9. KAPITEL

Hailey erwartete schon den tödlichen Aufprall, als sie im letzten Moment von hinten gepackt und aus dem Gefahrenbereich gerissen wurde.

Alles ging blitzschnell. Hailey hatte das Gefühl, kurz durch die Luft zu segeln, dann verlor sie das Gleichgewicht und fiel auf den harten Asphalt. Ein brennendes Gefühl machte sich breit, als die Haut an den Innenflächen ihrer Hände, mit denen sie den Sturz abfing, aufschürfte.

Benommen blieb sie einen Moment auf der Straße liegen, dann fuhr sie hoch. Hastig blickte sie zur Seite. Als sie die Person, die sie praktisch durch die Luft geschleudert und damit vor dem sicheren Tod bewahrt hatte, erkannte, war sie mehr als erstaunt.

Daemonicus!

Total perplex sah Hailey jetzt zu, wie er mit dem Fahrer des Pkw sprach, der sie beinahe überfahren hätte und der inzwischen kreidebleich aus dem Wagen gestiegen war. Daemonicus versicherte dem Mann, dass alles in Ordnung sei und er unbesorgt seinen Weg fortsetzen könne.

Ganz überzeugt schien der Mann nicht zu sein, aber schließlich stieg er wieder ein und brauste davon.

„Was … machen Sie denn hier?“, wandte Hailey sich an Daemonicus. „Sind Sie …“

Er schüttelte den Kopf. „Keine Fragen, Mädchen. Komm heute mit deinem Freund und der Maschine zur alten Mühle draußen im Wald. Da sind wir ungestört. Seid um Punkt zehn Uhr dort. Dann wird Daemonicus euch helfen.“

„Wirklich?“ Verblüfft über den plötzlichen Sinneswandel blickte Hailey ihn an. „Aber muss das denn mitten in der Nacht sein, können wir nicht bis morgen …“

In dem Moment stürmte Haileys Vater aus dem Haus. Besorgt und mit beiden Armen durch die Luft wedelnd, rannte er auf Hailey zu.

„Hailey, mein Gott, ist dir was passiert?“, fragte er aufgeregt. „Ich habe vom Fenster gesehen, wie …“

Sie winkte ab. „Ist schon gut, Dad, alles in Ordnung. Dieser Mann hier hat mich gerettet. Er …“ Sie wandte sich wieder Daemonicus zu, aber der war plötzlich nicht mehr da. Ungläubig blickte Hailey sich nach allen Seiten um, doch nichts – Daemonicus war und blieb verschwunden.

Wie vom Erdboden verschluckt.

„Und wie hat dein Dad auf die Sache reagiert?“, fragte Joaquin, als Hailey und er einige Stunden später im Wagen seiner Mom saßen und auf dem Weg zur alten Mühle waren, die sich im Wald am Rande von Fieldsburg befand. Hailey beschrieb Joaquin, wie er fahren musste, er kannte sich hier ja noch kaum aus.

„Na, wie schon?“, antwortete Hailey. „Der war natürlich total aufgeregt und meinte, dass heutzutage alles viel zu gefährlich ist. Mann, langsam krieg ich echt Angst, dass er mich eines Tages wirklich gar nicht mehr von zu Hause fort lässt und mich stattdessen in Watte packt und mich in einen gepolsterten Raum sperrt.“

„Na, jetzt übertreib mal nicht, dein Dad macht sich schließlich auch bloß Sorgen. Und nach allem, was in letzter Zeit passiert ist, kann man ihm das doch auch wirklich nicht verübeln, oder?“

„Ja, schon. Aber das Ding ist doch, dass er ja auch schon vorher so war. Er hat mich immer wie ein kleines Kind behandelt.“

„Hat vielleicht auch was mit deiner Mom zu tun, würde ich mal vermuten. Was glaubst du, wie schrecklich es für ihn gewesen sein muss, als sie damals starb. So was ist nicht leicht zu verkraften, das weißt du selbst doch am besten. Tja, und dann stand er da und musste dich plötzlich ganz allein erziehen. Irgendwie logisch, dass er seine Aufgabe da sehr ernst nimmt, oder? Er wird einfach große Angst haben, dass dir auch noch was passiert. Schließlich bist du der einzige Mensch, den er jetzt noch hat.“

„Du hast ja recht“, erwiderte Hailey mit leiser Stimme. Schweigend blickte sie einen Moment aus dem Beifahrerfenster, obwohl aufgrund der nächtlichen Dunkelheit kaum etwas zu erkennen war. Joaquins Worte hatten sie nachdenklich gestimmt. Vielleicht sollte sie doch mal überlegen, ob sie ihrem Vater nicht manchmal Unrecht tat?

„Ist dir eigentlich bewusst, dass ich mir auch ganz schöne Vorwürfe mache?“, riss Joaquin sie schließlich aus ihren Gedanken.

Fragend sah sie ihn an. „Vorwürfe? Du? Wieso das denn?“

„Na, ist doch klar: Hätte ich dich nicht geküsst, wäre das mit dem Beinahe-Unfall nicht passiert. So einfach ist das.“

Sie hatten vorhin schon kurz am Telefon darüber gesprochen, als Hailey ihm erzählt hatte, dass sie fast überfahren worden wäre. Joaquin war natürlich ganz verrückt vor Sorge um sie gewesen, und sie hatte ihm mindestens vier Dutzend Mal versichern müssen, dass es ihr gut ging. Anschließend hatte er sie darauf gebracht, dass das Ereignis im Zusammenhang mit dem Horoskop stand. Sie hatten sich geküsst (was wohl die Romantik darstellen sollte, von dem im Horoskop die Rede war), und wurden dabei von Haileys Dad erwischt. Hailey hatte sich mit ihrem Dad gestritten, sie lief davon – und wäre fast überfahren worden. Hätten sie sich nicht geküsst, wäre es nicht zum Streit mit Haileys Dad gekommen und sie hätte nicht fortlaufen müssen.

„So darfst du das aber nicht sehen“, sagte sie jetzt entschieden. „Genau genommen hast nämlich nicht du mich geküsst, sondern ich dich. Das Ganze ging doch von mir aus.“

„Trotzdem. Ich hätte einen klaren Kopf bewahren müssen.“

„Nee, ist klar.“ Hailey lachte. „Nenn mir einen, der das in der Situation gekonnt hätte. Du bist halt auch nur ein Junge, und wenn euch das Blut aus dem Kopf … Na, du weißt schon, was ich meine.“

Er grinste und konzentrierte sich weiter aufs Fahren. „Ich bin nur froh, dass Daemonicus aufgetaucht ist. Nur ihm haben wir es zu verdanken, dass aus sich die Prognose aus dem Horoskop nicht bewahrheitet hat.“

„Stimmt.“ Sie nickte. „Er hat mich gerettet, und dafür bin ich ihm unheimlich dankbar. Ich frage mich nur …“

„Ja?“

„Na ja, ich habe keine Ahnung, ob ich mich jetzt immer noch in Gefahr befinde oder nicht. Hat das Horoskop jetzt überhaupt noch Gültigkeit, nachdem ich inzwischen ja eigentlich tot sein sollte? Dieser Dämon, der in der Maschine haust und sie steuert, hat ja eigentlich versagt.“

Joaquin hob die Schultern. „Gute Frage, nächste Frage. Vielleicht hat Daemonicus darauf eine Antwort. Ich würde mich jetzt aber nicht unbedingt darauf verlassen, dass dir keine Gefahr mehr droht. Ich kenne mich mit Dämonen und solchen Wesen zwar nicht sonderlich gut aus, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie so einfach aufgeben.“

„So, wir sind da. Dort vorn kannst du halten.“ Hailey warf einen Blick auf die Uhr am Armaturenbrett. Es war jetzt zwanzig vor zehn. Joaquin stoppte den Wagen am Waldrand, schaltete Motor und Licht aus und wandte sich Hailey zu.

„Bereit?“, fragte er.

Sie seufzte. „Ganz wohl ist mir bei der Aktion zwar nicht, aber uns bleibt wohl keine andere Wahl. Ich kann nur beten, dass mein Dad nicht merkt, dass ich nicht im Bett liege und schlafe, wovon er natürlich ausgeht.“

Sie stiegen aus, und Joaquin holte den Rucksack heraus, in den Hailey vorhin wieder die Horoskopmaschine gepackt hatte.

Dann liefen sie los.

„Ich hoffe nur, dieser Typ entpuppt sich nicht als irgendein durchgeknallter Wahnsinniger, der die Leichen von Teenagern sammelt.“ Hailey fröstelte, was aber nicht nur an der Vorstellung lag, dass es sich bei Daemonicus um einen Psychopathen handeln könnte. Es war die Atmosphäre an sich, die ihr eine Gänsehaut nach der anderen über den Rücken jagte, während sie auf den Wald zugingen: Das Dunkel der Nacht, die nur von dem fast vollen Mond erhellt wurde, der seinen fahlen Schein auf die Umgebung warf, und die Totenstille, die höchstens mal durch ein Rascheln der nahen Bäume gestört wurde.

Das ist echt wie in einem Gruselfilm, dachte sie. Nur, dass ich mich bei solchen Filmen schon lange nicht mehr grusele.

Bald hatten sie den Wald erreicht, und nachdem sie die ersten Bäume passiert hatten, wurde es erst richtig finster, denn die dichten Zweige ließen das Licht des Mondes nur hier und da mal durchschimmern.

„Warte mal kurz“, flüsterte Joaquin, blieb stehen und kramte eine Halogentaschenlampe hervor. Hailey atmete regelrecht auf, als der helle Lichtstrahl die Dunkelheit zerschnitt. Sicher, allzu viel brachte so eine Taschenlampe nicht, aber besser als durch die absolute Finsternis irren zu müssen, war es allemal.

„Und du weißt wirklich, wo sich diese Mühle befindet?“, fragte Joaquin.

Hailey nickte. „Klar, das weiß hier jeder. Wenn du in so einem kleinen Kaff wohnst, erkundest du mit der Zeit einfach alles.“

„Verstehe.“

Sie gingen weiter und versuchten so gut wie möglich, einen geraden Weg beizubehalten und sich nicht im dichten Unterholz zu verfangen.

„Wir müssen hier lang“, sagte Hailey irgendwann leise. „Hier rechts rum, und dann sind wir so gut wie da.“

Sie nahmen die Biegung und gelangten zu einer Lichtung. Hier konnte der silbrige Schimmer des Mondes wieder ungehindert auf die Erde scheinen, und Hailey und Joaquin erblickten die Umrisse der alten Mühle, die im Grunde kaum noch als solches zu erkennen war. Halb verfallen war sie nur mehr ein Gerippe aus Holz, nur das alte Mühlrad erinnerte noch an die eigentliche Funktion des Gebäudes.

„Ob er schon drin ist?“, fragte Joaquin leise.

Hailey schaute auf ihre Armbanduhr. Die Leuchtziffern verrieten ihr, dass es nur noch wenige Minuten bis zehn waren. Haileys Herz klopfte schneller. Was würde gleich geschehen?

Die Antwort folgte nur wenige Minuten später, als eine entfernte Kirchturmuhr zur vollen Stunde schlug.

Zehn Mal.

Es war so weit.

Hailey zuckte erschrocken zusammen, als aus dem Eingang der alten Mühle plötzlich eine Gestalt trat.

Daemonicus.

Es konnte also losgehen!

Hailey fand die ganze Szenerie schon ziemlich bizarr, als sie kurz darauf mit Joaquin und Daemonicus im Innern der Mühle im flackernden Schein von zwei Pechfackeln auf ein paar alten Holzfässern zusammensaß. Und immer wieder fragte sie sich auch, ob es nicht eigentlich völlig verrückt von Joaquin und ihr war, mitten in der Nacht hierher zu kommen. Sie kannten diesen Typ doch gar nicht!

Andererseits hatte er ihr immerhin das Leben gerettet, und wenn die Möglichkeit bestand, dass er ihnen, was die Horoskopmaschine anbetraf, weiterhelfen konnte, dann war es das allemal wert.

„Also?“, fragte Joaquin. „Wie es aussieht, wollen Sie uns ja jetzt doch weiterhelfen. Dann sagen Sie uns bitte: Was können Sie für uns tun?“

Daemonicus blickte mit seinen roten Augen zwischen ihm und Hailey hin und her. Er wirkte nervös. Mehr als das: ängstlich. Schließlich seufzte er. „Daemonicus will euch nicht zu viel versprechen. Er weiß nicht, ob er euch wirklich helfen kann. Zeigt ihm zuerst noch einmal die Maschine.“

Schweigend hob Hailey den Rucksack vom Boden auf, holte den Horoskopapparat daraus hervor und reichte ihn an den Exorzisten weiter. Daemonicus zögerte kurz, ehe er die Maschine entgegennahm. Hailey sah deutlich, dass seine Hände zitterten. Als er seine Finger um den kühlen Metallkasten legte, atmete er scharf ein.

„Und? Was sagen Sie?“, drängte Hailey ungeduldig.

„Gefährlich“, zischte der Exorzist. „Diese Horrormaschine wurde vom Höllenfürsten persönlich geschaffen. Sie …“ Er keuchte auf, dann stellte er den Apparat so rasch auf dem Boden ab, als hätte er sich daran verbrannt. Er schloss die Augen und räusperte sich. „Daemonicus weiß nicht, ob er den schrecklichen Kräften, die in diesem Gerät schlummern, gewachsen ist. Doch er kann nicht tatenlos mit ansehen, wie zwei unschuldige Kinder dem unfassbaren Bösen zum Opfer fallen.“

„Kinder?“, protestierte Hailey empört. „Ich muss doch sehr bit…“

Ein kräftiger Rippenstoß von Joaquin brachte sie zum Schweigen. „Echt toll, dass Sie uns helfen wollen“, sagte er an Daemonicus gerichtet. „Haben Sie denn schon eine Idee, wie Sie vorgehen wollen?“

Der Mann nickte. Im Licht der Fackeln wirkte sein Gesicht noch hagerer und unheimlicher. „Daemonicus wird versuchen, den Dämon im Inneren dieser Maschine zu beschwören.“

„Und dann? Wie wollen Sie ihn vernichten?“

„Das wird sich zeigen, wenn es soweit ist.“

„Soll das heißen, Sie haben überhaupt keinen Plan?“, fragte Joaquin ungläubig.

Daemonicus starrte ihn verärgert an. „Hast du eigentlich eine Ahnung, wovon du redest, Junge? Nein, natürlich nicht! Ich glaube kaum, dass du es schon einmal mit einem leibhaftigen Dämon aufgenommen hast – ganz im Gegensatz zu Daemonicus! Er ist hier der Experte, das solltest du besser nicht vergessen!“

„Ich wollte doch nur …“

Diesmal war es Hailey, die Joaquin mit einem scharfen Blick verstummen ließ. „Wir verlassen uns total auf Sie. Wie Sie schon sagten: Sie sind der Experte. Ähm … Können wir dann vielleicht langsam anfangen? Ich würde dieses Horrorteil jetzt wirklich gern endlich loswerden!“

„Nun gut, lasst uns beginnen.“ Der Rotäugige erhob sich. Beschwörend streckte er die Arme aus und schloss wieder die Augen. Hailey und Joaquin beobachteten ihn mit gemischten Gefühlen. Es schien, als würde Daemonicus versuchen, sich in Trance zu versetzen. Seine Lippen öffneten sich ein wenig, und ein kehliger Laut drang aus seiner Kehle.

Mit gerunzelter Stirn schaute Hailey dem Exorzisten zu. Sie fing bereits an zu zweifeln, ob der Mann tatsächlich wusste, was er tat. Die Maschine jedenfalls schien von seinem unheimlichen Singsang gänzlich unbeeindruckt.

Und dann fingen die Fackeln an den Wänden plötzlich an, heftig zu flackern, und ihr Licht verdunkelte sich zu einem kalten Blau. Die Temperatur fiel schlagartig um mehrere Grad. Erschrocken griff Hailey nach Joaquins Hand und drückte sie. Als sich ihre Blicke begegneten merkte sie, dass er ebenso schockiert und überrascht war wie sie selbst.

Im nächsten Moment richtete sich ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Horoskopmaschine, aus der jetzt ein grünlicher Nebel emporstieg.

Hailey atmete scharf ein. „Oh Gott“, stieß sie voller Entsetzen hervor.

Währenddessen steigerte sich der schauerliche Gesang von Daemonicus, schraubte sich höher und höher empor, bis Hailey es nicht mehr aushielt und sich die Hände auf die Ohren presste. Sie konnte nicht glauben, was hier passierte. Das war doch nicht möglich! So etwas gab es doch gar nicht!

Ihr Atem ging stoßweise. Sie hatte das Gefühl, jeden Moment durchdrehen zu müssen. Und als sich der grüne Nebel dann zu einer menschlichen Gestalt zu formen begann, schrie Hailey auf.

Die Ereignisse überstürzten sich.

Daemonicus verstummte. Er wirkte wie aus tiefer Trance erwacht. Seine Augen weiteten sich in Panik, als er den nebelhaften Umriss vor sich erblickte. Er stolperte zurück, öffnete seinen Mund zu einem Aufschrei des Entsetzens, doch kein Laut verließ seine Lippen.

Dann wirbelte er herum und rannte, so schnell ihn seine dürren Beine trugen, davon.

„Das … das glaub ich jetzt nicht“, stieß Joaquin fassungslos hervor. „Der Typ haut ab! Der lässt uns einfach allein hier zurück!“

„Und was jetzt?“ Haileys Stimme überschlug sich vor Angst. Joaquin und sie waren aufgesprungen, als Daemonicus so überstürzt die Flucht ergriffen hatte.

Er zog sie in seine Arme, hielt sie fest umklammert und strich ihr beruhigend über den Rücken. „Du darfst jetzt nicht die Nerven verlieren, hörst du? Wir sind zusammen, das ist alles, was zählt.“

„Aber …“

Joaquin schüttelte den Kopf. „Nein, alles wird gut.“ Sanft löste er sich von Hailey und stellte sich schützend zwischen sie und den Nebel, der mal mehr und mal weniger menschliche Formen besaß. „Kannst …“ Er räusperte sich angestrengt. „Kannst du mich hören?“

„Was tust du denn da?“, keuchte Hailey ängstlich. „Mach dieses Ding doch nicht noch auf uns aufmerksam!“

Doch er ignorierte sie einfach. „Wenn du mich hören kannst, dann sprich mit mir. Wir wollen nur mit dir reden, okay?“

Hailey rechnete schon damit, dass dieser monströse Nebel sie und Joaquin jeden Moment angreifen würde, doch zu ihrer völligen Überraschung formte er sich plötzlich zu dem Gesicht eines Jungen.

Und dieser Junge lächelte.

„Wer bist du?“, fragte Hailey. Sie trat hinter Joaquin hervor. Seltsamerweise verspürte sie plötzlich keine Angst mehr. Sie fühlte einfach, dass von dieser Erscheinung keine Gefahr ausging.

Und dann sprach er wirklich. „Mein Name ist Balthazar.“ Seine Stimme klang hohl. Geisterhaft. „Habt keine Angst, ich werde euch nichts antun. Ich möchte euch nur eine Geschichte erzählen. Die Geschichte eines Jungen, der starb, weil er ein Mädchen liebte. Der ermordet wurde, weil er seinem Rivalen im Wege stand.“ Er machte eine dramatische Pause. „Meine Geschichte.“

Andächtig lauschten Hailey und Joaquin, was der Geist aus der Horoskopmaschine zu berichten hatte. Es war eine traurige, sehr tragische Geschichte, die sich vor über fünfzig Jahren zugetragen hatte. Sie handelte von Balthazar und Elaine. Die beiden liebten einander von ganzem Herzen, doch da gab es noch einen Nebenbuhler um Elaines Gunst, Ethan. Der träumte von einem romantischen Abend mit Elaine, aber die wollte von ihm nichts wissen. Als er schließlich begriff, dass er bei seiner Herzensdame keine Chance hatte, nahm er grausame Rache. Er tötete Balthazar und sprach einen Fluch über dessen unsterbliche Seele aus, der diese auf ewig in der Horoskopmaschine gefangen setzen sollte, die Ethan durch dämonische Rituale zu einem Werkzeug des Teufels gemacht hatte. Doch etwas ging schief, und zusammen mit Balthazars Seele wurde auch die seines Widersachers in dem teuflischen Apparat eingesperrt.

„Und was wurde aus Elaine?“, fragte Hailey betroffen.

„Ich weiß es nicht“, erwiderte Balthazar traurig. „Und genau das ist das Problem: Denn erst, wenn ich herausfinde, was aus ihr geworden ist und wir so vielleicht wieder vereint werden, kann der Fluch gelöst werden. Erst dann kann meine Seele aus der Maschine entlassen werden, und gleichzeitig würde dies Ethan besiegen. Du, Hailey, bist weiterhin in Gefahr. Das Horoskop wird sich erfüllen, du wirst nichts dagegen tun können, außer, wenn du in Erfahrung bringen kannst, was mit Elaine geschah. Dies ist die einzige Möglichkeit für dich, am Leben zu bleiben. Schaffst du es nicht, wirst du sterben – und anschließend wird die Maschine mit ihren schrecklichen Taten weiter machen. Aber du hast nicht viel Zeit.“

„Was willst du damit sagen?“, rief Joaquin. „Was hat das zu bedeuten?“

„Ich kann das Unheil noch genau vierundzwanzig Stunden aufhalten. Solange bin ich in der Lage, euch zu schützen. Danach gibt es nichts mehr, was ich für euch tun könnte. Bis dahin müsst ihr Elaine finden.“

Für einen Moment herrschte Schweigen, dann nickte Joaquin. „Dann werden wir genau das tun“, sagte er und drückte Haileys Hand.

Am nächsten Morgen stand Schuleschwänzen auf dem Programm. Natürlich wussten Hailey und Joaquin, dass das nicht okay war, aber in diesem Fall hatten sie einfach keine andere Wahl. Nachdem sie ein paar Stunden geschlafen hatten, um Energie für ihr Vorhaben zu tanken, blieben ihnen jetzt nicht mal mehr fünfzehn Stunden. Genau so lange war Balthazar nach eigenen Angaben noch in der Lage, die Maschine davon abzuhalten, die letzte Prophezeiung endgültig zu erfüllen.

„Also“, sagte Hailey, als sie am frühen Morgen bei Joaquin wie verabredet eintrudelte. Seine Mom war arbeiten, sodass sie keinerlei Störung zu befürchten hatten. „Wie gehen wir vor? Hast du dir schon was überlegt?“

„Als Erstes sollten wir wohl mal ein paar Infos über diese Elaine einholen.“

Hailey lachte. „Und wie willst du das anstellen? Sollen wir eine Suchanzeige in der Zeitung aufgeben?“

„Also, ich halte mich da lieber ans Internet.“ Er zwinkerte ihr zu. „Das hat nämlich noch ganz andere Sachen außer Myspace und YouTube zu bieten, falls du es noch nicht wusstest. Zum Beispiel kann man es zum Recherchieren nutzen.“

„Sag bloß, das ist mir ja ganz neu“, gab Hailey bissig zurück. „Also gut, dann mal los.“

Er nickte und setzte sich an seinen Schreibtisch. „Hat dein Dad eigentlich gestern Nacht irgendwas gemerkt?“

„Bist du verrückt? Ich glaube, dann stünde ich jetzt nicht hier, sondern wäre in irgendeine Gummizelle eingesperrt.“

Sie hockte sich aufs Bett, das gleich neben dem Schreibtisch stand. Von hier aus konnte sie auch gut auf den Bildschirm gucken.

„Okay, dann mal los“, sagte Joaquin, loggte sich ins Internet ein und gab einige Stichworte in eine bekannte Suchmaschine ein.

Doch zunächst stießen sie auf gar nichts. Fast eine Stunde suchten sie im Internet, ohne irgendeine relevante Information zu erhalten. Je mehr Zeit verging, desto nervöser wurde Hailey. Immer deutlicher wurde ihr bewusst, dass ihr Leben sozusagen an einem seidenen Faden hing. Und ebenso klar wurde ihr, dass es sich hier nicht nur um sie drehte. Sollte es ihnen nicht gelingen, herauszukriegen, was mit Elaine geschehen war, würden in Zukunft auch noch viele andere Menschen sterben oder zumindest schwer verletzt werden.

Und sie, Hailey, hatte die Möglichkeit, das alles zu verhindern. Ihren eigenen Tod und möglicherweise den vieler anderer Menschen.

Diese Gewissheit lastete nun als schwere Verantwortung auf ihren Schultern, und Hailey war froh, dass sie zumindest nicht ganz allein war; ohne Joaquin an ihrer Seite wäre sie wahrscheinlich längst durchgedreht.

„Ich glaube, ich habe da was gefunden!“, riss Joaquin sie aus ihren Gedanken.

Sofort war Hailey wieder voll bei der Sache. „Was denn? Sag schon!“

„Hier“, er deutete auf den Flatscreen, „steht etwas von einem Mord an einem Balthazar Rensfield, der vor fünfzig Jahren in Odessa, Texas, begangen worden war. Der Mörder wurde nie gefasst. Die Freundin des Ermordeten, beide waren damals noch sehr jung, erlitt daraufhin einen Schock. Hier steht ihr voller Name: Elaine DeWitt-Buchanan. Sie wurde in eine Nervenheilanstalt in Odessa eingewiesen, konnte aber nach wenigen Jahren wieder entlassen werden und hat sich wohl völlig erholt. Anscheinend lebt sie noch immer in Odessa. Warte mal kurz.“ Hailey beobachtete, wie Joaquin die Webadresse eines Online-Telefonbuchs in den Browser eingab. Dort suchte er dann nach einer Elaine DeWitt-Buchanan in Odessa – und wurde tatsächlich fündig!

„Wir haben sie!“, rief Joaquin.

„Tatsächlich.“ Hailey seufzte erleichtert, zog dann aber die Brauen zusammen. „Sofern sie es wirklich ist. Könnte doch auch sein, dass wir es mit einer anderen Frau zu tun haben, die nur denselben Namen hat.“

Joaquin schüttelte den Kopf. „Kann ich mir nicht vorstellen, dafür ist mir der Name eine Spur zu ausgefallen.“

„Und jetzt?“, fragte Hailey.

„Na, was wohl?“ Er klatschte in die Hände. „Auf nach Odessa!“

„Ist schon komisch, oder?“, fragte Hailey, als sie im Wagen saßen. Sie waren schon knapp vier Stunden unterwegs, befanden sich aber noch immer in New Mexico. Bis nach Odessa, das im benachbarten Bundesstaat Texas lag, waren es noch gut zweihundert Kilometer über einen endlosen Highway, zu dessen Seiten sich immer wieder steile Abhänge auftaten.

Joaquin blickte sie an. „Was meinst du?“

„Na, die ganze letzte Zeit war ich von meinem Dad praktisch ununterbrochen genervt – und jetzt habe ich auf einmal ein schlechtes Gewissen, weil wir so einfach abgehauen sind. Der wird bestimmt durchdrehen, wenn er nachher heimkommt.“

„Wir haben ihm ja immerhin einen Zettel dagelassen“, versuchte Joaquin sie zu beruhigen.

Das stimmte: Sowohl Haileys Dad als auch Joaquins Mom hatten sie Nachrichten hinterlegt, in denen stand, dass sie sich keine Sorgen machen müssten und dass alles in Ordnung sei. Allerdings hatten sie auch geschrieben, dass sie keine Ahnung hätten, wie lange sie wegblieben, und genau das bereitete Hailey Sorge.

„Mein Dad wird dafür null Verständnis haben“, seufzte sie. „Er hätte auf jeden Fall erwartet, dass ich schreibe, wann ich wieder zu Hause sein werde und vor allem, wo ich überhaupt bin.“

„Ich weiß.“ Joaquin nickte. „Mir ist auch nicht wohl bei der ganzen Sache, das kannst du mir glauben. Ich finde es ja selbst nicht richtig, so was zu machen, aber in diesem Fall ging es ganz einfach nicht anders, dafür steht zu viel auf dem Spiel.“

„Stimmt schon.“ Hailey blickte ihn an. „Aber eins schwöre ich feierlich: Sollten wir diese Sache hier überstehen, werde ich mich mit meinem Dad mal ganz in Ruhe aussprechen. Und so was wie heute mache ich nie, nie wieder!“

Joaquin nahm eine Hand vom Lenkrad und legte sie auf Haileys Oberschenkel. „Wir werden diese Sache hier überstehen“, sagte er eindringlich. „Daran habe ich keinen Zweifel, hörst du? Wir schaffen es!“

„Lieb von dir, dass du immer versuchst, mich aufzubauen“, entgegnete sie lächelnd und nahm seine Hand. „Im Augenblick reicht es mir schon zu wissen, dass wir noch unter Balthazars Schutz stehen. Er hat ja gesagt, dass er uns genau vierundzwanzig Stunden schützen kann.“

„Stimmt. So lange sind wir also in Sicherheit. Ich möchte nur mal wissen, was …“

Joaquin kam nicht dazu, den Satz zu beenden, denn in dem Moment überschlugen sich die Ereignisse.

Sie hörten einen lauten Knall, dann passierte alles blitzschnell.

Der Wagen brach nach rechts aus und geriet auf der staubigen Fahrbahn sofort ins Schleudern.

Hailey kreischte erschrocken auf. Sie sah, dass Joaquin verzweifelt das Lenkrad nach links riss.

„Halt dich fest!“, brüllte er und versuchte verzweifelt, das Fahrzeug wieder unter Kontrolle zu bringen.

Doch es war zwecklos.

Hailey schrie, als sie mit voller Wucht auf einen steilen Abhang zurasten.