6. KAPITEL

„Du hast Glück gehabt. Es ist nichts gebrochen. Aber der Muskel ist verletzt und eine Sehne angerissen.“ Ana überprüfte den Sitz des Verbands an Tiagos Schulter.

„Woher weißt du das?“ Er bewegte den verletzten Flügel auf und ab und verzog dabei das Gesicht.

„Ich hab im Biologieunterricht aufgepasst“, antwortete Ana lächelnd. „Vor allem, als wir in der Schule Tierskelette untersucht haben. Deine Flügel unterscheiden sich kaum von denen eines Vogels, nur dass sie größer und kräftiger sind.“

„Mit dem Verband kann ich ihn nicht zusammenziehen. Jetzt ragt der Flügel aus meiner Kleidung heraus“, beschwerte sich Tiago und machte Anstalten, den Verband zu lösen.

Ana klopfte ihm auf die Finger. „Das lässt du schön bleiben. Ich habe die Wunden zwar mit Jod desinfiziert, aber sie sind nicht geschlossen. Wenn Dreck reinkommt, kannst du eine Blutvergiftung bekommen.“

Tiago warf ihr einen unwilligen Blick zu, ließ die Hand jedoch sinken und streifte sein Hemd über. Ana hatte den linken Ärmel abgeschnitten, damit die verletzte Schwinge nicht eingeschnürt wurde.

„Danke“, murmelte er. Es fiel ihm offensichtlich schwer, Hilfe anzunehmen. Er rieb sein Kinn und meinte zu Kadir: „Dir schulde ich keinen Dank. Ich hätte es auch allein geschafft.“

„Sicher. Der Hausmeister von Anas Wohnheim hätte dich morgen früh blutleer auf den Stufen des Eingangs gefunden. Und ich hätte mich vor den Oberen rechtfertigen müssen, weil sie davon ausgegangen wären, dass ich dich ausgesaugt habe.“

„Sehr witzig“, entgegnete Tiago sarkastisch.

„Was war das eigentlich für ein Tier? Kommt es auch aus dem Schattenreich?“, fragte Ana, um einen erneuten Streit zwischen den beiden abzuwenden.

„Nein. Bojan verfügt über magische Kräfte. Er hat es erschaffen.“

„Erschaffen?“ Ana sah Tiago erschrocken an. „Kann Bojan beliebig viele Monster in diese Welt bringen?“

„Nein. Sie erstehen zu lassen zehrt an seiner Kraft“, erklärte Tiago. „Aber solange er nicht weiß, wie gut Kadir und ich im Kampf sind, schickt er sie vor, um uns zu testen. Bevor er gegen uns antritt.“

„Bojan war also da.“ Ana schauderte.

„Er hat uns beobachtet. Da bin ich mir sicher.“ Mühsam richtete Tiago sich auf. „Aber deine starke körperliche Reaktion ist nicht allein von Bojan ausgelöst worden. So wie du gefroren hast, hätte er sich in deiner unmittelbaren Nähe befinden müssen. Der Greifvogel hat den Kälteschub bei dir ausgelöst.“

„Und das bedeutet?“

„Dass deine Wahrnehmung schärfer wird.“

„Das ist etwas Gutes, oder?“, fragte Ana zweifelnd.

„Ja, allerdings. Versteh es als eine Art dämonisches Frühwarnsystem.“

„Aber wieso entwickelt sich diese … Gabe plötzlich?“

„In Krisensituationen besinnen Menschen sich auf ihre Urinstinkte“, meinte Tiago ausweichend.

„Oder Ana hat mehr mit einem Schattenwesen gemein, als man auf den ersten Eindruck denkt“, warf Kadir ein.

„Rede keinen Blödsinn!“, fuhr Tiago ihn an. „Und bring sie nicht auf falsche Gedanken! Nachher überschätzt sie sich und wird unvorsichtig. Das kann tödlich enden. Übrigens haben wir schon zu viel Zeit verschwendet. Ich werde mich draußen umsehen. Es wäre gut möglich, dass Bojan uns ein weiteres seiner Geschöpfe schickt.“

„Ich sehe, dir geht’s gut. Du kannst schon wieder Befehle erteilen“, konterte Kadir. „Allerdings denke ich, dass du derjenige bist, der sich überschätzt. Wenn jemand rausgeht, dann ich. Mit dem Flügel kannst du erst mal gar nichts machen. Darum solltest du bei Ana übernachten und dich schonen.“

„Womit habe ich deine Fürsorge verdient?“ Höhnisch funkelte er Kadir an.

„Hast du nicht. Ich bin sogar sehr egoistisch. Wenn du schlappmachst, muss ich allein gegen Bojan kämpfen. Und diese Aussicht gefällt mir nicht besonders gut.“ Kadir zwinkerte Ana zu und verließ das Zimmer.

Im nächsten Moment war sie allein mit Tiago. Seine düstere Ausstrahlung machte Ana nervös, und sie wusste nichts zu sagen. Außerdem schlichen sich immer wieder Erinnerungen an den Anblick seines durchtrainierten, alabasterweißen Körpers in ihre Gedanken. Denn auch wenn sie Tiago nicht mochte, war sie nicht blind. Er sah einfach extrem gut aus. Um seine Wunde zu versorgen, hatte sie ihm Mantel und Hemd ausziehen müssen und war von seiner Schönheit überwältigt gewesen.

Wenn sie sich konzentrierte, konnte sie seine Haut und die seidigen Federn seiner Flügel beinah wieder unter ihren Fingern fühlen.

„Geh ins Bett. Ich ruhe mich auf dem Sofa aus.“

„Bett? Was? Bitte?“ Ana schrak aus ihren Gedanken auf und wurde rot.

Tiago musterte sie irritiert. „Ich habe gesagt, du kannst im Bett schlafen. Ich nehme das Sofa.“

„Ach so. Ja, okay. Sicher.“ Schnell holte sie ihm eine Decke und hoffte, dass er ihre Verlegenheit nicht bemerkte oder gar nach dem Grund dafür fragte. „Äh … Wieso heilen deine Wunden eigentlich nicht sofort?“, fragte sie. „Mina hat in ihrem Buch geschrieben, dass bei Bill Verletzungen binnen kurzer Zeit verschwinden.“

„Jeder schwarze Engel ist anders. Es ist eine Frage der Gene. Bills körperliche Konstitution mag besser sein als meine. Außerdem spielt es eine Rolle, wie lange er schon ein schwarzer Engel ist. Je länger man als Schattenwesen lebt, desto unverwundbarer wird man.“

„Du sprichst von Bill, als würdest du ihn kennen“, sagte Ana in beiläufigem Ton und sah Tiago erwartungsvoll an.

„Das habe ich nicht gesagt. Ich habe hypothetisch gesprochen.“

„Du lügst! Ich weiß zwar nicht, warum Bill und Mina ein so großes Geheimnis sind, aber ich werde es herausfinden. Und ich frage dich solange danach, bis du mir die Wahrheit verrätst. Du kannst mir und dir natürlich auch einen Gefallen tun und es mir gleich jetzt erzählen.“

„Netter Versuch. Aber vergiss es.“ Mühsam ging Tiago zum Sofa.

„Kann ich dir helfen? Möchtest du etwas trinken? Wasser? Tee?“

„Tee? Warum nicht? In der Schattenwelt gibt es keinen Tee. Da gibt es eigentlich gar nichts. Wir brauchen auch nichts. Wir müssen weder essen noch trinken. Aber wir können, wenn wir wollen. Tee … klingt gut. Ich habe zuletzt als Mensch welchen getrunken.“

„Wie lange ist das denn her?“ Ana rechnete schon nicht mehr damit, dass er ihre Fragen beantwortete, und ging zur Tür.

„Wo willst du hin?“

„Zum Wasserkochen muss ich in die Gemeinschaftsküche.“

„Ich komme mit.“

„So?“ Ana deutete auf seinen verletzten Flügel.

„Es ist mitten in der Nacht. Niemand wird mich sehen.“

„Spinnst du? Meine Mitbewohnerinnen gehen aus, feiern Partys, kommen spät zurück ins Wohnheim …“

„Schon gut. Aber lass die Tür offen stehen, damit ich dich sehen kann.“

Ana nickte, verließ ihr Zimmer und ging in die gegenüberliegende Küche. Nachdenklich bereitete sie grünen Tee. Als sie nach der Thermoskanne und zwei Bechern gegriffen hatte, wandte sie sich um.

Tiago lehnte am Türrahmen und beobachtete sie. Sein Blick war wehmütig, verloren und traf sie mitten ins Herz.

„Was ist?“, fragte sie und musste sich räuspern. Tiago so zu sehen war so ungewohnt, dass sie nicht wusste, wie sie damit umgehen sollte. Jetzt bloß keine Schwäche zeigen, sagte sie sich. Denn sonst trafen seine abweisende Art und seine schroffen Worte sie bei der nächsten Gelegenheit doppelt so hart. Das wusste Ana.

„Nichts“, antwortete er. Seine Miene spiegelte keinerlei Emotionen mehr.

Ana schwieg und betrat ihr Zimmer. Er schloss die Tür. Angespannt stellte Ana die Becher auf den Schreibtisch und schenkte Tee ein.

Sie atmete tief durch, dann reichte sie ihm einen Becher. „Und, wie lange ist es nun her, dass du ein Mensch warst?“

„Du lässt nie locker, oder?“

„Niemals.“

Tiago trank vorsichtig einen Schluck. „Es kommt mir vor, als wäre es ewig her. Aber meine Verwandlung in einen schwarzen Engel liegt erst zweieinhalb Jahre zurück. Bis dahin war ich Student und habe auch jede Nacht gefeiert. Seltsam, dass ich das vergessen habe …“

„Wo hast du studiert? In Burlington?“

„Nein.“

„Willst du es mir nicht verraten?“

„Du weißt es.“

Ana sah ihn irritiert an. Dann … „Oh Gott! Wichita, Kansas!“

Tiago lächelte. „Ich habe es dir gesagt: Der Mittlere Westen rockt.“

„Heißt du dann etwa auch wirklich Jacob?“

„Nein! Ach, dieser dämliche Kadir! Tiago ist mein echter Name. Die Wurzeln meiner Familie sind portugiesisch. Dort ist Tiago ein gängiger Männername. Allerdings bedeutet er übersetzt tatsächlich Jacob.“

„Ich finde Jacob gar nicht so schlimm. Allerdings klingt Tiago bedeutend besser.“

„Danke.“ Er entspannte sich sichtlich.

„Was hast du getan, dass du … Ach, nicht wichtig.“ Ana traute sich nicht, nach dem Grund für seine Verwandlung zu fragen. Sie fürchtete, dass Tiago sonst sofort wieder verschlossen wurde, und wollte sich lieber weiter mit ihm unterhalten.

„Wieso plötzlich so schüchtern?“ Tiago zog amüsiert die Augenbrauen hoch. „Du platzt doch fast vor Neugier und willst unbedingt wissen, wieso ich ein schwarzer Engel geworden bin. Ich verrate es dir.“

Er setzte sich auf den Schreibtischstuhl und drehte ihn zum Bett, auf dem Ana Platz genommen hatte. „Aber es wird dir nicht gefallen. Denn ich habe mich wie du für die Wesen der Schattenwelt interessiert. Ich habe jedes Buch, das ich über schwarze Engel, Vampire und Dämonen finden konnte, verschlungen und mir nichts mehr gewünscht, als eine dieser Kreaturen zu sein. Mir gefielen ihr Aussehen und ihre Macht. Und ich bin bis zum Äußersten gegangen, um mit ihnen Kontakt aufzunehmen.“

„Das heißt?“, fragte Ana gespannt.

„Ich habe ein Ouija-Board, ein Hexenbrett, gekauft und die Wesen der Schattenwelt beschworen.“

„Und sie sind dir erschienen?“

„Schlimmer als das. Sie haben mich heimgesucht, und ich bin sie nicht mehr losgeworden. Ich habe ihnen die Tür zu meiner Welt geöffnet und dadurch alles verloren.“ Er schwieg kurz. „Ich habe großes Unglück über mich und andere gebracht.“

„Das tut mir sehr leid“, flüsterte Ana.

Tiago zuckte hilflos die Schultern.

Ana betrachtete ihn still. Langsam verstand sie, warum Tiago sich kalt und abweisend benahm. Er trug diese furchtbare Last auf der Seele. Und er würde sich nie davon befreien können.

„Bekommst du eine zweite Chance und kannst zu den Menschen zurückkehren, wenn du Bojan tötest?“, erkundigte sie sich irgendwann leise.

„Vielleicht. Aber ich weiß nicht, ob ich das überhaupt möchte.“

„Aber was dann? Willst du für immer und ewig ein schwarzer Engel bleiben …?“

„Wieso findest du das auf einmal schrecklich? Ich dachte, du möchtest selbst ein Schattenwesen sein?“

„Schon.“ Ana zögerte. An ihrer Faszination für die Kreaturen der Nacht hatte sich trotz Bojan nichts geändert. Für sie war die Schattenwelt mit der romantischen Liebesgeschichte von Mina und Bill verbunden. Und Ana wünschte sich, dass es auch für Tiago Hoffnung gab. „Mit deinem Wissen von der Schattenwelt könntest du in einem zweiten Leben unter den Menschen viel Gutes tun. Ansonsten bleibt dir nur …“

„Als Krieger der Schattenwelt weiterzukämpfen und zu sterben“, beendete Tiago den Satz an ihrer statt. „Ich hätte es verdient.“

„Sag so was nicht! Du wusstest bestimmt nicht, welches Drama du heraufbeschwörst, als du das Ouija-Board benutzt hast.“

„Dummheit ist keine Entschuldigung.“

„Oh bitte! Du hast einen Fehler gemacht. Okay, es war ein furchtbarer Fehler. Aber du musst dir trotzdem verzeihen.“

„Das ist einfacher gesagt als getan. Hast du Kadir nicht zugehört? Ich habe nicht nur als Mensch große Schuld auf mich geladen. Ich habe auch bei meinem ersten Auftrag als schwarzer Engel versagt. Was unter anderem dazu geführt hat, dass Bojan dich jagt.“

Er stützte die Hände auf die Knie. „Jetzt weißt du es. Und, findest du immer noch, ich habe eine zweite Chance in deiner Welt verdient?“

Bevor Ana antworten konnte, öffnete jemand ihre Zimmertür. Tiago sprang sofort auf und ging in Angriffsstellung, wobei er aufstöhnte, weil er den verletzten Flügel bewegte.

„Entwarnung. Ich bin’s nur.“ Kadir betrat den Raum. „Tut mir leid, ich hätte anklopfen sollen“, meinte er und leckte sich die blutverschmierten Lippen. „Hat ein bisschen gedauert. Ich war noch kurz essen. Keine Sorge, es war rein tierische Kost.“ Kadir sah zu Ana, zu Tiago und dann auf die Teebecher. „Oha, habe ich was verpasst?“, fragte er und hob den Blick. „Habt ihr Mädchengespräche mit Tiefgang geführt und seid euch nähergekommen?“

„Nah genug für den Job“, antwortete Tiago, wieder ganz der Unnahbare. Er stellte seinen leeren Becher auf Anas Schreibtisch, zog seinen schwarzen Mantel über und riss die Zimmertür auf.

„Aber …“ Ana wollte ihn zurückhalten.

Doch der finstere Blick, den Tiago ihr zuwarf, ließ sie verstummen. Wortlos wandte Tiago sich um und ging. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss.

„Dramatischer Abgang“, sagte Kadir spöttisch. „Tja, wenn Tiago ein Vampir wäre, würde er seinen Frust in einer Blutorgie ertränken. Aber als schwarzer Engel ertrinkt er wohl eher in Selbstmitleid.“

„Verkneif dir einmal deine zynischen Kommentare“, fuhr Ana ihn an. „Kennst du seine Geschichte?“

„Ja, kenn ich. Na und? Er hat richtig Mist gebaut. Aber anstatt dafür geradezustehen, ergießt er sich in Selbstmitleid. Dafür habe ich kein Verständnis. Das überlasse ich lieber Menschenkindern wie dir. Und jetzt mach dir keine Sorgen um den Spinner …“

„Mach ich nicht!“

„Mhm … das sehe ich.“ Kadir zog eine Augenbraue hoch. „Los! Lass uns fernsehen. Das finde ich eine wirklich nette Erfindung. Ich kann mir Sonnenaufgänge ansehen, ohne dass meine Augen brennen. Und ich liebe Splatter-Filme! Das sind echte Appetitanreger.“