Richard steckt die winzige, weihnachtsbaumförmige Zahnzwischenraumbürste in den weißen Griff und macht sich an seine Vorderzähne, oben und unten, Schneidezähne, Eckzähne, Backenzähne. Er mag die Enge, das Drücken und Ziehen, mit dem man die Zwischenräume richtig sauber bekommt, doch nur ganz hinten, zwischen vorderen und hinteren Backenzähnen, wird man mit dem fauligen Geruch der vom Zucker lebenden Bakterien belohnt.
Fürchterlicher Mundgeruch. Lächerlich, dass es offenbar unhöflich ist, Menschen darauf aufmerksam zu machen. Arnika im Regal über seinem Rasierer. Welchem Idioten gehörte das denn? Die Homöopathie hatte es mittlerweile in den Nationalen Gesundheitsdienst geschafft. Wahrscheinlich steckte Prinz Charles dahinter. Lächerlicher Mensch. Hallo liebe Bäume, wie geht es euch heute Morgen? Kommt, wir werfen in Reading ein paar Nurofen in den Fluss, und niemand in London muss mehr unter Kopfschmerzen leiden. Er spült sich den Mund mit Corsodyl aus.
Die unerträgliche Einsamkeit, nachdem Jennifer ihn verlassen hatte. Die Geräusche eines nächtlichen Hauses. Mit zweiundvierzig den Grund für Small Talk erfahren. Bin auf dem Weg zum Pub. Früher hatte er das für Zeitverschwendung gehalten.
Er spuckt aus, spült mit kaltem Wasser nach und trocknet sich mit einem weißen Handtuch den Mund ab. Er dreht sich um und sieht sich selbst in der verspiegelten Schranktür, sein Gesicht noch verquollen von der Flüssigkeit, die sich dort nachts sammelt, bevor die Gravitation ihr Übriges tut und es wiederherstellt. Angeblich soll man ja seinen Vater sehen, der einen anguckt, aber so geht es ihm nie. Er zieht an der Kordel der Lampe und geht ins Schlafzimmer, um sich anzuziehen.
Alex zieht sich hoch und steht auf dem Trigonometer. Er ist der höchste Punkt im Umkreis von was? Fünfzig Meilen? Hundert? Er dreht sich langsam, als würde sich die Erde wie ein Rad um ihn drehen, die Ausläufer der Black Mountains im Süden, im Norden liegt Hay wie ein Dorf in einem Eisenbahnmodell. Der Wind umweht ihn. Er stellt sich vor, Louisa gegen die Badezimmertür zu ficken. Sie hakt ihre Beine hinter seinem Rücken ineinander und sagt: Ja, fester, ja, und die Tür bollert und bollert und bollert.
Sie sind verantwortlich für die höchste Staatsverschuldung der jüngsten Vergangenheit.
Dominic bereute es, ein Thema angeschnitten zu haben, über das Richard etwas zu viel und er selbst etwas zu wenig wusste, denn jedes Mal, wenn er zum Wirtschaftsteil der Zeitung gelangte, überkam ihn fürchterliche Langeweile, so als würde dieser Themenbereich durch schwarze Magie vor unerwünschten Eindringlingen beschützt. Also sollen wir einen Mann wählen, der sich auf keine politische Agenda festlegen will? Doch es war verlorene Liebesmüh.
Am anderen Ende des Tisches las Angela den Reiseteil des Observer. In der Nacht hatte es eine Nachricht über die Berge geschafft: Vermiss dich. Kuss, Amy XX. Wenn er ihr das mit Amy nie beichtete, war er immer noch der bessere Vater und der bessere Mensch, denn er liebte Daisy bedingungslos. Und da war sie auch schon, sie kam rein mit einer Schüssel Cornflakes in der Hand. Die Menschen sind gierig und sich selbst am nächsten. Sie setzte sich hin, so weit weg von Melissa wie möglich, obwohl nur Dominic diese Geometrie auffiel. Sie geben ihre Stimme nur denen, die ihnen genau das versprechen, was sie haben wollen. Sie sind wie Kinder und Süßigkeiten.
Doch sie sprach gar nicht von der Menschheit im Allgemeinen. Sie sprach von Richard und sie sprach von Melissa, nicht wahr?
Aber die Dinge bessern sich, sagte Richard, vorsichtig. Es ist ein chaotischer Vorgang, aber langsam wird es besser.
Für wen?, fragte Daisy.
Keiner von ihnen interessierte sich wirklich für die Wahlen, außer vielleicht als eine Art nationale Seifenoper, bei der die Knappheit des Ergebnisses aufregender war als der tatsächliche Gewinner. Jeder für sich hatte leidenschaftliche Meinungen zu den Budgets von Allgemeinmedizinern, Privatschulen oder dem Asylrecht, doch keiner von ihnen war der Ansicht, dass irgendeine Partei bei dieser oder anderen Fragen ihre Versprechen hielt. Louisa konnte sich kaum vorstellen, sich selbst zu verändern, geschweige denn die Welt, und dass Richard Leben rettete, schien ihn von allen übrigen Pflichten zu entbinden. Angela und Dominic waren damals für die Minenarbeiter in Doncaster und die Buchdrucker in Wapping auf die Straße gegangen, doch ihre Freude über den Aufstieg Tony Blairs war schnell in Wut, danach in Enttäuschung und schließlich in Apathie gegenüber der Politik im Allgemeinen umgeschlagen. Alex plante, die Torys zu wählen, denn so wählte man als derjenige Mensch, der er werden wollte. Melissa kultivierte eine Ablehnungshaltung, die sich anspruchsvoll anfühlte, und Daisy kultivierte eine Unwissenheit, die sich wie Demut anfühlte. Benjy ging es hauptsächlich um das Schicksal der Tiger und der Pandas und der Wale, und er war insofern weit mehr auf die Zukunft des Planeten bedacht als der Rest von ihnen.
Daisy hatte sich nie wirklich mit Lauren unterhalten, bevor sie gemeinsam fürs Schulteam schwammen und morgens um sechs, vor dem Unterricht, ihre siebzig Bahnen im Wheelan Centre absolvierten. Lauren war sechzehn und eins achtzig groß, bewegte sich so würdevoll im Wasser, wie sie außerhalb davon ungelenk war, wo sie geduckt lief und nur sehr leise sprach, um ihrer Erscheinung entgegenzuwirken, noch keine Frau, aber auch kein Mädchen mehr. Sie trug weite Klamotten, um von sich abzulenken, doch wenn sie ihren grünen Badeanzug trug, war Daisy paralysiert von der Länge ihrer Beine und ihres Nackens und von ihrer weißen Haut: Sie konnte nicht wegsehen, wie bei jemandem mit nur einem Arm oder einem Storchenbiss. Lauren schloss sich Daisy mit einer Bereitwilligkeit an, wie diese sie nicht mehr erlebt hatte, seit sie sechs oder sieben war, sodass sie plötzlich wieder eine Art Baumhauswelt miteinander teilten. Irgendetwas an Laurens Größe gab Daisy das Gefühl, sich verstecken zu können wie ein kostbarer Gegenstand. Die Jungs nannten Lauren einen Freak und machten einen Bogen um sie, obwohl Daisy bereits klar war, dass, wenn sie etwas älter und selbstbewusster wäre und die Jungs nicht mehr so bedacht auf das, was ihre Kumpels dachten, alle sehen würden, wie schön sie war. Lauren reagierte, indem sie so tat, als existierten diese Jungs gar nicht, sogar Jack, der es nicht ertragen konnte, von jemandem nicht beachtet zu werden, der noch Bücher mit Zauberern darin las, ein Zorn, den Lauren in gleichem Maße an ihn zurückgab, sodass Daisy es schnell leid wurde, der Preis in einem sinnlosen Hahnenkampf zu sein.
Doch Lauren war die Einzige, die nicht aus allen Wolken fiel, als Daisy in die Kirche eingetreten war. Sie hätte dankbar dafür sein sollen, doch … was war ihr Problem? Laurens unverhohlene Freude darüber, den Wettkampf durch Disqualifizierung des Gegners gewonnen zu haben? Ihre unverwüstliche, hündische Loyalität? Also stieß sie Lauren weg und als Lauren sich an sie klammerte, stieß sie noch fester, denn sicher war es doch verletzend, wenn eine Freundin sich nicht um deine Gefühle scherte. Sie hörte auf zu schwimmen, rief nicht mehr an, ging nicht mehr ans Telefon. Einmal klingelte Lauren bei ihr zu Hause und Daisy bat ihre Mum darum, auszurichten, sie sei nicht da, und sie konnte nicht sagen, was sich schlimmer anfühlte, ihr eigenes Verhalten oder Mums Entzücken über ihre unchristliche Verlogenheit.
Laurens Größe und ihre in die Scheidung verstrickten Eltern und die Tatsache, dass sie ebenfalls mit dem Schwimmen aufgehört hatte, sorgten dafür, dass ihre Magersucht lange Zeit niemandem auffiel. Daisy glaubte nicht, dass das Ganze etwas mit ihr zu tun hatte, denn das wäre egozentrisch gewesen. Doch sie kontaktierte Lauren auch nicht, um ihr Hilfe und Unterstützung anzubieten. Während Laurens kurzem Krankenhausaufenthalt besuchte Daisy sie nicht ein einziges Mal, und als Laurens Mutter mit ihr nach Gloucester zog, spürte Daisy eine Art Erleichterung, die überhaupt keine Erleichterung war.
Benjy goss drei Zentimeter Essig in den großen Plastikbehälter.
Und jetzt, sagte Richard, tu das Kaiser Natron in den Eierbecher.
Das wird so cool. Ungeschickt schüttete Benjy das Pulver in den Becher. Hast du das als kleiner Junge auch gemacht, Onkel Richard?
Dafür war ich viel zu brav. Er versuchte, nicht an die Kinder zu denken, die er hätte haben können. Den nächsten Schritt übernehme ich.
Glaubst du, er fliegt übers Dach?
Wir werden ja sehen. Vorsichtig stellte er den Eierbecher in den Essig. Die Flüssigkeit ragte genau bis zu seinem Rand. Perfekt. Er drückte den Deckel auf das Behältnis.
Kann ich?, fragte Benjy.
Einmal kurz schütteln und dann nichts wie weg.
Zehn, neun, acht … Benjy hockte sich hin … zwei, eins … Start! Er schüttelte und setzte seinen Teddy auf die Vorrichtung und vergaß, sich zu entfernen, sodass Richard ihn an der Schulter wegzog. Und nichts passierte. Vielleicht müssen wir es nochmal machen, sagte Benjy, doch Richard sah, wie sich der Plastikdeckel unter dem Teddy wölbte. Warte. Etwas knackte wie ein im Eis gefangenes Schiff, und der Knall war um einiges lauter, als Richard vermutet hätte, seine komplette Hose war voller Schaum, und es roch wie nach einem Furz (Natriumacetat?), und obwohl der Teddy nicht ganz über das Dach flog, blieb er immerhin in der Kletterrose hängen, gleich unter dem Fenster im ersten Stock. Benjy johlte, und plötzlich sah Richard das Ganze mit dessen Augen und es war wirklich das Witzigste, was er seit langem gesehen hatte, und Benjy rief: Nochmal, nochmal, nochmal, als Angela in der Haustür auftauchte. Ich dachte, eine Bombe wäre explodiert.
Ich kann dich später einfügen, wie einen Ersatztorwart, sagte Alex. Sie hatte keine Ahnung, wovon er redete, und überprüfte gedanklich ihr Outfit. Ugg Boots, gemusterte Leggins unter Hotpants aus Jeans und ein Holzfällerhemd … Sie wusste nicht, ob sie sich geschmeichelt oder angeekelt fühlen sollte, doch es schien nicht der richtige Zeitpunkt dafür zu sein, es sich mit noch jemandem zu verscherzen. Bitte lächeln. Klick. Dreh dich zum Haus. Klick. Sie wusste, dass sie gut aussah. Ihre einzige Angst war es manchmal, nicht außergewöhnlich genug auszusehen, dass die Leute sie für eine von vielen hielten. Manchmal sah sie ein Mädchen mit gemusterten Docs und rotem Pixie-Haarschnitt und wünschte sich, dass sie den Mumm hätte. Klick. Jetzt setz dich auf die Mauer. Wie so ein notgeiler alter Opa. Klick. Du solltest Model werden, Schätzchen. Jetzt zeig uns deinen Arsch. Ich glaube, das reicht jetzt.
Wow, sagte Alex. Das war super.
Außer, dass er die Bilder wahrscheinlich nicht zum Wichsen benutzen würde, weil ihm eine gewisse Fiesheit an Melissa aufgefallen war, die ihr selbst in seinen Sex-Fantasien anhaftete. Außerdem favorisierte er jetzt Louisa. Er war stolz darauf, dass sein Geschmack in so kurzer Zeit gereift war.
Es ist nicht weit. Richard lehnt sich über die Ordnance-Survey-Karte, als plane er einen Angriff auf Nordfrankreich. Höchstens ein paar Meilen.
Louisa klopft sich einige Toastkrümel vom Pulli. Diese kleinen braunen Linien sind ziemlich nah beieinander.
Daisy sitzt am Fenster und liest Dracula. Wir dürfen keine Geheimnisse voreinander haben. Unsere Rettung ist jetzt schonungslose Offenheit.
Angela taucht im Durchgang zur Küche auf. Will noch wer ein Sandwich? Es gibt Tomaten-Mozzarella, Cheddar und eingelegte Gurken, Marmelade, Schinken …
Kannst du die Birnen und Bananen einpacken?
Benjy kommt rein und singt gedankenversunken Whip-Crack-Away!
Hast du abgezogen?
Beleidigt dreht er sich um und läuft auf gleichem Wege zurück.
In den letzten zehn Jahren ist Angela nicht mehr als eine Meile am Stück gelaufen, aber sie will nicht zweimal hintereinander kneifen und ist fest entschlossen, Dominic zu beweisen, dass er unrecht hat und sie tatsächlich ein Teil der Familie ist.
In der Ferne ertönt die Klospülung.
Wo steckt Melissa? Richard macht sich plötzlich viel intensiver um sie Sorgen als zuvor. Diese vagen Gedanken über eine Vaterschaft. Sie ist hoffentlich kein zweites Mal getürmt?
Sie ist oben, sagt Alex. Sie macht sich schön. Diese Worte könnten auch von seinem Vater stammen.
Louisa überlegt, in die Küche zu gehen und zu helfen, aber ihr ist noch immer etwas mulmig in Angelas Gegenwart. Sie kann sie sich immer noch nicht als Lehrerin vorstellen. Sie hatte mehr Wärme erwartet, mehr Offenheit.
Daisy blättert eine Seite im Buch um. Wenn diese schreckliche Gechichte von Lucys Tod mit all seinen Folgen endlich vorüber ist, werde ich mich in meinem Sessel kraftlos zurücklehnen.
Dominic warf einen Blick auf Benjys Füße. Du gehst garantiert nicht in Sandalen diesen Berg hoch.
Klick. Alle versammelten sich kurz und posierten und lächelten ihrem zukünftigen Selbst entgegen. Strände und Kathedralen, Autoscooter und Geburtstagsfeiern, erhobene Gläser um einen Esstisch herum. Jedes Foto eine kleine Pause zwischen den Ereignissen. Keine Konflikte, keine Krankheit, keine schlechten Nachrichten, all die wichtigen Dinge passierten davor und dazwischen und danach. Die wahrhaft großen Wunder geschahen nur, wenn die wundersame Technik versagte, der Geist der Tochter, der sich während der Aufnahme bewegte, ihr Gesichtsausdruck nicht lesbar, aber lebendiger als ihre restliche eingefrorene Familie. Doppelte Belichtung, als hätte man den Film der Vergangenheit einmal gefaltet. Kratzer und blendendes Sonnenlicht. Fotos, die man nach der Scheidung entzweiriss. Zerkratzte oder mit Kuli übermalte Gesichter. Die Kamera zeigte nur die Wahrheit, wenn ihr etwas durch ihre silbernen Finger glitt.
Wenn wir noch ein bisschen länger Pause machen könnten. Ihre mangelnde Fitness machte Angela selbst Angst. Leuchtende Protozoen flirrten vor ihren Augen.
Richard drückte sein Handy aus und schüttelte genervt den Kopf. Man könnte meinen, dass man mit fünfundzwanzig im Stande wäre, eine Ferienvertretung für sich zu organisieren. Und so jemand ist für andere Menschenleben verantwortlich. Manchmal ist es zum Verzweifeln.
Kann ich was essen?, fragte Benjy.
Du kannst eine Banane haben.
Aber das ist nur Obst.
Affen mögen Bananen.
Affen essen Flöhe.
Kühle graue Luft. Angela sah den Berg hinunter zum geschrumpften Haus. So viel Aufwand dafür, um was? Dreißig Höhenmeter zu überwinden? Sechzig? Man wurde sich dessen bewusst, dass man auf der Oberfläche eines Planeten wohnte, man bewegte sich vor und zurück und im Kreis, war jedoch auf ewig gefangen zwischen Himmel und Erde. Sie stellte sich die Aussicht als ein Pappmaché-Modell im Schulflur vor. Das Goldene Buch geht an die Seacole-Klasse. Sie dachte an die Kinder, die noch nie auf dem Land gewesen waren. Kaylee, Milo. Mikelas Dad hatte die ganze Sache mit dem aufs Land fahren überhaupt nicht nachvollziehen können. ›Lasst uns einen schönen Spaziergang machen‹, das sollte auf dem Union Jack stehen. Wobei, als sie und Dominic ihre erste und einzige Nacht in einem Cottage des National Trust verbracht hatten, waren die Wände mit Sklavereimotiven verziert gewesen. Schwarze Männer in Ketten, die mit einem Kanu zu einem großen Schiff gebracht wurden.
Daisy setzte sich neben Melissa, der sie ihren restlichen Kaffee anbot. Tut mir leid wegen gestern. Sie wollte Melissa von Lauren erzählen, aber das wäre eine zu lange Geschichte geworden, und sie wollte ihr nicht eine noch größere Angriffsfläche bieten. Melissa antwortete nicht. Daisy stand auf. Jetzt, da sie sich entschuldigt hatte, fühlte sie sich besser, auch wenn ihre Entschuldigung gar nicht angenommen worden war.
Hast du viele Freunde?
Daisy fragt sich, ob Melissa das sarkastisch meinte.
Du weißt schon, andere Christen?
Wir dürfen auch Freunde haben, die keine Christen sind.
Sorry, war ’ne blöde Frage.
Dad hatte recht: Ihre alten Freunde hatten sich tatsächlich von ihr entfernt, und was sich zuerst wie eine Art Reinigung angefühlt hatte, hinterließ schließlich ein schmerzvolleres Loch, als sie es sich jemals hätte vorstellen können. Sie wusste, dass es die ganze Zeit da gewesen war, dass ihre Freunde ein Pflaster über einer Wunde gewesen waren, die nun heilen konnte, doch sie konnte sich noch immer nicht zu einer Antwort durchringen, also drehte sie die Frage um.
Du hast wahrscheinlich jede Menge Freunde.
Melissa lachte nur. Alles Arschlöcher. Sie atmete tief ein und drehte sich zu Daisy. Tut mir leid, dass ich so viel fluche.
Wir dürfen sogar fluchen. Obwohl Tim sie mal zurechtgewiesen hatte, nachdem sie Scheiße gesagt hatte.
Ich fühl mich so scheiß einsam. Die Welt hörte einen Augenblick lang auf, sich zu drehen. Da hast du’s wieder. Scheiße, scheiße und nochmal scheiße. Sie presste ihre Augen zusammen, doch die Tränen ließen sich nicht aufhalten.
Okay, Leute, sagte Dominic. Alles aufsitzen, wir machen uns vom Acker.
Daisy blickte auf den Boden zu ihren Füßen. Ein kleiner gelber Moos-Archipel auf einem fleckigen grauen Stein.
Kommt ihr?, rief Dominic.
Melissa hat sich einen Splitter eingefangen. Geht ruhig schon mal vor. Sie beobachtete ihre Mutter dabei, wie sie sich aufrichtete, und sah, dass es ihr Schmerzen bereitete.
Danke, sagte Melissa leise.
New Leaves spaltete sich 1999 von der Vineyard Church ab. Tim und Lesley Canning empfanden die Richtung, die ihre Kirche nahm, zunehmend befremdlich. Rockmusik, Torontosegen, in Zungen sprechen. Sie hielten Treffen in ihrer Küche ab, als ihre Anhängerschaft wuchs, verlagerten sie die Zusammenkünfte ins Gebetshaus, und schließlich mieteten sie eine leerstehende Judohalle an. Sie lag nahe der Universität und war ein sicherer Hafen für junge Menschen, die oft weit weg von zu Hause lebten. Singapur, Uganda, Philippinen. Sie hatten einen Stand auf der Freshers’ Fair und hielten im Sommer wöchentliche Frisbee-und-Donut-Nachmittage ab. Die meisten Kirchenmitglieder gingen jede Woche für ein paar Stunden im Rahmen des Heilsprojektes raus auf die Lever Street. Tim hatte nie viel von fahnenschwenkendem Straßenevangelismus gehalten, denn Gott rettete schließlich Seelen, keine Massen, also verwickelten sie Menschen in Gespräche, die einsam oder gebrochen aussahen, von denen viele Hilfe bitter nötig hatten. Sie bildeten einen Kreis und beteten, und oft strömte die Gegenwart Jesus wie Elektrizität durch ihren Kreis. Der Krebs eines der Männer bildete sich zurück. Einem anderen Mann konnten erfolgreich die Dämonen ausgetrieben werden, die Besitz von ihm ergriffen hatten, und seither hörte er keine Stimmen mehr in seinem Kopf.
Zuerst hatte Daisy das alles absurd gefunden, doch die Absurdität war später Teil der Anziehungskraft geworden, die schiere Entfernung, die zwischen der Kirche und der Welt lag, die ihr so übel mitgespielt hatte. Sie hatte die angenommene Einladung zu ihrem ersten Gottesdienst als eine Art Beweis für ihre eigene Toleranz gesehen und davon hatte es wirklich eine ganze Menge gebraucht, um ihn zu überstehen. Hauptsächlich war es peinlich gewesen, die Art, wie diese Leute sprachen und sangen, wie aufgeregte Kinder, und später auch ein wenig abstoßend, als sie aufgefordert wurden, ihren Nachbarn zu umarmen, und sie sich für einen Moment in den Armen eines Mannes wiederfand, der, bei aller Liebe, stank. Und dies wäre auch ihr einziger bleibender Eindruck gewesen, wäre nicht ihr schnurgerader Weg zum Ausgang von einer zierlichen Inderin mit Armreifen und einem überraschend roten Kleid und einem Lächeln unterbrochen worden, das Daisy die einzig wahrhaftige Geste zu sein schien, seit sie gekommen war. Sie streckte ihr die Hand entgegen. Anushka. Du bist sicher Daisy.
Ich habe etwas Schlimmes getan. Sie saßen etwas abseits von den anderen, weit genug, um sich ungestört zu fühlen, und nahe genug, dass Richard nicht brüllen oder weglaufen konnte. Dieses Gefühl wie unter einer Käseglocke, alle Geräusche weit entfernt und gedämpft. Sie meinte, sich tatsächlich gleich übergeben zu müssen.
Soll das heißen, du bist vorbestraft oder etwas in der Richtung? Richard lachte, er hatte den Bruch in ihrer Stimme überhört.
Nein, nicht so was.
Jetzt hörte er ihn, doch er konnte sich Louisa nicht als eine Frau vorstellen, die je etwas von großer Bedeutung getan hatte, weder im Guten noch im Schlechten, sondern eher wie jemanden, der sich selbst zurückgenommen hatte, damit andere Menschen Dinge von großer Bedeutung tun konnten.
Was denn?
Sie schloss ihre Augen. Es gab kein Zurück. Nachdem Craig sich von mir getrennt hat, habe ich mit vielen Männern geschlafen.
Mit wie vielen? Der Arzt in ihm kam durch.
Zehn. Mit zehn Männern. Eine kleine Notlüge. Klang es sehr schlimm? Vielleicht nur, wenn man den Zeitraum kannte. Ich habe damals viel getrunken. Jetzt, da es raus war, kam es ihr nicht mehr so schrecklich vor. Sie war einsam gewesen. Sie hatte Fehler gemacht. Sag was. Bitte.
Ich denke darüber nach. Er wollte die Details wissen und doch auch nicht wissen.
Wenn er nur seine Arme ausstrecken und sie festhalten würde. Ich habe einen Aidstest gemacht. Aber der Satz klang nicht sehr beruhigend, als sie ihn aussprach … Blut und Sperma. Es tut mir wirklich leid. Aber warum entschuldigte sie sich bei ihm? Warum hatte er sie nicht eher retten können?
Er wusste nicht, was er sagen sollte. War er verklemmt? Natürlich war er das, doch wie sollte er daran etwas ändern?
Richard …?
Ich finde es etwas beunruhigend.
Was? Ihr Ärger überraschte sie selbst. Es ekelte ihn. Sie versuchte, ihre Stimme zu kontrollieren, damit Dominic oder Angela sie nicht hörten.
Ich versuche nur, ehrlich zu sein.
Ich habe dir blind vertraut. Das Mädchen. Das Mädchen, das jetzt im Rollstuhl sitzt. Ich habe nie daran gezweifelt, dass du …
Das ist etwas anderes.
Warum ist das etwas anderes, Richard …?
Es war nicht meine Schuld.
Glaubst du denn, dass ich mich absichtlich wie eine …
Er konnte sich nicht zügeln. Man schläft nicht versehentlich mit zehn Männern. Das war für ihn ein Fakt, er wollte sie nicht verletzen.
Liebst du mich eigentlich, Richard? Oder findest du nur meine Gesellschaft ganz angenehm, solange ich keine Probleme bereite?
Natürlich liebe ich dich. Es klang automatisiert. Das hatten sie beide gehört, doch er konnte seinen Tonfall im Nachhinein nicht verändern.
Ich bin mir nicht sicher, ob du überhaupt weißt, was Liebe ist. So hatte sie noch nie geredet, nicht mit Richard. Der kranke Nervenkitzel dabei, sich auf Messers Schneide zu bewegen.
Ich weiß, was Liebe ist.
Dann sag es mir.
Sich lieben bedeutet … Aber was konnte er sagen? Das war schließlich nichts, worüber man redete.
Sie stand auf. Warum kommst du nicht einfach zu mir, wenn dir etwas eingefallen ist.
Die Priorei, die damals inmitten eines barbarischen Volkes im Vale of Ewyas errichtet wurde, ist heute ein Hotel mit vier Zimmern, von denen jedes über die Wendeltreppe des Turmes zugänglich ist. Wir empfehlen unseren Gästen, während der Öffnungszeiten unserer Bar anzureisen, um eventuelles Warten vor der Tür zu vermeiden. Zerfallene Bögen wie die Beine einer riesigen Steinspinne. Transept, Triforium, Obergaden. Achthundert Jahre Wind und Regen und Raubzüge. Sir Richard Colt Hoare wird 1803 Zeuge des einstürzenden Fensters nach Westen. Felder wie grüner, gemähter Filz. Holly Hop und Brains Dark im kühlen Gewölbe der Bar. Snickers und Eiscremebecher von Ben&Jerry’s mit Holzlöffel unter dem Plastikdeckel. Autos bahnen sich entgegen dem Fluss gefrorener Wasserfälle ihren Weg hoch durch das Tal zum Gospel Pass, sie stoppen, wenn ein Lkw zurücksetzen muss oder fahren gemächlich den Fahrradfahrern hinterher. Ein Treck mit vier Ponys. Ein Grauschimmel, ein Brauner und zwei Füchse. Für kurze Zeit bildet sich eine Himmelsleiter aus Sonnenlicht, als mache der Himmel Jagd auf die Räuber auf Erden.
Benjy pflückt sein Sandwich auseinander und leckt die Marmelade von beiden Brotscheiben.
Bitte lächeln, sagt Alex. Klick.
Hey. Dominic setzt sich neben Angela. Er liebt sie wieder. Vielleicht ist es nicht direkt Liebe, er fühlt sich auf eine Art in ihrer Gegenwart wohl, wie er es seit Jahren nicht mehr getan hat. Er ist derjenige, der sich kümmert. Das steht völlig außer Frage. Er kann so viel Vergeben austeilen, wie es ihm beliebt. Im Hotel hatte er Amy auf der Toilette eine SMS geschickt, Denk an dich kann nur kurz schreiben in Liebe D XX. Er fragt sich, ob Angela wirklich krank ist, psychisch. Auch das ist ein Trost. Was hältst du davon? Er deutet mit dem Kopf in Richtung Daisy und Melissa, die auf einem eingestürzten Pfeiler sitzen und reden.
Ihre Waden schmerzen, und sie hat eine Blase an der linken Hacke. Vielleicht ist Melissa ein schlechter Einfluss. Gestern, als Daisy sie stehen ließ, hatte sie das Ganze aus ihrer Perspektive gesehen. Denn genau das wollte Dominic doch schließlich, oder? Vielleicht tut es ihr auch gut.
Warum hast du so ein Problem mit dieser Kirchengeschichte?
Sie hatte keine Lust, jetzt darüber zu reden. Weil sie meint, dass sie recht hat und alle anderen unrecht.
Trifft das nicht ungefähr auf alle Teenager auf dieser Welt zu?
Angela fühlte Karens Anwesenheit.
Wenn ich ehrlich bin, sagte Dominic, denke ich, dass sie Angst hat, dass alle anderen recht haben und sie nicht. Er wusste, dass er den Klugscheißer raushängen ließ, doch das machte es nicht weniger wahr.
Und plötzlich lief Louisa in Richtung Café an ihnen vorbei und starrte stur geradeaus. Dominic dachte, dass sie vielleicht geweint hatte, doch Angela warf Benjy ein feuchtes Tuch zu und sagte: Dein ganzes Gesicht ist voller Marmelade, junger Mann.
Weiße Haut und überall schwarze Haare, sagte Melissa. Ich meine, auch auf dem Rücken und so. Das ist auf jeden Fall das Widerlichste.
Riesige Muskeln. Daisy lachte. Und Tattoos. Ich hasse Tattoos.
Melissa sah sie an. Ich hab einen Vogel auf dem Hintern. Sie standen am Rand des verwunschenen Waldes, der König und sein Urteil weit hinter ihnen. Ich zeig’s dir später, wenn du versprichst, dass du mich nicht verpetzt. Und träufle ihn auf ihre Augen dann.
Tja, dann muss ich in deinem Fall wohl eine Ausnahme machen. Daisy fragte sich, ob die Kirche auch ein Vogeltattoo war. Zweifel, dieses Geschwür im Herzen.
Prinz Albert hatte einen Ring im Penis, damit er ihn sich ans Bein binden konnte. Muss ein ganz schönes Monster gewesen sein. Melissa lachte, und alle drehten sich um und fragten sich, worüber die beiden wohl redeten.
Okay, du hast gewonnen. Das ist definitiv das Widerlichste.
Also … Melissa berührte Daisys Arm, um ihr zu zeigen, dass sie es ernst meinte. Wie ist das jetzt mit Religion bei dir? Es war nicht Neid. Eher eine Art zoologische Faszination.
Daisy zögerte. Sie hatte sich diesen Moment in den letzten Tagen so oft vorgestellt, aber jetzt, da er gekommen war … Wie sollte sie darüber reden, ohne jenes namenlose Etwas zu vertreiben, das zwischen ihnen in der Luft hing? Fragst du dich nicht auch manchmal, ob alles egal ist oder ob es einen tieferen Sinn gibt? Die Mutter aller Platitüden. Wenn sie sich bloß origineller ausdrücken könnte.
Manchmal schon, denke ich.
Shakespeare, die Pyramiden, Menschen … Sie sah Benjy an, wie er mit seinem Nintendo spielte und es kam ihr wirklich wie ein Wunder vor. Ich meine, das alles kann doch kein Zufall sein … Wie sollte sie all diese Gefühle der Überwältigung ausdrücken? Du guckst nachts hoch in den Himmel und er ist schön, aber auch furchterregend. Geht es dir nicht so?
Schon, irgendwie. Aber ging es ihr wirklich so? Ihre Ängste lauerten immer irgendwo in der Nähe und hielten sie auf dem Boden der Tatsachen.
Was wäre, wenn du nie aufhören könntest, darüber nachzudenken?
Dann würde ich mir wahrscheinlich ein paar verdammt starke Antidepressiva besorgen. Melissa lachte. Genau das würde sie tun.
Manchmal fühle ich mich unsichtbar. Ich sehe mich an, und da ist nichts.
Melissa überlief ein Schauer des Wiedererkennens. Alex’ Aufmerksamkeit, die einfach verpuffte. Doch sie war noch nicht bereit für dieses Thema.
Ich hab mal geschauspielert, sagte Daisy. Also, du weißt schon, Theaterstücke und so … Und wenn ich jemand anderen gespielt habe, wusste ich plötzlich, wer ich war. Das hatte sie noch nie jemandem gesagt.
Spiel doch einfach jetzt.
Was?
Das ist so eine Übung, die wir in der Schule gemacht haben. Du tust einen Tag lang so, als wärst du jemand anderes. Blind, taub, jemand, der humpelt, jemand, der unsere Sprache nicht versteht. Eigentlich hatte sie mit der Übung nie aufgehört.
Und wer soll ich sein?
Melissa lächelte. Ich denke, du solltest eine richtige Oberzicke sein.
War es möglich, jemand anderes zu sein? Der Wald, die Fee, Magie.
Oh, meine Herrin muss ein Monster lieben.
Sie würde ihn niemals betrügen. Vielleicht wäre sie manchmal leichtsinnig, fehlgeleitet, aber niemals untreu. Wie merkwürdig, dass ihr Geständnis Richard diese Gewissheit gab. Sie wollte Menschen glücklich machen. War das vielleicht ihr Problem, anderen Männern gefällig zu sein und mit ihren Vorzügen allzu verschwenderisch umzugehen? Er fragte sich, ob er einfach der erste halbwegs anständige Mann war, der ihr über den Weg gelaufen war. Auch machte ihm der Gedanke zu schaffen, dass diese anderen Männer vielleicht, was? risikofreudiger gewesen waren? Aggressiver? Männlicher? Und dass Louisa seine Mängel in diesem Punkt nur in Kauf nahm, weil sie im Gegenzug seine Verlässlichkeit, seinen guten Ruf, sein Geld erhielt?
Jennifers Affäre hatte das Ende ihrer Ehe eingeleitet, nicht wegen ihres Betruges oder ihrer Unfähigkeit, diesen geheim zu halten, sondern weil er so gleichgültig gewesen war. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sie sich hingab oder jemand sie eroberte. Früher hatte er sie für leidenschaftlich gehalten. Er war nie wirklich dahintergekommen, was Frauen wollten, und es war erleichternd und aufregend gewesen, eine Frau gefunden zu haben, die ihre Bedürfnisse so explizit äußerte, aber ihr Beischlaf hatte immer etwas Mechanisches an sich. Schließlich hatte er festgestellt, dass ihre Leidenschaft in Wirklichkeit eine Wut war, über deren Ursprung er sich vergeblich den Kopf zerbrach.
Entschuldigte der Alkohol Louisas Verhalten oder machte er alles noch schlimmer? Vielleicht besaß jeder eine dunkle Seite, die nur durch glückliche Lebensumstände in Schach gehalten wurde. Wer weiß, welches Leben seine Mutter geführt hätte, wenn sein Vater nicht so plötzlich verstorben wäre. Schundromane nach Größe sortiert. Die grünen Melaminschälchen.
Sie hatten den Deich überquert, aus dem Tal blies ihnen kalter Gegenwind ins Gesicht. Er schloss den Reißverschluss seiner orangefarbenen Regenjacke. Nieselregen, Wolkenfetzen über dem Tal wie zerrissene weiße Gardinen.
Sie hatten den Kiesweg oberhalb des Hauses erreicht. Alles okay? Dominic rief ihr etwas zu. Ja, alles okay. Angela machte einen Moment Pause, bevor sie sich über den Zaunübertritt hievte. Sie brauchte ein heißes Bad und Savlon und die Pantoffeln aus Schurwolle, die sie nicht eingepackt hatte. Sie hob den Kopf. Englische Eiche. Quercus robur. Stieleiche, nicht Traubeneiche, wegen der Stängel unter den Eicheln. In einem früheren Leben hatte sie ein Biologiestudium abgeschlossen. Sie schnürte Wissenspakete und gab sie an Kinder weiter, die nach den Klausuren alles wieder vergaßen. Oder schon vorher. Mitochondrien und Ribosomen, der Kohlenstoffkreislauf, Banting und Best. Natur mit großem N. Merkwürdig, dass sie diese nur in geringer Dosierung mochte. Spaziergänge in der Heide und gelegentlich ein Safaripark mit Benjy. Pinguine und Flughunde. Das war, ehrlich gesagt, ihre Obergrenze. Früher hatte sie leidenschaftlich Motten gesammelt, mit Taschenlampe und Musselin. Eulenfalter, Elster, Weidenbohrer, Apfelwickler. Alles war vergänglich. Kaum Leidenschaft mehr für irgendwas. Sie dachte an ihre Mutter. Natürlich war es Physiologie. Myelinabbau, Nervengewirr. Doch der Gedanke war verlockend. Gelangweilt vom Leben. Einfach loslassen.
Etwas bewegte sich in der Ferne. War es …? Sie musste damit aufhören. Vielleicht sollte sie mit jemandem reden. Eine tickende Uhr und eine Kleenex-Box auf dem kleinen Tisch aus Pinienholz. Sie hatte Richard nie nach Jennifer gefragt, warum sie zusammengekommen waren, warum sie sich getrennt hatten. Dominic hatte recht. Sie hielt sich für jemanden, der sich kümmerte, doch sie verwandte all ihre Umsicht auf ihre Schüler. Sie setzte den Fuß auf den kleinen Holztritt und hob ihr schmerzendes Bein an.
Wir führen eine Kanüle in die Femoralarterie ein.
Ist das in der Hüfte?, fragte Benjy.
Ganz genau. Richard streckte die Hand aus und griff sich das Memory-Teil mit dem Galgenmännchen darauf. Bingo. Er reichte es Angela.
Louisa sah vom Fenster aus zu. Er dachte schon gar nicht mehr darüber nach, oder? Craig war wenigstens an die Decke gegangen und hatte Dampf abgelassen. Hatte sie einen fatalen Fehler gemacht? Seine Abschlüsse, die Bücher, Musik.
Das hier, sagte Melissa und starrte auf das Memory, ist garantiert die langweiligste Beschäftigung im gesamten Universum. Doch sie klang nicht mehr so bissig. Ich glaube, ich fange erst an, Memory zu spielen, wenn ich im Altersheim sitze, sagte Daisy. Die beiden Mädchen. Ihr kleiner Freimaurerverein.
Bei mir dauert’s nicht mehr lange, sagte Angela. Sherry um fünf und Schauspielschüler, die Hits aus den Siebzigern mimen. Außer dass es keinen Sherry geben wird, nicht wahr, weil Richard diesmal nicht zahlt. Irgendeine Einrichtung der Gemeinde. Dettol und Fernsehen auf Guantanamo-Lautstärke.
Melissa fand den Mann mit der Laute.
Röntgenaufnahmen sind harmlos, sagte Richard. Pilot. Das ist der Job, den man vermeiden sollte. Signifikant höheres Brustkrebsrisiko bei weiblichem Bordpersonal.
Ist das wirklich das richtige Thema?, fragte Angela.
Alex kam rein und setzte sich neben Louisa ans Fenster. Hier. Er reichte ihr ein Glas Wein. Er flirtete mit ihr, oder? Sie rückte einen Zentimeter näher, sodass sich ihre Schultern berührten. Richard sah herüber. Sie stieß mit Alex an. Cheers.
Er schnitt die Röschen vom Brokkoli und gab sie in den Dampfgarer, dann öffnete er kurz den Ofen und warf einen Blick auf die Süßkartoffeln. Merkwürdig, dass dies jetzt so eine männliche Profession war. Marco Pierre White, Gordon Ramsay. Mit dem Risotto würde ich noch nicht einmal meinen Hund füttern. Er faltete das Wachspapier zurück, schnitt eine kleine Butterpyramide vom Rand ab und gab sie in die Pfanne. Exile on Main Street im Hintergrund. Das beste Doppelalbum der Popgeschichte. Es sei denn, Blonde on Blonde war auch ein Doppelalbum. Also vielleicht das zweitbeste. Aufgenommen in diesem Schloss, das die Gestapo auch genutzt hatte. Tumbling Dice. Keith Richard, der mit einer Spritze im Arsch einschlief. Und jetzt nur noch Firmen-Sponsoring und VW-Werbedeals. Bob Dylan in einem Werbeclip für Damenunterwäsche. Dominic schob die gehackte Zwiebel in die zischende Butter. Als Student war er selbst Vegetarier gewesen. Überall tierische Fette, bevor BSE kam. Kekse, Eiscreme. Einkaufen in der Abteilung für koschere Produkte im Stamford Hill Safeways mit chassidischen Hausfrauen, die Fünfzigerjahre-Perücken trugen. Er wusch Spinat und Koriander und gab beides zu den Zwiebeln. Merkwürdig, diese heimliche Freude über Angelas Misserfolge. Er würde die Sache mit Amy beenden, sobald sie zu Hause ankamen. Kein Sinn mehr. Es ging einzig und allein um sein Selbstwertgefühl, nicht wahr, er wollte sich irgendwie besser fühlen. Er brauchte das jetzt nicht mehr. Der Spinat wurde dunkler und fiel zusammen. Karen, die Tochter, die er nie hatte, erteilte ihm aus ihrem Grab den Segen. Ein Glas Fett in der Mikrowelle. Aber diese Sache mit Daisy und Melissa. Irgendwie mag ich sie. Zitat Ende. Ihre unbeholfene Teenagerscham, nur ja den Blick gesenkt halten, wie lange hatte er das schon nicht mehr an ihr gesehen. Er würde Angela helfen, wieder auf die Beine zu kommen, würde die Familie zusammenhalten, ein richtiger Vater sein. Er gab etwas Mehl auf den butterigen Spinat und rührte um. Er könnte wieder Privatstunden geben. Etwas dazuverdienen. Der Honigduft der schmorenden Süßkartoffeln. Alles würde gut werden. Physical Graffiti. Das war auch eine Doppel-LP, oder? Vielleicht war Exile die drittbeste.
Guck. Melissa hielt kurz inne, sah links und rechts den Flur runter. Sie hob ihren Rock, zog ihr Höschen runter und da war der Vogel, ein kleiner, blau-roter Hüttensänger über ihrem Po, dort, wo ihre Bräune zu Mondscheinweiß wurde. Dort netz ich ihre Augen mit dem Saft. Daisy wollte ihr ein Kompliment machen, aber das kam ihr unpassend vor. Hat es wehgetan? Melissa zeigte ihr das Tatoo zu lange, und es fiel ihr schwer, sich abzuwenden. Der Typ war süß, war halb so schlimm. Sie zog ihr Höschen hoch. Wehe, du sagst es irgendwem … Aber warum sollte sie? Es fühlte sich an wie ihr eigener Regelbruch, nicht wie Melissas.
Angela mochte alles mit Latino-Einschlag, Orchestra Baobab, Buena Vista Social Club (sie hatte schon an so vielen Schulversammlungen teilgenommen, dass an englischen Texten immer ein kleiner weißer Ball in ihrem Kopf entlanghüpfte). Alex stand auf Razorlight, Kasabian, Musik, die man auf Reisen bei heruntergekurbeltem Fenster hörte, wohingegen Daisy die reichen Schwingungen von Chormusik mochte, sodass der Klang des tragbaren Keyboard, in der Kirche in ihr jedes Mal den schuldbewussten Wunsch erregte, Heiligabend in St. Catherine’s zu sein, Kerzen und Holly-Crackle, eine richtige Orgel und die Stimmen von engelsgleichen Jungen. Doch es war Benjy, der genauer hinhörte als sie alle, seit jener Nacht, in der er krank gewesen war und mit Mum Schwere Jungs – Leichte Mädchen gesehen hatte. Singen, tanzen, alles in eine große, süße Zuckertorte gebacken. My Fair Lady. Calamity Jane. Warum konnte man nicht im wahren Leben ein Orchester haben? Manchmal, wenn er sich unbeobachtet wähnte, sang er The Deadwood Stage oder The Surrey With The Fringe on Top. Und wenn er die Straße hinunterlief und mit den Fingern schnipste und kleine, ungelenke Pirouetten machte, dann wussten nur vier Menschen auf der Welt, dass es der Tanz aus der Eröffnungsszene von West Side Story war.
Doch nun lief Monteverdi im Hintergrund. Der Bräter, abgenutzt und verfärbt wie eine Rüstung aus Elizabethanischer Zeit. Angela sieht, wie eine winzige braune Maus über die polierte Holzvertäfelung huscht. Lasst mich raten, sagte Richard. Die Vespern? Irgendwie wirkte er an diesem Abend kraftlos, dachte Dominic. Vielleicht hatten er und Louisa sich in Llanthony tatsächlich gestritten. Jetzt, da er darüber nachdachte, ja, auch Louisa wirkte etwas bedrückt. Und als Dominic sich setzte, schien er Richard an seinem Platz am Kopfende beerbt zu haben, einhergehend mit einer Art Pater-familias-Rolle. Tatsächlich schienen sich alle Rollen verändert zu haben, denn Louisa saß neben Benjy, ein Platz, den sie sich nie selbst ausgesucht hätte, doch sie fragte ihn nach seinen Lieblingsfächern in der Schule, er erzählte ihr, wie sehr er Mathe hasste, und sie zeigte ihm auf einer Serviette, wie man große Summen dividierte. Daisy und Melissa steckten die Köpfe zusammen, und Angela und Alex erinnerten sich an ihren desaströsen Urlaub in Barmouth, die Lebensmittelvergiftung, diese Leute, die von der Flut überrascht worden waren und um Hilfe geschrien hatten. Dominics Pie war gelungen. Er hatte aus den Teigresten einen kleinen Hund geformt und in die Mitte des glasierten Teigdeckels gesetzt, den Benjy essen durfte. Und später, bei einem Espresso, fand Angela sich plötzlich neben Richard wieder und entschied von einem Moment auf den anderen, ihm von Karen zu erzählen. Eine Art Exorzismus. Denn sie hatte ihm damals nicht einmal verraten, dass sie schwanger war, und hinterher schien ihr dieser Umstand zu zerbrechlich, um ihn mit jemandem zu teilen, der beinahe ein Fremder war. Doch in der letzten Sekunde machte sie einen Rückzieher und hörte sich selbst sagen: Was passiert mit den Leichen im Krankenhaus?
Sie kommen ins Kühlhaus, sagte Richard, und wenn die Autopsie abgeschlossen ist, werden sie für den Bestatter freigegeben. Warum fragst du?
Und eine Totgeburt?, sagte Angela. Die Sekunden tickten hin und her wie Wellen gegen eine Hafenmauer.
Je nachdem, wie weit die Schwangerschaft fortgeschritten war und was die Wünsche der Eltern sind, kann der Fötus für die Bestatter freigegeben werden, und dann gibt es eine Art Beerdigung. Er hielt das Zuckerstückchen geradeso über den Kaffee, dass es die Oberfläche berührte, so wie Benjy es manchmal tat.
Und wenn nicht?
Dann kommt er in die Verbrennungsanlage für die medizinischen Abfälle. Er ließ den Zucker in den Kaffee fallen. Aber das ist ein etwas unschönes Thema.
Wenn er die richtige Frage gestellt hätte, ja, dann hätte sie ihm alles erzählt.
Schön festhalten, rief der Schrumpfkopf. Die Fahrt könnte etwas holprig werden. Und der Bus schoss in die Nacht.
Benjy hatte sich durchgesetzt, und alle anderen Filme waren ohnehin zu gewaltlastig oder zu gruselig oder Liebesgeschichten, gegen die Benjy kategorisch ein Veto einlegte. Also fügten sie sich seinen Wünschen, und so ungern es manch einer von ihnen zugab, hatte das Ganze etwas Heimeliges an sich, Zaubersprüche und Zaubertränke, Pflege magischer Geschöpfe. Denn alles in allem war der Ort völlig egal, Combray, Meryton, St. Petersburg, solange er weit weg hinter den sieben Bergen lag, die Reise, die wir früher mit einem Fingerschnipsen zurückgelegt haben und die über die Jahre immer länger und beschwerlicher wird.
Hey, Tiger, sagte Dominic. Benjy hatte sich zusammengerollt und den Kopf in den Schoß seines Vaters gelegt. Er sah den Film im rechten Winkel, doch er kannte ihn so gut, dass er fast gar nicht hinsehen musste. Zeit fürs Bett.
Wenn er bloß hier schlafen könnte wie früher, die tanzenden, knisternden Flammen, vertraute Stimmen, die Monster in Schach gehalten.
Melissa blätterte um und strich über die Seite.
Die Kugel drang in Tapps Brust ein und schleuderte ihn hoch und nach hinten. So viele intensive Eindrücke ballten sich in diesen zwei oder drei Sekunden zusammen, dass sie sich wie Minuten anfühlten. Tapp sah aus, als vollführe er eine Art modernes Ballett. Ich erinnere mich mit absoluter Klarheit daran, dass ich nach unten blickte und eine große Zunge roter Flüssigkeit auf dem weißen Tischtuch sah, die ich zunächst für Tapps Blut hielt, bis mir klar wurde, dass es in sich in Wirklichkeit um das Himbeersorbet handelte, das Jocelyn aus der Hand gefallen war.
Auf alle Fälle hatte es ihm gutgetan. Niemals war er entschlossener, so kräftig, so voller vulkanischer Energie gewesen … Doch Daisy konnte nicht weiter in dem Vampirroman lesen, wollte nicht lesen, wollte nirgendwo anders sein als hier. Eine solche Lebenslust hatte sie schon seit einer Ewigkeit nicht mehr empfunden. Sie hatte vorgehabt, Melissa zu rehabilitieren. Ich fühl mich so scheißeinsam. Die Ernte der Seelen. Doch sie wollte den Bann nicht brechen. War es nicht schön, eine Freundin gefunden zu haben?
Louisa wusch sich das Gesicht und tupfte die Haut mit dem blauen Handtuch trocken. Sie öffnete den Spiegelschrank, und als sie ihn wieder schloss, stand er hinter ihr in der Tür.
Es tut mir wirklich leid.
Mit ›tut mir leid‹ kommt man billig davon, wie Mum zu sagen pflegte. Die Reue nach dem Kaufrausch, Ladenhüter und so weiter. Mir auch. Jetzt hatten sie es beide gesagt, aber nicht gemeint.
Warum hast du mir nicht eher davon erzählt?
Sie nahm die Zahnpasta aus dem Schrank. Um dir die Möglichkeit zu geben, einen Rückzieher zu machen?
Ich hätte keinen Rückzieher gemacht. War das eine Lüge?
Sie putzte sich die Zähne. Für einen kurzen Moment war er ein anderer Mann, der sie ansah. Andere Männer. Ihm war schwindelig. Er schloss die Augen. Manchmal fühle ich mich wie ein kleiner Junge.
Aber sie wollte nicht mit einem kleinen Jungen verheiratet sein.
Marja, Helmand. Der Heckenschütze liegt weit genug vom Fenster entfernt, dass sein Objektiv die Sonne nicht reflektiert. Knall und Rückstoß. Ein Marine bricht unter seinem frischen Knopfloch zusammen. Morgenlicht über den Wildpferden der Khentil-Berge. Huddersfield. Braune Zuckerbläschen auf einem vergilbten Löffel. Schildkröten ertrinken in Öl. Das Surren von Binärzahlen, eine Trillion Einsen und Nullen. Anleihen und Zukünfte werden weggespült. Reckitt Benckiser, Smith & Nephew. Gräben und Magmakammern. Eyjafjallajökull raucht wie ein Hexenkessel. Müdigkeit mischt die Ereignisse des Tages wie ein Kartenspiel. Kelche und Münzen. Der Magier. Der Verräter. Pfeilspitzen und Reifröcke zerschmettert und verstreut in Geisterstädten. Der Klimawandel. Cadmium, Arsen, Benzol. Baby, please. Eine Ranch steht in der Prärie in Flammen. Brando und Hepburn tigerten durch ihre Silberkäfige, wieder und wieder. Ein jeder Geist im Zentrum von Raum und Zeit. Der funkelnde kleine Stern des Jetzt. Spatzen fliegen durch den Bankettsaal, wo man in den Wintermonaten sitzt, um mit seinen Lehnsherren und Beratern zu speisen. Die Hand des Stiefvaters über dem Mund des Kindes. Mein irisch Kind, wo weilest du? Ein Blauwal taucht durch die abgrundtiefe Kälte. Viperfisch, Fangzähne, Pelikanaal. Eine Burlington Northern verlässt den Bahnhof von Fort Benton mit Waggons voller Korn. Wolkenblitze über Budapest. Gezeitenwechsel der Themse. Mit der Arklow Surf zum White Mountain, mit der Cymbeline nach Ford’s Jetty. Riesenhafte Weihnachtsbäume aus Licht über dem schwarzen Wasser. Aasgeier auf einem Turm des Schweigens. Creech Air Force Base, Nevada. Ein junger Mann von dreiundzwanzig Jahren drückt einen Knopf. Siebentausend Meilen entfernt zischt eine Hellfire-Rakete von der Unterseite einer Predator-Drohne hinweg. Drei Steinhäuser und gestauchte Erde. Ein Mädchen wacht auf und hat keine Zeit, sich an ihren Traum mit den Vögeln zu erinnern.
Angela steht in der Küche. Mondblaue Dunkelheit. Ein schauderhaftes Klimpern, als der Kühlschrankmotor anspringt. Was hat sie aufgeweckt? Wessen Küche ist das? Die Angst, die sie verfolgt, seit ihre Mutter krank wurde, dass sie das gleiche Schicksal erwartet. Namen, die ihr partout nicht einfallen. Verlegte Dinge. Schlüssel, Portemonnaie. Vielleicht nur die gewöhnlichen Aussetzer des Gehirns unter dem Vergrößerungsglas. Aber manchmal … Diese absolute Leere. Panik vor den einfachsten Fragen. Welches Jahr haben wir? Wie heißen Ihre Kinder? Sie berührt ihr eigenes Gesicht, doch sie kann sich nicht erinnern, wie es aussieht.
Da erstaunte sich der König Nebukadnezar, fuhr auf und sprach zu seinen Räten: Haben wir nicht drei Männer gebunden in das Feuer werfen lassen? Sie antworteten und sprachen zum König: Ja, König. Er antwortete und sprach: Ich sehe aber vier Männer frei im Feuer umhergehen, und sie sind unversehrt, und der vierte sieht aus, als wäre er ein Sohn der Götter.