Scheißverräterin und verschwand aus ihrem Leben.

Alex wollte Richard nicht demütigen. Es war vielmehr ein Aufbegehren gegen dessen Freundlichkeit, bei der er oft nicht den richtigen Ton traf. Eigentlich hatte er seinen Onkel immer bewundert, und Angelas Beschwerden für ungerecht gehalten. Vielleicht war Bewunderung nicht das richtige Wort, er hatte sich ihm genetisch verbunden gefühlt. Er erkannte sich selbst kein Stück in seinen Eltern wieder, Mums Geistesabwesenheit, wenn sie sich gehen ließ, das Selbstmitleid seines Vaters, wenn er das Haus putzte, einkaufen ging und Benjys Schul-Shuttle spielte, als wäre es die natürlichste Sache der Welt. Immer wenn er von Freunden besucht wurde, schämte Alex sich für diese Aura der Resignation, die seine Eltern verströmten, und ein Teil der Anziehungskraft von Bergen und Seen bestand für ihn darin, dass sie weit weg von den beiden waren. Diese Art jedoch, wie Richard sich gab, so effizient und selbstbeherrscht …

Warum hast du das gestern Abend gemacht?, fragte Angela.

Was?

Ein Tischgebet gesprochen. Es war allen unangenehm.

Ich denke, wir sollten mehr Dankbarkeit für die Dinge zeigen, die wir haben.

Ich denke, wir sollten mehr Rücksicht auf die Gefühle anderer Menschen nehmen.

Du meinst so, wie du Rücksicht auf meine Gefühle nimmst?

Nicht in diesem Ton.

Wie denn sonst? Soll ich still sein und tun, was du sagst?

Du wolltest im Mittelpunkt stehen und hast über die Köpfe der anderen weg entschieden. Mir persönlich ist es egal, woran du glaubst …

Das ist doch Quatsch. Du hasst, woran ich persönlich glaube.

Es ist mir egal, woran du persönlich glaubst, aber ich finde es falsch, wenn du es anderen Menschen aufzwingst.

Du bist einfach nur neidisch, weil ich glücklich bin.

Ich bin nicht neidisch, Daisy. Und du bist nicht glücklich.

Tja, vielleicht bist du einfach nur keine Expertin, wenn es um meine wahren Gefühle geht.

Wir kaufen ein paar gebrauchte Bücher, sagte Richard. Essen etwas zu Mittag. Und auf dem Rückweg machen wir irgendwo einen Spaziergang.

Wow, sagte Melissa, klingt nach einer Menge Spaß.

Dann ist heute dein Glückstag. Er behielt sein Pokerface. Es passen nur sieben Leute ins Auto.

Ein Glück.

Ist es okay, wenn du alleine hierbleibst?, fragte Louisa.

Melissa neigte den Kopf zur Seite und verdrehte die Augen.

Lord Hereford hatte einen Pferdeschwanz, rief Benjy und brach in Gelächter aus.

Keine Sorge, irgendwann wird er damit aufhören.

Ich bleibe auch hier, sagte Dominic. Falls das okay ist.

Für einen Augenblick fragte sich Angela, ob er eine Liaison mit Melissa plante, und wollte sich schon darüber lustig machen, als ihr plötzlich klar wurde, wie geschmacklos und merkwürdig so ein Kommentar wäre.

Melissa kam gerade die Treppe hoch, als Alex das Badezimmer verließ, ein himmelblaues Handtuch um die Hüfte gewickelt. Trainingsmüdigkeit. Er erinnerte sie an einen Tiger, dieser anziehende, muskulöse Gang. Blonde Haare formten ein V in seinem Kreuz. Sie wollte ihn berühren. Das Gefühl machte ihr Angst, wie es ohne Vorwarnung aufkam, dieser Hunger des Körpers. Denn sie liebte die Spielchen, die Spannung in der Luft, während der Akt selbst sie irgendwie anwiderte, André, der die Augen verdrehte, als hätte er einen epileptischen Anfall, das schleimige Kondom auf dem Boden, wie ein Stück Mäuseinnereien. Alex drehte sich um und sah sie an. Ahoi, Matrose.

Dominic saß neben Angela auf der Bank. Auf der Wiese lagen Brotkrumen verteilt, einige Spatzen pickten in Gegenwart eines anderen Vogels nach ihnen, den Dominic nicht kannte. Es wird uns gut tun, denke ich. Hier zu sein.

Es ist wirklich schön hier.

Das meinte ich nicht.

Ich weiß.

Sie hatten alle Varianten dieses Scheingesprächs schon so viele Male durchexerziert, dass es keinerlei Bedeutung mehr hatte, wie Bemerkungen über das Wetter. Sie waren nicht einmal mehr Freunde, sie hatten einfach nur dieselben Kinder. Er wollte ihr von Amy erzählen, wollte den Druck auf seiner Brust loswerden, denn er bekam allmählich Angst, hatte angefangen, die ausgefransten Vorhänge in Amys Haus zu bemerken und die Dringlichkeit in ihrer Stimme. Anfangs hatte er angenommen, dass es sich einfach nur um eine Ablenkung von den Leben handelte, die sie woanders lebten, doch für sie war es keine Ablenkung, oder? Es war ihr Leben, das schummrige Schlafzimmer am Nachmittag, und die Geheimtür war in Wahrheit der Eingang zu einer dunkleren, schmutzigeren Welt, aus der er nicht herauskommen würde, ohne einen sehr hohen Preis zu zahlen. Doch war es wirklich so schlimm, sich von anderswo Zuneigung zu holen? Auf eine Art waren sie beide untreu geworden. Sich lieben und ehren, Freud und Leid miteinander teilen. Wann hatten sie so etwas zum letzten Mal getan? Er würde es Angela nicht gestehen, oder? Er würde damit leben, bis das Unwohlsein verschwand und die Lügen zur Normalität wurden.

Armer Benjy. Sie blickte in ihre Tasse. Er hat davon geredet, wie es wäre, wenn wir beide tot wären. Wer die Sachen aus dem Haus bekäme, weißt du.

Hier scheint es ihm aber zu gefallen. Denn das war es, was sie taten. Sie gaben vor, eine richtige Familie zu sein. Vielleicht machten das die meisten Menschen so. Wie läuft’s mit deinem Bruder?

Er erinnert sich an alles. Sie kippte den Kaffeesatz ins Gras. Die Vögel flogen auf. Das macht mir Angst. Ich frage mich dann, ob ich den Verstand verliere, wie Mum.

Wie heißt der Premierminister?

Ich meine es ernst … Er könnte sich das alles auch ausdenken, und ich wüsste es nicht besser.

Denken wir uns nicht alle unsere Kindheitserinnerungen aus? Seine eigene Mutter hatte mit einem anderen geschlafen, mit dem flotten kleinen Zahnarzt, der einen schnittigen Mini mit Verdeck fuhr. Oder war das nur ein böses Gerücht gewesen?

Für einige Minuten saßen sie da und genossen die Aussicht. Wenigstens hatten sie das, die Möglichkeit, in Stille nebeneinanderzusitzen.

Manchmal kann ich nicht glauben, dass Richard und ich miteinander verwandt sind. Die Vögel widmeten sich wieder den Krumen.

Vielleicht haben sie dich adoptiert. Das würde einiges erklären.

Wieder so ein Witz ohne Pointe. Doch Richard rief nach ihnen. Auf geht’s!

Eine Landschaft wie in einem Werbespot, für Deodorant, für Butter, für schnelles Internet, ein Ort, um uns innerlich gut zu fühlen, wo alles langsamer und ehrenhafter ist, Kühe und Heuschober und ehrliche Arbeit. Irgendwo da draußen, gleich neben einem Buchenhain, mit beneidenswertem Blick über das Tal, das Haus, in dem man das Buch fertig schreiben und die Ehe kitten könnte, und die Kinder würden Buden bauen und der Regen, wenn er käme, wäre guter, ehrlicher Regen. Wie merkwürdig, diese Sehnsucht, nach einem Ort zum Nichtstun. Ehemals das Vorrecht von Prinzen, dessen Gift sich ausbreitete. Lady Furlough blickt über das verlassene Wildgehege, die Monster kreisen im Zierteich, das schreckliche Gewicht der Stunden, Laudanum und Stickerei. Jedes Kind kennt sie und jeder Erwachsene vergisst sie, die eisige Bewegung der beobachteten Uhr, aus Plusquamperfekt wird langsam Kosinus, wird langsam die Speisung der Fünftausend. Schulferien, von denen wir uns nur noch an die Fahrradreparatur erinnern und wie Gary Holler den Frosch getötet hat, die formlosen Stunden dazwischen für immer verloren.

Und jetzt sollst du eine Woche lang nichts tun und Spaß daran haben. Sollst tagelang ausruhen, auch wenn du schon längst jenseits von ausgeruht bist, Feiertage ohne Feier, Pilgerfahrten, die bloß noch Fahrten sind, das Ziel auf dem Silbertablett serviert, die Faulheit des Empires in seinen letzten Tagen.

Melissa saß gerade am Esstisch und las, als Dominic den Raum durchquerte und sagte, er würde jetzt spazieren gehen. Die Tür fiel zu, und sie bemerkte, wie still das Haus war. Sie klippte sich den iPod an. Monkey Business, Black Eyed Peas, doch nun konnte sie nicht mehr hören, wenn sich ihr jemand näherte, ein Gefühl der Verwundbarkeit, also zog sie die Stöpsel wieder aus den Ohren. Sie ging in den Garten, suchte nach der minimalen Sicherheit von Dominics immer kleiner werdenden Silhouette, doch er war verschwunden und das Tal menschenleer. Sie ging zurück ins Wohnzimmer und durchstöberte das DVD-Regal. Die Monsters, Ice Age 2, Harry Potter und der Gefangene von Azkaban. Eine Hülle von den Simpsons, darin allerdings eine Playstation-Disc für Star Wars Battlefront.

Ein Surren und Klackern hinter ihr. Sie schreckte herum. Die Standuhr hinter ihr schlug schon wieder. Fuck. Sie musste mit einem normalen menschlichen Wesen reden. Megan, Cally, Henry, egal wer. Sie griff nach ihrem Handy und lief in Richtung Berg.

In den letzten Wochen hatte er sich darauf gefreut. Eine Stadt der Bücher. All dieses Wissen, zusammengetragen und zur Verfügung gestellt. Stöbern, schmökern, blättern. Doch jetzt, da er drinnen im Cinema Bookshop stand … Dieser Geruch. Was war das genau? Klebstoff? Papier? Die Sporen irgendeiner bibliophilen Flechte? Katakomben voll vergilbten Papiers. Jedes Buch ungewollt, für Pennys verkauft oder aus den Häusern der Toten geschleppt. Bücher suchen ein Zuhause. Die Autoren verdienten nichts an diesen Transaktionen. Ein geringeres Gehalt als ein Müllmann, hatte er irgendwo gelesen. Er dachte über ihr Leben nach. Keine Kollegen, kein Zeitplan, keine Sicherheiten, die ständige Versuchung des nachmittäglichen TV-Programms. Der Gedanke an dieses formlose Dasein bereitete ihm ein Gefühl des Unwohlseins, im Pyjama zum Arbeitsplatz. So viel Risiko für so wenig Abenteuer.

Er fuhr mit der Hand über die hubbelige Reihe ausgefranster Buchrücken und Umschlaghüllen. Seine Mutter hatte sie der Größe nach geordnet, wie eine Art Hilfsmobiliar. Seichte Unterhaltungsliteratur und Hollywood-Biografien. Er wünschte sich, das Chaos besser annehmen zu können, lockerer zu werden. Doch die Reise verlief immer im Kreis. Du denkst, du bist am anderen Ende der Welt, und dann läufst du um die Ecke und findest dich plötzlich in der Küche mit den grünen Melaminschälchen und dem Clown-Kalender wieder. Seine Sauberkeit, seine Ordnungsliebe, dieser Zwang, sich selbst immer beschäftigt zu halten, all diese Dinge waren nicht der Abstand, den er zwischen sie und sich geschoben hatte, das waren die Dinge, die sie gemeinsam hatten.

Das Gold des Ozeans. Angelsächsische Attitüden. Tien Pao, ein Chinesenjunge. They call me Carpenter. Tom Swift startet den Silbervogel. Der kleine Kuschelhase. Die Schachfiguren des Mars. Der Adler der neunten Legion. Tarzan und die verbotene Stadt. Der verschlossene Raum. Schreibmaschine am Himmel. Ein Wildfang lebt sich ein. Die schwarze Jagdpeitsche. Das Geheimnis der hölzernen Frau. Fünf Freunde im Nebel. Unter Wasser stirbt man nicht! Der Mut der Sarah Noble. My Life in the Bush of Ghosts. Bonjour Tristesse. Wen die Götter strafen. Die Brandung.

Da war eine gefesselte Frau. Und noch eine. Und dann eine gefesselte Frau, die von der Decke hing. Dann eine tätowierte Frau mit ausgestrecktem Hintern und im Hintergrund stand ein Dildo auf einem Plattenspieler. Dann eine Frau mit ägyptischer Frisur in einem alten Krankenhausbett, gefesselt mit Gummischläuchen, die tatsächlich bis in ihre Muschi verliefen. Und es war irgendwie Kunst, die man sich sogar angucken durfte. Oder? Alex klappte den Buchdeckel zu. Nobuyoshi Araki. Phaidon. 85 £. Also wirklich Kunst. Alter. Man konnte das Buch einfach auf einen Beistelltisch legen. Er stellte sich vor, der Fotograf zu sein. Sich tatsächlich dort in dem Zimmer zu befinden. Das nächste Foto war eine Nahaufnahme von einem großen, mit Adern überzogenen Penis in Schwarz-Weiß, das war eklig, dann zwei Frauen auf einem Bett.

Verzeihung.

Es gab noch andere Menschen in diesem Geschäft. Ein Mann drückte sich an ihm vorbei und verschwand bei der Architektur. Alex starrte auf das Bild mit den zwei Frauen. Er wollte das Buch kaufen. Oder es einfach mitgehen lassen. Er wollte für immer hierbleiben. Er musste es weglegen. Konnte es jedoch nicht.

Dominic dachte an Bachs zweite Invention, diesen kleinen Kanon. Nachdem die Arbeit ausgeblieben war, hatte er es nicht ertragen können, Musik zu hören. Sentimentale Songs waren am schlimmsten. The Power of Love, Wonderful Tonight Manchmal musste er aus dem Geschäft flüchten. Coward hatte recht. Es ist erstaunlich, wie machtvoll … etc. Nach ein paar Monaten hatte er angefangen, Steve Reich zu hören, und plötzlich die Bedeutung dieser nüchternen, unablässig sich wandelnden Linien verstanden. Music for Eighteen Musicians, Electric Guitar Phase. Vorsichtig kehrte er zu Bach zurück. Eine andere Art Nüchternheit. Im Kopf ging er die Fingersätze der Invention durch. Wie hieß nochmal dieser Typ aus dem Musikquiz, das er sich als Kind immer angesehen hatte? Er hatte auf einer Keyboard-Attrappe gespielt, und man musste das Stück anhand seiner Fingerbewegungen erraten. Joseph Cooper. Das war es. Face the Music.

Er ließ den Blick über das Tal schweifen und hatte The Lark Ascending von Vaughan Williams im Ohr, die schrille Geige, vier Sechzehntel und dann immer höher, pentatonische Tonleiter, kein hörbarer Grundton, noch nicht einmal ein Takt … Melissa … War das wirklich Melissa? Er lief durchs Farnkraut den Berg hinab. Was in Gottes Namen machte sie da? Sich übergeben? Er stolperte, fiel und rappelte sich wieder auf. Sie kroch auf allen vieren. Er wurde langsamer und keuchte. Melissa? Er berührte sie an der Schulter, sie fuhr mit einem Schrei herum und hob schützend wie eine ängstliche Frau in einem Stummfilm die Hände. Wow, sorry. Ich wollte dich nicht …

Ich wollte … Ich … Sie griff ins Leere. Angelas Ehemann. Sie hatte vergessen, wo sie war. Sie fühlte sich nackt. Wollte er sich über sie hermachen?

Geht’s dir gut?

Sie wollte nicht weinen. Hielt ihr Handy ausgestreckt, doch es weigerte sich, die Situation zu erklären. Ich hatte keinen Empfang.

Hast du dir weh getan?

Nein, hab ich nicht. Scheiße. Tief durchatmen.

Du wolltest also jemanden anrufen.

Ich muss … Sie drehte sich um und lief weg, und ihre Knie knickten ein und sie versuchte ihr Bestes, damit es so aussah, als habe sie sich freiwillig hingesetzt.

Er kam zu ihr und setzte sich neben sie. Sie schwiegen. Es war unangenehm, dann war es unangenehm, und dann war es unangenehm. Ich nehme also an, dass du hier wenig Spaß hast.

Sie fing an zu weinen. Scheiße. Sie rieb sich die Augen.

Willst du drüber reden?

Nein, ich will überraschenderweise nicht darüber reden.

Er pflückte zwei Gänseblümchen und begann, eine Kette zu machen. Ich hatte auch einen Stiefvater. Ich meine, ich habe ihn immer noch.

Was zur Hölle faselte er da?

Er war ein richtig netter Typ, deshalb habe ich ihn natürlich nur noch mehr gehasst.

Ähm, ja. Danke für die Info. Sie zog eine Zigarettenschachtel aus ihrer Jackentasche.

Kann ich eine schnorren?

Sie hatte gedacht, dass er es daneben finden würde, doch die Taktik war wohl eher danebengegangen. Seine geöffnete Hand berührte ihre. Das Kratzen und Flackern des Feuerzeugs. Wollte er sich an sie ranmachen? Sie stellte sich vor, die Story zunächst für sich zu behalten, wie einen dicken fetten Scheck, den sie jederzeit einlösen konnte.

Ooh. Er blies einen erbärmlichen Rauchring. Meine Letzte ist schon lange her.

Ein Schaf lief vorbei und blökte.

Eigentlich ist Richard ganz okay. Er macht Mum halt glücklich, das ist gut. Aber es war eine Lüge. Sie hasste Richard aus denselben Gründen, aus denen Dominic seinen Stiefvater gehasst hatte.

Sie rauchten zu Ende. Dann drehte sich Dominic um und sah sie scharf an. Sie fragte sich, ob er ihre Brust berühren würde. Sei etwas netter zu Daisy, okay?

Damit hatte sie so gar nicht gerechnet.

Du wirst dich irgendwann zurückerinnern und feststellen, dass du nicht so anders bist als sie.

Sie lachte. Ich bin so was von anders. Er hielt ihrem Blick stand und lachte nicht. Sie hatte die Fassung verloren. Die Angst kehrte zurück. Sie stand auf und warf den Zigarettenstummel ins hohe Gras. Ich muss jemanden anrufen.

Geh nicht zu weit.

War das jetzt metaphorisch gemeint, oder konnte man hier wirklich zu weit gehen?

Er sah ihr nach, während sie den Berg hinaufstolperte. Straßenschuhe. Er stellte sich vor, mit Punkten für dieses Gespräch bewertet zu werden. Sechs von zehn? Er hatte sie definitiv überrumpelt. Sieben? Das Schaf blökte noch einmal. Er spürte eine leichte Übelkeit. Wahrscheinlich von der Zigarette.

Benjy machte eine Art Schlangengymnastik in dem Ledersessel am Rand des Ladens. Guck dir mal diese Enzyklopädie an. Daisy hievte ihn zur Seite und setzte sich. Von 1938.

Seine Augen verharrten auf dem Nintendo.

Bevor es Computer gab und die Menschen noch glaubten, es gäbe vielleicht Leben auf dem Mars.

Er sah nicht auf. Ich will eine Enzyklopädie der Barbie-Foltermethoden.

Sie blätterte um. Was ist das, las sie, was der Wilde hervorruft, indem er mit einem Stab auf einem anderen reibt, und der zivilisierte Mensch innerhalb von Sekunden herstellt, indem er ein Streichholz entzündet? Er hatte Mundgeruch. Hatte sich irgendjemand heute Morgen darum gekümmert, dass er sich die Zähne putzte?

Plötzlich tauchte Louisa auf. Benjy … Daisy … Sie hatte sich von Richard losgeeist und sich auf die Suche nach einem sonnigen, bücherlosen Plätzchen gemacht, doch irgendwie hatte das Bild von den beiden dort im Sessel etwas Gemütliches an sich. Was habt ihr da?

Wissen in Bildern, fünfter Band. Daisy reichte es ihr.

Gewebter, backsteinroter Einband, der Titel eingestanzt und darunter eine Öllampe, die vor Weisheit glänzte. Sie überflog das Inhaltsverzeichnis. Wie die Menschheit von Dampfenergie und Erdöl profitiert. Eine Anleitung zu gutem Benehmen für Kinder. Faltmodell. Plötzlich war sie zurück im Haus ihrer Großeltern, der Kaninchendraht vor dem Fenster in der Speisekammer, Weißbrot mit Butter und Fish and Chips, die Stelzen, die Opa ihr aus einem alten Türrahmen gebaut hatte.

Daisy verlagerte ihr Gewicht ein wenig, um bequem zu sitzen. Louisa hatte sich auf die Armlehne gesetzt, sodass sie zwischen ihr und Benjy eingequetscht war. Louisas Bein war sehr nahe. Eine enge rote Cordhose. Der Geruch von Kakaobutter.

Louisa blätterte um. Bogen. Aufhängung. Träger. Jochbalken. Wie merkwürdig, dass sie ausgerechnet hier an ihre Mutter dachte, ausgerechnet hier, wo sie doch kein einziges Buch besessen hatten. Die Angst, die Nase zu hoch zu tragen. Sie schloss das Buch und fuhr mit der Hand sanft über den Rücken. Du dachtest, es wäre alles fort, das Haus abgerissen, die Möbel verkauft, Fotos zerfressen von Moder und Feuchtigkeit. Dann rolltest du den Deckel einer Sardinenbüchse mit dem kleinen silbernen Metallschlüssel auf.

Er saß auf den Stufen zum städtischen Kirchturm, eine Einkaufstüte mit Büchern gegen sein Bein gelehnt (Stalingrad von Antony Beevor, die Odyssee übersetzt von John Hannah, Sich fit kämpfen: Das SAS-Fitness-Handbuch). Da standen ein Anhänger mit zwei Schafen und eine Gruppe rauchender Jugendlicher, die sich um einen Roller versammelt hatten. Wieder machte ihm der Sharne-Fall zu schaffen. Einatmen, zwei drei … Ausatmen, zwei drei … Einer der Jungs brachte den Roller auf Touren und störte ihn in seiner Konzentration. Wie geistig aufgewühlt man doch sein konnte! Er sollte joggen, wie Alex, um durch sportliche Aktivitäten einen klaren Kopf zu bekommen. Einatmen … Er bemerkte eine attraktive Frau, die den früheren Getreidespeicher betrat, und ein sexueller Alarmton klingelte in seinem Kopf. Oh, aber es war Louisa. Schon war sie wieder verschwunden. Wie verwirrend, sie so zu sehen, wie andere Männer sie sahen. Er erinnerte sich daran, wie er ihrem Ex-Mann zum ersten Mal begegnet war, als Craig zurückgekommen war, um eine neue Pumpe in den Boiler einzubauen. Sein Oberkörper war auf geradezu absurde Weise behaart gewesen, als trüge er eine schwarze Mohairweste unter dem T-Shirt. Louisa hat erzählt, Sie sind Arzt. Ein kräftiger Handschlag, der ein wenig zu lange anhielt.

Facharzt. Neurologie.

Nach und nach begriff er, dass das alles eine Art Kryptonit war, die Abschlüsse, die Bücher, die Musik, doch dann erinnerte er sich daran, wie Louisa den Kopf geschüttelt und gelacht und gesagt hatte: Er wollte es immer und überall, und dieses Bild war er nie wirklich losgeworden.

Es gab keinen Abgrund, nur einen neuen Berg, von dem aus man wahrscheinlich bis nach Russland gucken konnte. Ein älteres Pärchen lief vorbei. Sie waren wie Pfadfinder angezogen. Dann stellte ihr Handy Kontakt zur Zivilisation her und eine Reihe SMS kündigte sich an, eine aus Frankreich von Dad und ein ganzer Haufen von Nachrichten wie Ruf mich an und Muss mit dir reden und Dringend, als wäre tatsächlich ein Krieg ausgebrochen. Sie rief Cally an, die nichts zur Begrüßung sagte, sondern nur Michelle hat versucht sich umzubringen.

Wie denn?

Schlaftabletten. Sie hat ihrer Mum erzählt, wir würden sie mobben.

Schlampe.

Die Sache ist, ihre Mum ist zu Avison gegangen, und jetzt wissen alle Bescheid.

Naja, ich hab das Foto nicht rumgeschickt.

Ey, schieb das nicht mir in die Schuhe, sagte Cally. Du hast das Foto gemacht.

Hör auf, so zu tun, als wär das meine Schuld. Wir müssen uns was überlegen. Großer Gott! Zwei Wochen mit einem Schlafsack und Dad in einem halb renovierten französischen Bauernhof wären doch gar nicht so schlecht gewesen. Sie ließ das Ganze sacken. Michelle, die sich wie immer total hinterfotzig benahm. Die wie immer das Opfer spielte. Sie hätte das Ganze vorhersehen müssen. An wen hast du es alles geschickt?

Nicht so vielen Leuten.

Sag’s mir einfach, okay?

Jake, Donny, KC …

Na toll. Sie würden es abgespeichert lassen, nicht wahr, sie würden ihr eiskalt in den Rücken fallen. All diese idiotischen kleinen Vendettas. Wenn sie nur selbst dort wäre, um ihnen ihre Scheißhandys aus den Händen zu reißen.

Ich hätte nicht gedacht, dass mich ihr Tod so mitnehmen würde. Angela aß eine letzte Gabel Tibetan Roast. Neben ihr saß Benjy und las in einer abgewetzten Enzyklopädie aus zweiter Hand. Sie fischte ein paar Krümel aus seinen Haaren.

Eine fürchterliche Art zu sterben, sagte Richard. Er hatte sein Besteck auf halb sechs auf dem Teller drapiert. Dein Geist stirbt, während dein Körper weiterlebt und sich jemand um ihn kümmern muss.

Jemand? Sollte wohl heißen: Sie.

Ich bete zu Gott, dass mir so etwas erspart bleibt. Er goss den letzten Rest Tee durch das Metallsieb. Hinter ihm hatte sich eine Horde nussbrauner Rennradfahrer am Tresen versammelt, kleine schwarze Schuhe klackerten über den Steinboden. Gib mir einen irreversiblen Herzstillstand.

Moment mal, sagte Angela. Moment mal. Warum tat sie das? Ich habe sie fünf Jahre lang jede Woche besucht.

Er hörte den Groll in ihrer Stimme und war darüber äußerst erstaunt. Was willst du damit sagen? Sollte nicht dieser Gratisurlaub alle Überbleibsel von bösem Blut zwischen ihnen tilgen?

Ich weiß, dass du ihren Aufenthalt in Acorn House finanziert hast, sagte Angela. Und vielleicht war das wichtiger als alles andere. Ich bin dankbar dafür, wirklich, aber … Das Eis, über das sie lief, bekam Risse. Fünf Jahre lang, jede Woche. Was hatte es jedoch gebracht? Am Ende hatte ihre eigene Mutter sie nicht mehr erkannt.

Ich weiß, sagte Richard, tonlos.

Und die Person, die sie wirklich dort haben wollte, warst du. Sie konnte den Unglauben in seinem Gesicht sehen. Er hatte sich das hier alles ganz einfach vorgestellt, nicht wahr? Die Familienbande neu knüpfen, jetzt, da der konfliktträchtige Elternteil aus dem Weg war. Blaue Flecken und Knochenbrüche. Ein kindliches Verlangen überkam sie, es ihm so schwer wie möglich zu machen. Und wie oft bist du gekommen? Fünfmal? Sechsmal? Sie wusste ganz genau, wie oft, doch sie würde nicht zugeben, Buch darüber geführt zu haben.

Richard malte mit dem Zeigefinger kleine Figuren auf den Tisch. Sie fragte sich, ob er gedanklich seine Antwort auf einem Block notierte.

Sie ist tot, Angela. Daran können wir jetzt nichts mehr ändern. Vielleicht sollten wir die Vergangenheit ruhen lassen.

Benjy blätterte um, er bekam nichts von ihrem Gespräch mit. Angela schielte zu ihm hinüber. Romantische Eisenbahnstrecke. Ein Bild des Flying-Scotsman-Zuges. Ich wollte einfach ein Dankeschön von dir hören. So. Jetzt war es raus.

Er lachte. Still und trocken, aber fraglos ein Lachen.

Richard …? Sie fühlte sich, als würde sie mit einem Kind reden, das sich irgendeinen fürchterlichen Fauxpas geleistet hatte.

Und ich war dreizehn, als sie angefangen hat, zu trinken.

Ich war vierzehn.

Aber du bist abgehauen.

Was? Sie hatte nicht den blassesten Schimmer, wovon er redete.

Du bist mit Juliette zusammengezogen.

Diese Unterstellung war so abstrus, dass sie sich zum ersten Mal fragte, ob er sie aus niederen Gründen zu dieser Reise eingeladen hatte. Ich bin nicht abgehauen. Ich habe nie mit Juliette zusammengewohnt.

Okay, vielleicht habt ihr nicht zusammengewohnt. Es war gar nicht seine Absicht gewesen, das zu erwähnen. Das war wie verseuchte Erde, solange man nicht grub, gab es kein Problem. Aber die meisten Abende hast du dort verbracht. Er wollte keine Rechnung begleichen. Er wollte die Dinge einfach nur ordentlich falten und wegpacken. Fast zwei Jahre lang, wenn ich mich richtig erinnere.

Das ist doch gar nicht wahr. Das Pärchen neben ihnen war verstummt, um zuzuhören. Sie erinnerte sich nur an Mum, die sie faul und selbstsüchtig nannte, und Richard, der sie auch noch in Schutz nahm.

Wenn ich besser darin gewesen wäre, Freundschaften zu knüpfen, hätte ich es vielleicht genauso gemacht. Er lachte wieder, diesmal mit mehr Wärme.

Darum geht es doch gar nicht. Sie mussten an diesem Punkt aufhören, sonst ließ sich für nichts garantieren. Sie lehnte sich zurück und atmete tief durch. Einigen wir uns auf einen Waffenstillstand.

Einen Waffenstillstand?, sagte Richard. Sind wir denn im Krieg?

Vielleicht ist das hier der richtige Moment für ein Stück Kuchen.

Ohne aufzusehen, sagte Benjy: Au ja. Kann ich den Schokokuchen, bitte, den mit dem weißen Zuckerguss drauf?

Lkws transportieren schwere Güter über lange Strecken; Lieferwagen fahren Waren bis zu unserer Tür. Motorisierte Kremser bringen täglich Zehntausende Vergnügungssuchende von Ort zu Ort und Busse verkehren regelmäßig jeden Tag zwischen Städten, die hunderte Meilen voneinander trennen. Was wir nicht mehr sehen, ist das von Pferden gezogene Löschfahrzeug, das die Hauptstraße hinunter rast.

Ariel Gel Nimbus 11. Was für idiotische Namen sie diesen Dingern gaben. Allerdings gefiel Richard ihr Geruch, plastisch und fabrikneu. Er schnürte den linken Schuh und drehte sich um, um den rechten aus dem mit Packpapier ausgelegten Karton zu nehmen. Das Gespräch mit Angela hatte ihn verletzt, nicht so sehr wegen ihrer Vorwürfe, sondern wegen seiner Unfähigkeit, diese vorauszusehen. Nie wäre ihm in den Sinn gekommen, dass sie einen Groll gegen ihn hegte. Seine Mutter hatte ihn erst dafür gehasst, dass er sich um sie kümmerte, und dann dafür, dass er sie verlassen hatte. Fünf Jahre hatte er mit einer Alkoholikerin unter einem Dach gelebt, und niemand hatte es ihm gedankt. Wenn es so etwas wie moralische Überlegenheit gab, war sicherlich er es, der sie beanspruchen durfte. Aus den Augenwinkeln sah er durch die Glasfront des Geschäfts ein Rattennest aus schwarzen Ablaufrohren, die aus dem ersten Stock des gegenüberliegenden Hauses herausragten. Er drehte seinen Körper ein wenig weiter zum hinteren Teil des Geschäfts.

Was kosten die?

79,99 £.

Beruhigend teuer.

Der Verkäufer war gegen seine Ironie resistent. Doch es mussten die Besten sein. Wenn er jetzt zwanzig Pfund sparte, würde er es später bestimmt bereuen. Er stand auf und begutachtete sein Spiegelbild.

Und, wie fühlen sie sich an? Der junge Mann war rotblond, von plumper Gestalt und schlecht ernährt, und sein Haar war modisch asymmetrisch geschnitten, sodass er gezwungen war, seinen Kopf immer zur einen Seite zu knicken, um ordentlich sehen zu können.

Gut. Sie passen gut. Er setzte sich und stand gleich wieder auf. Plötzlich erinnerte er sich an den Tag, als er nach Bristol aufgebrochen war, wie seine Mutter hinter ihm hergebrüllt hatte, als er mit seinem Rucksack die Straße entlanglief, zitternde Gardinen, wie in einer Szene aus einem billigen Melodram. Eigentlich hätte er draußen ein paar Mal auf und ab joggen sollen, doch er war sich nicht sicher, ob sein Ego dazu gerade ausreichte. Er hüpfte zehn Sekunden lang auf der Stelle. Ich nehme sie.

Angela blieb im Auto. Sie brauchte ein wenig Zeit ohne Richard und konnte sich nicht vorstellen, dass die Aussicht in zweihundert Meter besser wäre. Eine junge Inderin kämpfte mit einer orangefarbenen Regenjacke. Ein Stück weiter bastelten zwei Teenager an einer Modellrakete herum, drei, vier Fuß hoch, rote Spitze, Finnen. Der Mann kniete sich kurz daneben, dann trat er zurück und … Jesus Maria. Das Knistern eines Klettverschlusses, und dann verschwand das Ding in der Höhe. Die Jungen johlten und warteten, und sie kam einfach nicht wieder runter. Sie blickten sich um und hielten Ausschau. Vermutlich hatte der Wind sie fortgetragen, doch das Ganze hatte etwas Magisches an sich, eine Geschichte für später. Sie sah den Hügel hinauf. Ihre Familie, winzige Punkte.

Hatte er sich das mit Juliette ausgedacht? Oder war es eine falsche Erinnerung, um sein schlechtes Gewissen zu erleichtern? Wenn sie nur harte Fakten hätte zurückschmettern können, nimm das und das und das, doch sie hatte nie mehr daran zurückgedacht, nie geglaubt, dass es Erinnerungen waren, die sie aufheben sollte.

Gott, sie wollte etwas essen. Toffee, Süßigkeiten, Kekse. Sie öffnete das Handschuhfach und ein Streifen Passfotos fiel heraus. Sie hob ihn auf und drehte ihn um. Melissa mit Schmollmund, Melissa sendet einen Kuss, Melissa streicht sich die Haare aus dem Gesicht. Merkwürdigerweise war sie gerührt. Sie stellte sich all diese Bilder von Karen vor. Zwei Jahre alt, sie spielt mit Klötzchen auf einem Lammfell. Neun Jahre alt, vor einem regenbogenfarbenen Windschutz. Vierzehn Jahre alt, im grünen Dufflecoat auf irgendeiner Automobilausstellung, das Wort OGDENS in viktorianischer Schaubudenschrift auf einem grünen Dampfkessel im Hintergrund. Und für einige aufregende Sekunden waren sie echt, stand ein in Leder gebundenes Album im Regal über dem Fernseher. Dann rüttelte der Wind am Auto und holte sie zurück in die Realität.

Alex drehte sich um und sah, wie Daisy und Benjy sich gegenseitig mit Fladen von Schafmist bewarfen. Nur die Trockenen, rief Daisy. In der Schule musste er sich jeden nur erdenklichen Scheißspruch anhören, weil er ihr Bruder war. Eddie Chan, der zum vierzigtausendsten Mal Like a Virgin sang. Und noch fiesere Sachen, vor allem nach dieser Anti-Drogen-Versammlung, man hätte fast meinen können, dass sie darauf aus war, von allen gehasst zu werden. Er konnte die meisten Sachen ausblenden, aber das nicht. Ging es ihr dreckig, oder führte sie sich einfach nur völlig bescheuert auf? Sollte er sie beschützen oder sie ihrem Schicksal überlassen? Das Ganze war ihm ein Rätsel, und es machte ihn verrückt, dass er es nicht lösen konnte.

Jetzt hab ich es in den Haaren, du kleines …

Er fragte sich, ob sie irgendwann vielleicht wieder so wie früher sein würde. Nicht, dass sie dann Freunde würden, aber trotzdem …

Louisa ging außer Wurfweite. Ein Teenager, der Kinderspiele spielte. Das passte einfach nicht. Vielleicht, wenn sie einen Jungen gehabt hätte, wenn sie die Nachkommen gehabt hätte, von denen sie einst geträumt hatte. Doch manchmal, wenn Melissa wirklich müde war und Richard nicht zu Hause, dann rollte Melissa sich zusammen und legte ihren Kopf auf Louisas Bein und lutschte am Daumen, und genau das wollte man doch letztlich, eine solche Verbindung.

Tor. Benjy stülpte sich das T-Shirt über den Kopf und drehte jubelnd seine Runden.

Daisy wischte einen feuchten Klumpen von ihrer Hose. Du bist so was von tot.

Eine Hand schloss sich um Richards Herz und drückte zu. So etwas hatte er nie gehabt. Würde er niemals haben.

Daisy hatte Benjy auf den Boden gerungen. Er schrie: Das ist unfair, doch es war kein wirklicher Protest, es gefiel ihm. Niemand ließ ihn mehr auf dem Rücken reiten oder warf ihn in die Luft. Man konnte darum bitten, in den Arm genommen zu werden, wenn man traurig war oder sich wehgetan hatte, doch wenn es einfach so spontan passierte, fühlte man sich innen drin so warm.

Ist mit Angela alles in Ordnung? Louisa sah den Hügel hinunter auf die kreuz und quer geparkten Autos.

Er liebte sie dafür, dass sie über diese Dinge nachdachte. Die Beerdigung hat sie härter getroffen als gedacht.

Du hast dir Laufschuhe gekauft?

Ich habe gesehen, wie Alex heute Morgen zurückgekommen ist.

Brich dir nicht den Knöchel.

Vertrau mir, ich bin Arzt.

Sie lachte, und er erinnerte sich daran, wie er diese Worte zum ersten Mal ausgesprochen hatte und wie sie auch damals gelacht hatte. Plötzlich wollte er mit ihr allein im Urlaub sein, nur sie beide, die mitten am Tag miteinander schliefen, ihr sonnenüberfluteter Körper hinter den Gardinen.

Und Daisy und Benjy lagen nebeneinander auf dem Rücken. Guck mal. Der Himmel bewegt sich. Und Alex war ein Stück weiter oben und rief: Los jetzt.

Zwei Krähen ließen etwas Totes auf der Straße zurück, als sie vorbeifuhren. Ein Briefkasten in einer Mauer. Ruinsford Farm. Three Oaks Farm. Upper House Farm. Ein verrückter Hund jagte ihnen eine halbe Meile weit hinterher. Hinten im Auto zu sitzen machte Alex nervös, zu weit vom Lenkrad entfernt, jemand anders fuhr ihn irgendwo hin. Im nächsten Jahr würde er sich selbst einen Urlaub organisieren. Vielleicht in den Dolomiten. Nächstes Jahr würde er alles in die Wege leiten: VWL, Geschichte, BWL. Brighton, Leeds, Glasgow. Ein paar Jahre rumreisen. Sein eigenes Geschäft aufziehen. Keine Ambitionen, nur Fakten über die Welt. Man wusste, wohin man wollte, man suchte sich seine Route aus und machte sich auf den Weg. Er konnte nicht verstehen, warum so viele Leute so ein riesiges Problem daraus machten. Doch nun fuhren sie durchs Tor, und Melissa saß hinterm Haus auf dem Mäuerchen und las, und Alex dachte: Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.

Er stieg aus dem Auto und lief zu ihr rüber. Sie trug enge Jeans und Stiefel und eine kleine schwarze Jacke über einem seidenen Rüschenkleid. Sie bemerkte seine Anwesenheit nicht, bis er schon sehr nahe war, und als sie sich zu ihm drehte, war ihr Blick leer. Sie strich sich die Haare hinters Ohr wie ihre Mum.

Los geht’s, dachte sie. Genau das war es, was ihr gefiel, diese Spannung in der Luft, wie man mit jemandem spielen konnte.

Was liest du?

Sie drehte das Buch um.

Gut? Er setzte sich und baumelte mit den Beinen wie ein kleiner Junge.

Mm hm. Man musste so wenig wie möglich sagen und den anderen die Pausen füllen lassen.

Und. Er sah hinunter auf seine baumelnden Füße. Wie gefällt’s dir hier?

Auf einer Skala von eins bis zehn: ein Punkt.

Und was ist der eine Punkt?

Er wünschte sich, sie würde sagen, dass er es war. Dass man seine Ruhe hat, Zeit um nachzudenken. Sie griff nach dem perlenden kleinen Glas Gin Tonic. Ohne Zitrone. Aber man nimmt, was man kriegen kann, nicht wahr?

Ich wette, du willst überhaupt nicht deine Ruhe haben.

Er war gar nicht schlecht darin.

Mir gefällt’s hier. Ich meine, die Weite und die Aussicht von hier oben.

Oder von hier unten. Sie hob eine Augenbraue.

Sie schwiegen eine Weile. Dann hob er die Hand und legte sie auf ihren Oberschenkel. Die Wärme ihrer Haut unter der Jeans. Sie beobachteten beide die Hand wie einen Vogel, den sie nicht aufschrecken wollten. Er drehte sich zu ihr und küsste sie. Sie schmeckte so gut. Sie drückte mit der Hand gegen seine Brust, aber er konnte nicht aufhören, denn manchmal taten Mädchen nur so, als wollten sie es nicht, und es war so unglaublich schwer aufzuhören. Seine Hand lag auf einer ihrer Brüste. Doch er roch ein wenig nach Schweiß, und er steckte seine Zunge in ihren Mund und sie war überrascht darüber, wie stark er war. Sie packte einen seiner Finger und bog ihn zurück. Hör verdammt nochmal auf damit, okay?

Er lehnte sich zurück. Tut mir leid.

Scheiße.

Ich hab die Beherrschung verloren.

Hab ich gemerkt.

Sie saßen nebeneinander und schwiegen. Ein Hubschrauber brummte über den Black Hill wie eine Stubenfliege. Ihr Geschmack. Er hatte immer noch einen Steifen. Melissa ließ sich von dem Mäuerchen hinabgleiten. Jedenfalls hab ich jetzt noch zu tun. Mit dem Buch in der Hand verschwand sie Richtung Haustür, und Alex hatte nicht die geringste Ahnung, was er von alldem halten sollte.

In dem Haus befand sich eine Sammlung viktorianischer Zeichnungen, erstanden als Restposten aus der Mülltonne einer Galerie in Gloucester. Nordgiebel der Whitby Abbey, ein Hund, der einen Bären jagt, Walter Devereux, der Graf von Essex, die Brampton-Jagd auf ihrem Höhepunkt, ein barocker Tempelnachbau unbestimmter Herkunft, Mount Serbál von Wády Feirán …

Louisa steckte ihr iPhone in die Station und drückte Play. Sie presste die Griffe des Dosenöffners zusammen und das scharfe kleine Rad klackte durch den Metalldeckel. U2. Where the Streets Have No Name. Sie goss die Bohnen ins Abtropfsieb und wusch den dickflüssigen braunen Saft ab. Es gab keine Küchenmaschine, also nahm sie den Kartoffelstampfer und klopfte ihn auf den Rand, wenn die Löcher verstopften. Sie dachte an ihre Mutter in der Küche, Rinderfett und Handmixer. Was machst du da?

Ich suche mir einen Snack aus, sagte Benjy. Er liebte es, im goldenen Licht und in der kalten Luft des Kühlschranks zu stehen, das viele Essen wie ein Schatz darin.

Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du dich mit deiner Suche etwas beeilen könntest.

Er entschied sich und schloss die Tür. Das dumpfe Geräusch und anschließende Klingen von Glas. Dann war er verschwunden. Die Pfeffermühle war leer, also griff sie nach der kleinen Plastikdose im Regal, Ränder auf dem Deckel wie eine große weiße Münze. Sie öffnete sie und roch an ihrem Inhalt. Nichts. Wie Hausstaub.

Benjy lief ins Esszimmer, öffnete den kleinen Plastikdeckel und leckte dann den Joghurtflecken von seiner Hose, weil er gekleckert hatte. Er stellte den Plastikbecher zur Seite und faltete anschließend ein Din-A4-Blatt acht Mal, sodass es ein kleines Buch ergab. Er zog seinen Stift hervor, der in acht Farben malte. Es würde heißen: Einhundert fürchterliche Todesarten und es würde Folter und Gemetzel darin geben, aber keinen Krebs. Doch Mum stand neben ihm. Wer hat dir erlaubt, dir einen Joghurt zu nehmen, junger Mann?

Tante Louisa.

Lügst du mich an?

Nur ein bisschen.

οἱ δ᾽ εἰς ὀρχηστύν τε καὶ ἱμερόεσσαν ἀοιδὴν / τρεψάμενοι τέρποντο, μένον δ᾽ ἐπὶ ἕσπερον ἐλθεῖν … Nun warteten die Verfolger darauf, dass die Nacht hereinbrach und vertrieben sich bei Tanz und fröhlichem Gesang die Zeit. Doch Richard war eingeschlafen.

Um ehrlich zu sein, sagte Angela, ist es nicht nur die Sache mit Richard.

Ich höre.

Am Donnerstag ist Karens Geburtstag. Sie knackte eine Pistazienhülle.

War der nicht im Februar?

Nicht der Tag, an dem sie gestorben ist. Der Tag, an dem sie auf die Welt kommen sollte.

Was soll das heißen, auf die Welt kommen sollte?

Der fünfte Mai. Der errechnete Geburtstermin.

Davon hast du nie erzählt.

Ihr Nagel war abgebrochen. Ich habe das Gefühl, dass ich etwas verrücktspielen werde.

Sayid folgt dem gewundenen Metallkabel in den Dschungel. Marimba und Harfe, der Himmel ein blaues Puzzle am Firmament, Spinnwebenglanz auf Knöchelhöhe. Er duckt sich und sieht den Stolperdraht. Hohe, dissonante Geigen. Vorsichtig steigt er hinüber. Das knallende Geräusch einer Schlinge, die sich festzieht, als ein Holzpflock in seine Wade gefeuert wird. Er schreit, als ihm die Beine weggezogen werden und er hochgezogen wird wie ein Schwein im Schlachthof.

Bei den Strandszenen spult Alex vor, er braucht Action, um sich von Melissa abzulenken. Im letzten Jahr ist er eine Art Film-Crack geworden. Zwei, manchmal drei ganze Filme pro Schicht bei Moving Pictures, nur ein Auge auf dem Bildschirm, wenn gerade viel zu tun war. Am besten gefallen ihm DVD-Sets von Serien. Lost, 24, Battlestar Galactica. Vor allem die Kontinuität. Du mochtest Episode drei? Dann wird dir vermutlich auch Episode vier gefallen. Durchweg weniger Aufwand.

Es ist Nacht. Sayid liegt auf dem Boden. Dämmriges Halbbewusstsein. Jemand in Militäruniform nähert sich. Mondlicht auf einem zackigen Messer. Sayids Auge füllt den Bildschirm aus, dann zuckt es und fällt zu.

Ich goss mir noch ein Glas von dem Monbazillac ein. Als ich es an die Lippen hob, regte sich etwas im dunklen Korridor. War es der weiße Schuh? Mein Herz hämmerte, der Stimulus rauschte durch meinen sensorischen Cortex und den Hypothalamus zum Stammhirn und flutete meinen Körper mit Adrenalin. Ich ging hinüber und sah, dass mein Mantel vom Haken gefallen war. Ich nahm tiefe Atemzüge, um meinen mörderischen Puls zu verlangsamen. Kämpfen oder die Flucht ergreifen, dieser treue Wachhund, der seit Millionen von Jahren nicht von unserer Seite weicht und uns vor jedem Anzeichen von Gefahr warnt. Doch wie konnte man vor einem Hirngespinst flüchten? Wie konnte man den Bildern in seinem Kopf entkommen? Wie hatte es Hecht noch in seinem Artikel für Nature ausgedrückt, wir hatten die Welt da draußen gezähmt, aber nicht die Waffen, die wir besaßen, um in ihr zu überleben.

Melissa legte das feuchte Taschenbuch, dessen Seiten sich langsam in einen einzigen welligen Klumpen verwandelten, umgekehrt auf den Badewannenrand. Avison würde Michelle fragen, womit die anderen sie fertig gemacht hatten. Was würde sie dem Schuldirektor sagen? Sie konnte ihm wohl kaum das Foto zeigen, oder? Doch wenn er die Polizei einschaltete, würden die sich alles ansehen. Scheiße. Sie hatte es immer geschafft, den schmalen Grat einzuhalten. Du konntest rauchen, solange du den Mittsommernachtstraum aufführtest. Du konntest die eine oder andere Stunde blaumachen, solange deine Noten stimmten. Doch wenn man sie jetzt rauswarf, würde Dad völlig austicken. Von ihrem Taschengeld konnte sie sich verabschieden, so viel stand fest. Sie wollte sich nicht vorstellen, auf was für eine beschissene Schule man sie dann schicken würde.

Über der Toilette hingen der Druck eines Rotkehlchens und ein Duftspender in einer wenig funktionstüchtigen rosa Halterung neben dem Wasserkasten. Alex, der sie angrapschte. Gott, war das ätzend hier.

Ausnahmsweise erhielt Benjy die Erlaubnis, am Tisch mit seinem Nintendo zu spielen, weil er sich bei den Erwachsenengesprächen langweilte. Daisy unternahm einen Versuch, ihn davon abzulenken, indem sie ihn fragte, wie es gerade in der Schule lief, doch er wollte über seine wiederkehrende Fantasievorstellung reden, in der Mr. Wallis im Unterricht Kinder tötete und aufaß, was sie als ermüdend und geschmacklos empfand, also gab sie auf. Sie versuchte, sich mit Alex zu unterhalten, doch der sah immer wieder heimlich zu Melissa rüber, die sich Mühe gab, ihn zu ignorieren. Ein merkwürdiger Beschützerinstinkt überkam sie, und sie wollte sich für das Verhalten ihres Bruders entschuldigen, obwohl sie ziemlich sicher war, dass es ihm schlechter ging als ihr. Sie starrte auf ihren Porzellanteller mit dem blauen Willow-Muster darauf. Sie hatte das Bild schon tausendmal gesehen, aber sie hatte es niemals wirklich betrachtet, das Schiff, den Palastgarten, die Gestalten auf der Brücke. Was ging hier vor sich?

Mum und Dad saßen jeder an einem Ende des Tisches. Warum liebten sie einander nicht? Hier war es einfacher, mit Louisa und Richard und Melissa, die als eine Art Puffer fungierten. Zu Hause war die Temperatur immer etwas kühler, wenn sie beide zusammen waren. Mit elf war sie einmal bei Bella zu Hause gewesen. Bellas Vater hatte einen Arm um ihre Mum gelegt und sie viel zu lange geküsst. Zuerst war Daisy entsetzt gewesen, dann hatte sie gemerkt, dass es sie traurig machte.

Richard tut es gut, hier zu sein. Louisa goss sich noch ein Glas ein. So zerbricht er sich nicht ständig den Kopf.

Kopfzerbrechen kann ich mir bei Richard gar nicht vorstellen, sagte Dominic. Er spürte, dass etwas vorne zwischen seinen Schneidezähnen steckte. Zumindest nicht die Art Kopfzerbrechen, mit der wir uns herumschlagen.

Oh, er hat Ärger wegen der Arbeit, sagte Louisa. Irgendeine rechtliche Sache. Hätte sie das für sich behalten sollen?

Was für eine rechtliche Sache?

Wir werden die Bühne bei den Bäumen aufbauen, beim Sportplatz, sagte Melissa. Sie schloss die Augen, um den Plan deutlicher zu sehen. Am Anfang des Stückes wird die Sonne scheinen, wenn wir in der Stadt sind, und im Laufe des Abends wird sie untergehen, wenn die Handlung in den wilden Wald kommt. Cool, oder?

Klingt sehr interessant, sagte Angela. Melissa war noch ein Kind. Die Prinzessin im Turm und alle anderen waren Stalljungen. Erzähl mir, was es mit dem Vegetarismus auf sich hat.

Ich finde die Idee, Tiere zu essen, einfach lächerlich.

Nein, sagte Angela. Ich will richtige Argumente. Stell dir vor, du wolltest mich überzeugen.

Also … Melissa machte eine Pause, um ihre Gedanken zu sortieren.

Es war so einfach. Erwisch sie alleine und behandle sie wie Erwachsene. Nur funktionierte das mit der eigenen Familie nicht, was? Man trat über die heimische Türschwelle und legte das Cape ab, und schon war man wieder Clark Kent.

Aber was passiert, wenn du nicht freigesprochen wirst?

Ich denke, das ist unwahrscheinlich.

Rein hypothetisch, was wäre wenn? Dominic bemerkte, dass es Richard unangenehm war, aber er war schon angetrunken und die Anlässe, einen solchen Vorteil auszukosten, waren äußerst spärlich gesät.

Ich nehme an, dass man gefeuert werden kann, wenn einem ein grob fahrlässiger Fehler nachgewiesen wird. Richard fiel kein Weg ein, dieses Gespräch zu beenden, ohne dass es so wirkte, als wollte er das Thema vermeiden.

Ich nehme an, in den meisten Fällen dieser Art einigt man sich außergerichtlich. Dominic fuhr mit einem Stückchen Brot durch die restliche Tomatensauce.

Mir wäre ein öffentlicher Freispruch um einiges lieber. Leider wird vor Gericht das Wort eines ehrlichen Mannes gegen das eines Heuchlers und Lügners stehen.

Louisa tauchte mit einem Apfelkuchen in der einen und einer Packung Vanilleeis in der anderen Hand auf. Richard stand langsam auf. Ich hole die Schüsseln.

Angela stellte Benjy einen Stapel dreckiger Teller vor die Nase, da sie fest entschlossen war, wenigstens einen ihrer Söhne mit minimalen haushälterischen Fähigkeiten in die Welt zu entlassen. Bring sie in die Spülmaschine. Vorsichtig und einen nach dem anderen, ja? Ich mache die fettigen Sachen in diesem Waschbecken. Du kannst die Gläser im anderen machen.

Lass uns das Geschichtenspiel spielen, sagte Benjy.

Konzentrier dich, sagte Angela. Wenn du einen kaputt machst, ziehe ich ihn dir vom Taschengeld ab.

Welches Geschichtenspiel?

Das, wo du ein Wort sagst und dann ich und dann Mum, und dann denken wir uns eine lustige Geschichte damit aus.

Aber ohne Aa, okay?

Ich mag Geschichten mit Aa drin.

Wissen wir, sagte Angela und tätschelte ihm den Kopf, aber das ist dein persönliches Problem, und ich denke, du solltest es in jedem Fall für dich behalten.

Na gut, aber ich fang an.

Alles klar.

Es …

War …

Einmal …

Mandarinen …

Mandarinen geht nicht.

Warum?

Weil es grammatikalisch falsch ist.

Na gut. Es war einmal eine …

Grapefruit.

Aber ich wollte Mandarinen.

Du bist nicht dran. Du musst bis zum nächsten Mal warten und dann dein lustiges Wort sagen. Also … Es war einmal eine Grapefruit …

Deren …

Hose …

Von …

Einem …

Eichhörnchen …

Gemacht …

War …

Das …

In …

Einer …

Handtasche …

Wohnte …

Die …

Aus …

Aa …

Benjy …

Melissa öffnete die zweite Rotring-Dose, nahm einen der Joints heraus und roch daran. Harz. Wie dieses Zeug, das man für Geigenbögen benutzte, in ein kleines, samtenes Tüchlein eingewickelt. Das war eine Art Bernstein, oder? Dinosaurier erschaffen aus Moskitoblut. Oh Mann, der Tyrannosaurus Rex hätte diese plärrenden Kinder auffressen sollen. Einmal hatte sie mit Mum zusammen gekifft, und die hatte ihr erzählt, dass Dad sie manchmal mit dem Gürtel vom Bademantel ans Bett fesselte und sie hatten sich darüber totgelacht, bis der nächste Morgen kam und ihr das Lachen so dermaßen vergangen war. Und als Megan es zum ersten Mal versucht hat … Das Zeug macht mich total fertig, Schnodder und Mascara, also hatte Melissa die halbe Nacht damit verbracht, ihr schwarzen Kaffee einzuflößen und sie bei Montagsmaler gewinnen zu lassen. Doch Melissa gefiel es, stoned zu sein, wie alles weiter wegrutschte und die Zeit zu Gummi wurde.

Sie checkte, ob die Luft im Flur rein war. Unten klapperte Geschirr. Am Ende war eine Tür, die über eine Steintreppe in den Garten führte. Sie öffnete das Vorhängeschloss, ließ es auf dem Bügel hängen und ging hinaus in den Garten. Beinahe war es Vollmond, hoch am Himmel trieben Wolkenfetzen vorbei, doch die Luft im Tal war völlig still. Der Hund bellte noch immer. Der würde sie noch Monate in ihrem Schlaf verfolgen. Aus der Ferne drangen Stimmen durch das gelbe Fenster, die anderen tranken Kaffee und laberten Scheiße über Schulen und Immobilienpreise. Sie setzte sich auf den rostigen Rasenroller im Holzschuppen und holte den Joint aus der Tasche. Sie schnippte das widerspenstige kleine Rad am Feuerzeug. Funken wie ein kleiner blauer Dornbusch in ihrer Hand.

Es war einmal eine wunderschöne Frau, Koong-se, die sich in einen Bediensteten ihres Vaters verliebte, Chang. Doch ihr Vater hatte Koong-se einem reichen Herzog versprochen, also ließ er Chang verhaften und eine riesige Mauer um den Palast errichten, um die Liebenden voneinander zu trennen. Der Herzog kam mit einem Korb voller Juwelen, und die Hochzeit sollte an dem Tag stattfinden, nachdem die Weidenblüten auf die Erde gefallen waren. Am Tag vor der Hochzeit stahl sich Chang im Kleid eines Dieners in den Palast und die zwei Liebenden flohen mit dem Juwelenkorb. Koong-ses Vater sah sie und jagte sie mit einer Peitsche in der Hand über die Brücke. Doch glücklicherweise gelang ihnen die Flucht mit dem Schiff des Herzogs und sie segelten zu einer einsamen Insel, wo sie glücklich miteinander lebten.

Jahre später fand Koong-ses Vater jedoch heraus, wo sich diese einsame Insel befand, und schickte Soldaten zu ihnen, die das Liebespaar aufspürten und töteten. Die Götter sahen dies und hatten Mitleid mit Koong-se und Chang und verwandelten sie in zwei Tauben, die für immer über dem Wasser und den Weidenbäumen und dem Palastgarten am Himmel kreisen.

Unsere Gesellschaft ist viel zu materialistisch geworden, sagte Daisy. Wir haben die wirklich wichtigen Dinge aus den Augen verloren.

Für eine intelligente junge Frau, sagte Richard, klingst du ziemlich naiv.

Richard …, sagte Louisa.

Ich bin nicht naiv, sagte Daisy. Sie wollte nicht in Schutz genommen werden, sie wollte die Diskussion nach Richards Regeln gewinnen.

Alex streckte die Beine aus und faltete die Hände, als würde er es sich für einen guten Film bequem machen.

Willst du etwa im Mittelalter leben?, sagte Richard. Er wusste, dass ihn das Gespräch mit Dominic aufgeregt hatte und er seinen Frust nun an Daisy abließ, doch er ließ sich nicht gerne belehren, erst recht nicht von jemandem, der glaubte, dass sie alle eines Tages in der Hölle schmoren würden. Willst du, dass Kinder an Cholera und Diarrhö sterben? Willst du deine Zähne verlieren? Kein Radio, kein Fernsehen, keine Zentralheizung?

Richard …, sagte Louisa, diesmal mit mehr Nachdruck.

Darum geht es doch gar nicht, sagte Daisy. Sie hatte seit acht Monaten keinen Alkohol mehr getrunken, Richard hatte schon eine Flasche Wein intus. Eigentlich hätte das ein Vorteil für sie sein sollen, aber irgendwie war es genau andersherum.

Doch, genau darum geht es. Wir brauchen Geld. Wir brauchen Großkonzerne. Wir brauchen Wettbewerb. Wir brauchen Menschen, die immer mehr wollen, immer besser und immer schneller. Materialismus ist kein tödlicher Krebs im Körper der Gesellschaft. Materialismus ist der Grund, weshalb die meisten hier in diesem Raum am Leben sind.

Angela hatte es am Anfang recht amüsant gefunden, diese beiden meinungsstarken Menschen, deren Hörner aufeinanderprallten, doch jetzt ging es um mehr als das und sie hörte die Böswilligkeit in Richards Stimme. Ihr dämmerte allmählich, dass Richard vielleicht kein besonders netter Mensch war.

Du denkst, dass du recht hast, sagte Daisy, nur weil du intelligenter bist.

Eins zu null, sagte Alex, der selbst einige Biere getrunken hatte. Lässig den Torwart getunnelt.

Richard ließ Daisy nicht aus den Augen. Und ich glaube, du musst erst einmal erwachsen werden, junge Dame.

Ich denke, es reicht jetzt, sagte Louisa leise zu Richard, als wäre er ein kleiner Junge, und Angela dachte, Ja, genau das ist er, ein kleiner Junge.

Alles in Ordnung?, fragte Dominic.

Alles gut. Benjy saß in Tarzan-Hose und Skateboard-T-Shirt auf dem Badewannenrand. Ich bin nur ein bisschen traurig.

Du bist müde, würde ich sagen. Komm, ich putz dir die Zähne.

Aua.

Lass den Mund offen.

Auf der Fensterbank standen Fläschchen und Döschen wie eine fremde Stadt aufgebaut. Feuchtigkeitscreme, Zahnseide, eine elektrische Zahnbürste, Cyberman-Schaumbad. Mit seinem Raumschiff fuhr er zwischen ihnen Slalom.

Ausspucken und nachspülen.

Was ist ein Tampon?

Das willst du gar nicht wissen.

Eine Art Kondom?

Ich sage dir, das willst du nicht wissen.

Ist es so eine Sexsache?

Nein, eine Frauensache.

Dominic scheuchte ihn ins Schlafzimmer. Benjy glitt unter die Decke und strampelte sich in eine bequeme Schlafposition, während sein Vater Das Tor zwischen zwei Welten vom Teppich aufhob. Also … Sie zogen die Stiefel aus.

Jacke auch, sagte Mellor. Zieh sie aus und leg sie neben die Schuhe auf den Boden.

Aber dann werde ich frieren.

Du kannst frieren oder sterben, sagte Mellor. Zieh sie aus und leg sie neben die Schuhe auf den Boden.

Joseph zitterte. Die Hunde wurden lauter. Werden wir schwimmen?

Wir laufen durchs seichte Wasser, sagte Mellor, rüber zu den Bergen. Dann verlieren die Hunde unsere Spur und die Rauchmänner werden denken, dass wir ertrunken oder auf die andere Seite geschwommen sind. Schnell. Ins Wasser.

Hab ich was verpasst? Dominic blieb im Türrahmen stehen.

Daisy und Richard sind bei einer Diskussion über Religion aneinandergeraten, sagte Angela.

Er wollte angeben, sagte Louisa. Männer

Ich hasse so was, sagte Alex.

Irgendwann wirst du mal genauso sein, sagte Louisa. Es klang beinahe wie ein Flirtversuch.

Dominic berührte Daisys Schuler. Alles okay?

Alles super. In Wahrheit fühlte sie sich etwas schwummerig, wie wenn man sich beim Gemüseschneiden in den Finger schnitt.

Geht es Benjy gut?, fragte Angela.

Schläft buchstäblich wie ein Stein. Er blickte sich um. Wo steckt Richard?

Er dachte für einen Moment, dass es sich lediglich um eine Halluzination handelte, ein orangefarbenes Glühwürmchen in der Dunkelheit des Holzschuppens, das sofort verschwand, sobald er es sah. Er erstarrte. Ein atemloser Adrenalinstoß der Gewissheit. Da war jemand. Das Mondlicht kam und ging mit den vorbeiziehenden Wolken. Leichter Rauch drang aus dem Giebel. Er zählte eins und eins zusammen. Melissa. Er hätte darüber hinwegsehen sollen. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß. Doch im Laufe des Tages hatte er die Kontrolle über so manche Dinge verloren, und ihm missfiel die Vorstellung, zu nachsichtig zu sein. Er lief zur offenen Seite des Holzschuppens. Er rechnete damit, sie dort sitzen zu sehen, aber drinnen herrschte eine undurchdringliche Finsternis.

Melissa?

Hi, Richard. Ihre Stimme ließ ihn zusammenzucken. Was für ein Zufall, dass wir uns hier treffen. Völlig körperlos.

Das orangefarbene Glühwürmchen tauchte wieder auf. Du rauchst.

Echt, Sherlock?

Rauchen ist schlecht für dich. Er hätte sich einen Plan überlegen sollen. Aber dieser Geruch … Was ist in der Zigarette?

Sie blies Rauch in seine Richtung, der ins Mondlicht quoll. Willst du mal ziehen?

Mach ihn aus.

Komm schon. Diese wissende Stimme, beinahe erotisch. Das würde dich entspannen.

Ich habe gesagt …

Richard, sagte Melissa amüsiert und geduldig. Vielleicht lag es am Marihuana. Du kannst mir keine Vorschriften machen.

Sie beide wussten, dass er sowohl die Schlacht als auch jeden ehrenhaften Rückzugsweg verloren hatte. Wir werden ja sehen, was deine Mutter dazu sagen wird. Er drehte sich um.

Ach, komm schon, sagte Melissa, sie hat selbst genug von dem Zeug geraucht.

Das wage ich zu bezweifeln.

Melissa lachte. Oh Mann, Richard, es gibt so vieles, was du über meine Mutter nicht weißt.

Er wollte zurück in die Dunkelheit und ihr eine Ohrfeige geben. Der Gedanke machte ihm Angst. Vorsichtig, so als trüge er ein Tablett mit Gläsern, machte er einige Schritte rückwärts. Darüber reden wir noch.

Es gibt dort zwei Orchester, sagte Louisa. Pool, Kletterwand. Aber ihre Freunde wohnen meilenweit entfernt. Im Prinzip braucht sie einen Chauffeur.

Die Eingangstür schlug zu, und Richard kam ins Zimmer. Er sah aus wie ein geprügelter Hund. Melissa kifft im Garten, und offenbar gibt es nichts, was ich dagegen tun kann.

Louisa schloss die Augen und holte tief Luft. Angela und Dominic warfen sich einen Blick zu. War es erlaubt, das Ganze witzig zu finden?

Na ja, jedenfalls … Er hatte mit einer etwas anderen Reaktion gerechnet. Dann sah er Daisy und ihm wurde klar, wie unehrenhaft er sie behandelt hatte und dass das jetzt wichtiger war. Er seufzte sichtbar. Angela goss ihm einen Kaffee aus der Kanne ein und schob die Tasse in Richtung des Platzes auf der Bank, den er zehn Minuten zuvor verlassen hatte. Er setzte sich. Ich möchte mich für mein Verhalten eben entschuldigen.

Schon gut, sagte Daisy, obwohl sie eigentlich in Gedanken bei Melissa und den Drogen war, bei der Unhöflichkeit, wie symbolträchtig es war, dass sie draußen an einem kalten, dunklen Ort hockte. Wenn sie nur hoch ins Licht blicken würde, damit Daisy die Hand ausstrecken und sie ihr reichen könnte.

Ich habe mich wirklich danebenbenommen. Tut mir leid.

Die Eingangstür klickte wieder und fiel ins Schloss. Melissa lief durch den gelben Lichtkegel des Flurs und winkte ihnen zu. Gute Nacht, ihr Camper.

Louisa sprang auf. Der werd’ ich was erzählen. Und schon war sie verschwunden.

Dominic klopfte Richard auf die Schulter. Sie ist ein Teenager. Dein Job ist es, immer und überall unrecht zu haben.

Der Rauchmann kam auf ihn zugerannt, er brüllte und schwang die zackige Keule um seinen Kopf. Benjy zog die Pistole aus seiner Tasche und feuerte ab. Die Maske des Rauchmannes sprang entzwei und das braune Gas zischte in die kalte Luft. Er schrie und fiel auf die Knie. Nizh … Nizh … Er griff nach dem Schlauch der Sauerstoffflasche, stopfte ihn sich direkt in den Mund und atmete hastig ein.

Nein, Melissa, jetzt hörst du mir zu. Ich weiß, dass ich dir nicht vorschreiben kann, was du zu tun hast. Das hast du uns weiß Gott oft genug demonstriert. Aber wenn du Richard vergraulen willst … Ich war ein Fußabtreter für meine Eltern. Ich war ein Fußabtreter für meine Brüder. Ich war ein Fußabtreter für deinen Vater. Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich glücklich. Richard liebt mich. Richard respektiert mich. Richard behandelt mich gut. Wenn du das zerstörst, dann Gnade dir Gott …

Mein Elfenfürst, man muss das eilends machen.

Die Nacht durchpflügt den Dunst mit schnellen Drachen,

Auroras Bote kommt schon strahlend dort;

Der scheucht die Geister, die noch umgehen, fort

Zum Kirchhof. Seht der armen Seelen Heer,

Am Scheideweg begraben und im Meer,

Wie’s in sein wurmiges Bett hinunter flieht,

Damit der Tag nicht seine Schande sieht.

Drum haben sie sich selbst vom Licht verbannt

Und ewig zur schwarz-braunen Nacht gewandt.

Er drehte sich um und lag da, während er ihr beim Schlafen zusah. Ihr butterfarbenes Haar, ihr rosiges Ohrläppchen. Er fuhr sanft über ihre Schulter, sodass sie nicht wach wurde. Es gibt so vieles, was du über meine Mutter nicht weißt.

Lieber Gott, sagte Daisy, mach aus mir ein Werkzeug deines Friedens; wo Hass ist, lass mich Liebe säen; wo Schmerz ist, Vergebung; wo Zweifel ist, Glauben; wo Verzweiflung ist, Hoffnung; wo Dunkelheit ist, Licht; wo Trauer ist, Glück …

Hexenstunde. Die Tiefen der Nacht, in denen die Alten und die Schwachen und die Kranken loslassen und sich die Membran zwischen dieser Welt und der anderen zu einem hauchdünnen Nichts dehnt. Der Mond weiß, das Tal blau. Sie steht auf dem Hügel. Die Tiere spüren, dass etwas nicht stimmt, und verkriechen sich. Hasen, Mäuse, Nachtschwalben. Sie blickt zum Haus hinunter. Das Terrassenlicht geht an und wieder aus. Eine Lampe brennt in einem Schlafzimmerfenster. Sie läuft los, das Gras nass unter ihren nackten Füßen. Sie klettert über einen Holzübertritt und eine Natursteinmauer und läuft quer über die dahinterliegende Rasenfläche. Die Lampe im Schlafzimmerfenster erlischt.

Sie läuft weiter durch ein Stück wuchernden Ginster und gelangt auf den Weg, der sich um das Haus windet. Dornen zerreißen ihr Kleid, und als sie auf die gesprungenen Natursteine tritt, sind Schnittwunden an ihren Schenkeln und Waden, die tropfen und glitzern. Jemand windet sich im Halbschlaf und bleibt schließlich ruhig liegen.

Die Verlockung menschlicher Dinge. Sie umrundet das Haus entgegen dem Uhrzeigersinn und betritt die Veranda. Die Tür ist für sie kein Hindernis. Sie steht auf den kalten Flurfliesen, Mäntel hängen wie Fledermäuse auf ihren Messinghaken, ein Durcheinander an Schuhen. Sie kann alles fühlen, Jahrhunderte des Wohnens, Farbe über Farbe über Putz über Stein.

Ihre Mutter und ihr Vater schlafen in dem Zimmer zu ihrer Linken. Sie läuft den Flur hinunter, legt die Hand auf den kleinen Hundekopf aus Metall, der den Treppenpfosten ziert, und bahnt sich ihren Weg nach oben. Die alten Dielen lautlos unter ihren Füßen. Bienenwachs und Kampfer, kleine Lavendelsäckchen in den Kleiderschränken. Oben am Treppenaufgang hängt ein Bild, auf dem ein Bär und ein Hund miteinander kämpfen. Dieser Menschengeruch. Moschus, Süße, Fäulnis. Sie läuft durch die Diele ins Schlafzimmer.

Die Kunst des täglichen Gebets. Neutrogena-Handcreme. Jeans, Unterhose und ein blaues Matrosenkleid liegen gefaltet auf dem Stuhl. Das Mädchen windet den Kopf auf ihrem Kissen, ihre Hände kämpfen sich durch erträumte Spinnweben. Sie weiß, dass noch jemand im Zimmer ist. Sie stöhnt etwas, das kein Wort ist.

Hasst sie dieses Mädchen oder liebt sie es? Vielleicht fragt sich das jeder über die eigene Schwester. Ist dies das Mädchen, das ihr Leben gestohlen hat? Oder ist dies das Mädchen, das sie geworden wäre? Sie streckt die Hand aus und legt sie ihr auf die Schläfe. Daisy wehrt sich, doch Karen nimmt die Hand nicht weg.