8. KAPITEL
Ty war nicht zu Hause. Und sein Nachbar hatte ihn zum letzten Mal gesehen, bevor Ty zu dem verhängnisvollen ‚Dungeon‘-Besuch aufgebrochen war.
Tiago wartete, bis der auskunftsfreundliche Nachbar die Tür zu seinem Apartment schloss, dann brach er mit Hilfe von Anas Kreditkarte in Tys Wohnung ein. Er schob die Karte auf Höhe des Schlosses in den Türspalt, drehte einige Male den Türknauf heftig hin und her und drückte mit der Karte den Riegel zurück. Da die Tür nur zugezogen und nicht abgeschlossen war, sprang sie auf.
Ana eilte in Tys Apartment. In der Spüle seiner Pantry stand dreckiges Geschirr. Von den verdorbenen Essensresten ging ein strenger Geruch aus. Es war offensichtlich, dass Ty länger nicht da gewesen war. Trotzdem öffnete Ana den Kleiderschrank. Soweit sie es einschätzen konnte, fehlte nichts. Zudem lag seine Reisetasche in einem Regal. Eine spontane Kurzreise hatte Ty offenbar nicht unternommen.
Ana, Kadir und Tiago verließen die Wohnung und schlossen die Tür fest hinter sich. Anschließend gingen sie ins Wohnheim. Dort schärfte Tiago Ana erneut ein, dass sie das Zimmer unter keinen Umständen verlassen durfte.
Als er und Kadir im Flur standen, schloss er von außen die Tür ab. Obwohl sie ihm ihr Ehrenwort gegeben hatte, hatte Tiago offenbar den Wohnungsschlüssel eingesteckt!
„Spinnst du?! Schließ sofort wieder auf!“, rief Ana und trommelte gegen das Türblatt.
„Es ist nur zu deiner Sicherheit“, antwortete Tiago.
Außer sich fluchte Ana laut und warf das Kopfkissen durchs Zimmer, während Tiago und Kadir zum Park aufbrachen.
Untätig herumzusitzen trieb Ana fast in den Wahnsinn. Sie machte sich Sorgen um Ty und verfluchte ihn, weil er so unvorsichtig gewesen war. Dass er die Existenz von Dämonen ausgeschlossen hatte, hatte ihn jetzt in eine Katastrophe gestürzt!
Ana wagte nicht, länger darüber nachzudenken. Sie versuchte, sich abzulenken, und schaltete den Fernseher ein. Auf dem Sofa sitzend, starrte sie auf den Bildschirm und rutschte unruhig hin und her. Es gelang ihr einfach nicht, sich auf die Sendung zu konzentrieren. Ana hätte nicht einmal sagen können, ob es sich um einen Film oder eine Serie handelte.
Schließlich stand sie auf und lief im Zimmer auf und ab. Nervös knetete sie ihre Hände, zerzauste sich das hellbraune Haar und sah alle 30 Sekunden auf ihre Wanduhr.
Sie wartete nur darauf, dass Tiago und Kadir endlich zurückkamen. Ihr blieb nichts anderes übrig.
Seufzend trat sie ans Fenster und blickte hinaus. Vielleicht sah sie die beiden am Ende der Straße um die Ecke biegen – mit Ty im Schlepptau. Doch weit und breit entdeckte Ana sie nicht. Ein paar Studentinnen schlenderten, ins Gespräch vertieft und lachend, über den Zebrastreifen. Ein Wagen fuhr in die zum Wohnheim gehörende Tiefgarage. Missmutig stützte Ana sich auf die Fensterbank.
Da umfing plötzlich ein eiskalter Hauch ihren Körper. Sie bekam eine Gänsehaut, und ihr Atem bildete einen feinen Nebel. Die Fensterscheibe beschlug.
Entsetzt starrte Ana auf die Straße, überzeugt, den riesenhaften Dämon oder eins seiner Geschöpfe auf ihr Wohnheim zurasen zu sehen. Aber draußen lachten und plauderten nach wie vor die Studentinnen. Nichts hatte sich verändert.
Ob der Dämon womöglich in ihr Zimmer gelangt war? Furchterfüllt fuhr Ana herum. Doch sie war allein und fror erbärmlich.
Vielleicht hatte Bojan sie hereingelegt und hielt Ty im Spukhaus fest, weil er wusste, dass Kadir und Tiago ihn ohne Ana suchen würden. Und jetzt, da ihre Beschützer weit entfernt im Luna Park waren …
Einerseits war sie nun froh, dass Tiago sie eingeschlossen hatte. Andererseits saß sie im Fall des Falles in der Falle. Konnte die Holztür einen Dämon aufhalten? War Bojan in der Lage, sich in Luft aufzulösen und in Nebelform durch das Schlüsselloch zu fließen?
Ana hielt es nicht mehr aus. Immer wieder rief sie sich in Erinnerung, dass Dämonen die Öffentlichkeit mieden. Und im Wohnheim hielten sich naturgemäß viele Menschen auf.
„Ana? Bist du zu Hause?“
Sie zuckte zusammen und starrte auf die geschlossene Tür.
Es klopfte. „Ana? Mach auf!“
„Lauren?“
„Ja. Ich bin’s. Hast du Ty gefunden oder mit ihm gesprochen? Ich mache mir solche Sorgen um ihn und fühle mich so schuldig.“
„Du kannst nichts dafür, dass er manchmal ein echter Schwachkopf ist. Warte, ich mach auf.“ Ana freute sich, die Stimme ihrer Freundin zu hören, lief zur Tür und drückte die Klinke herunter. Im nächsten Moment wurde Ana wieder bewusst, dass sie in ihrem Zimmer gefangen war. Vor Erleichterung hatte sie es vergessen. „Oh Mist!“, stieß sie hervor.
„Was ist? Geht’s dir gut?“, fragte Lauren besorgt von der anderen Seite der Tür.
„Ja, alles klar. Äh … ich kann leider nicht aufmachen. Es ist eine lange Geschichte. Aber Tiago hat mich aus … Versehen eingeschlossen.“
„Ich kann den Hausmeister holen und ihn bitten aufzuschließen“, bot Lauren an.
„Okay. Äh … nein! Das ist echt kompliziert“, stammelte Ana. Wie sollte sie Lauren erklären, dass es besser war, wenn die Tür verschlossen blieb? Und warum, verdammt noch mal, friere ich immer noch, dachte Ana.
„Ich muss aber dringend mit dir sprechen!“ Lauren rüttelte von außen an der Tür.
„Dann unterhalte dich mit mir durch die Tür.“
„Was soll denn der Blödsinn? Mach endlich auf!“ Ein heftiger Stoß erschütterte den Türrahmen. Das Holz vibrierte, die Scharniere knirschten.
„Spinnst du?“, rief Ana.
Da ertönte ein lauter Schlag, und Laurens Faust zerschmetterte das Holz direkt neben dem Schloss. Ihre Hand ragte in den Raum, sie tastete nach dem Türgriff und drückte ihn hinunter. Als die Tür verschlossen blieb, befühlte sie das Schlüsselloch und wollte offenbar den Schlüssel umdrehen.
Ein eisiger Windhauch drang durch das Loch in der Tür, Ana zitterte. Wie gelähmt starrte sie auf Laurens Hand. Dann, endlich erkannte Ana, was geschehen sein musste.
„Hau ab!“, rief sie panisch. „Du bist nicht Lauren! Du bist …“ Sie stürzte vorwärts und schlug auf die Hand ein.
Blitzschnell packte Lauren ihr Handgelenk und zerrte ihren Arm mit unglaublicher Kraft durch die Öffnung. Ana prallte gegen den Türrahmen und versuchte, sich zu befreien. Aber die Faust hielt ihr Handgelenk fest umklammert. Ana stemmte sich mit ihrem Körpergewicht gegen die Tür, bis sie den Arm zurückziehen konnte. Im nächsten Moment schoss Laurens Hand durch das Loch in der Tür. Blitzschnell beugte Ana sich herab und biss hinein. Lauren ließ sie los. Ana fiel zu Boden.
„Verschwinde!“, schrie sie aus Leibeskräften.
Lauren zog ihre Hand zurück und änderte ihre Taktik. Mit voller Wucht trat sie gegen die Tür. Es klang, als schlugen Brecheisen auf das Holz ein. Ana hörte die Bretter splittern. Hastig rappelte sie sich auf, stürzte zum Fenster und riss es auf.
„Hilfe! Einbrecher!“, rief sie in die Nacht hinaus.
„Was ist denn hier los?!“, ertönte mit einem Mal die Stimme des Hausmeisters vom Flur her. „Junge Frau! Hören Sie sofort auf! Sind Sie auf Drogen? Ich rufe die Polizei! Hiergeblieben! Stehen bleiben!“
Ana hörte, dass jemand weglief. Kurz darauf lugte der Hausmeister durch das Loch in der Tür zu ihr ins Zimmer. „Ist alles in Ordnung? Kannten Sie die Irre?“
„Mir geht’s gut.“ Ana zitterte noch immer. Aber nicht mehr vor Kälte, sondern vor Schock. Lauren war Bojans Helferin! Wie hatte das geschehen können? Und wann? Ana ärgerte sich, weil sie ihren Instinkten nicht vertraut hatte. Ihr Unterbewusstsein hatte sie gewarnt, und sie hatte die dämonische Gefahr allzu deutlich gespürt.
„Ich komme rein!“, sagte der Hausmeister und schloss mit seinem Generalschlüssel auf.
Nachdem er das Loch und das gerissene Holz von beiden Seiten betrachtet hatte, murmelte er missgestimmt: „Seien Sie ehrlich, Sie kennen die Frau!“
„Ich will nicht, dass sie Ärger bekommt. Sie ist gerade … nicht sie selbst.“
„Das ist mir egal! Ich rufe die Polizei! Ich bin diese Randalierer wirklich ein für alle Mal leid. Jedes Wochenende gibt es Zoff mit betrunkenen Studenten, und jetzt auch noch das! Wer bezahlt die Reparatur? Sie?“
„Ja, natürlich“, antwortete Ana sofort. „Aber, bitte, rufen Sie nicht die Cops! Sie macht so etwas normalerweise nie. Aber sie ist gerade …“
„Ja, ja, ich hab’s gehört. Sie ist nicht sie selbst. Also, als ich so jung war wie Sie, gab es so etwas nicht. Ihr jungen Leute habt Probleme …“ Er schüttelte den Kopf. „Das übersteigt meinen Horizont. Und diesmal rufe ich nicht die Polizei. Aber wenn das noch einmal vorkommt, zeige ich Sie gleich mit an.“
Er kniff die Augen zusammen. „Und noch was: Herrenbesuche sind im Wohnheim nicht erlaubt. Jedenfalls nicht über mehrere Tage! Mir ist zu Ohren gekommen, dass Sie gleich zwei junge Männer beherbergen?!“
„Beherbergen ist das falsche Wort. Äh … sie übernachten meist draußen. Es sind Freunde aus Kansas. Sie sind zu Besuch, um sich die Uni anzusehen. Sie wollen vielleicht hier studieren … Aber sie reisen bald wieder ab. Versprochen!“
Der ältere Mann gab einen undeutlichen Laut von sich und musterte Ana eindringlich. „Also gut. Ich drücke noch einmal beide Augen zu. Aber kommt auch nur noch eine Beschwerde über Ihren Besuch … Oder tobt sich noch mal jemand an Ihrer Tür aus … Dann melde ich Sie der Polizei. Ist das klar?“
„Ja. Und vielen Dank für Ihr Verständnis!“
„Mhpf!“, wiederholte der Hausmeister. „Ich bin gleich wieder da. Ich hole Holz und repariere die Tür erst mal notdürftig.“
Während er den Flur hinunterging, ließ Ana sich erschöpft auf ihr Sofa sinken. Sie rieb sich das Handgelenk. Dort, wo Lauren sie gepackt hatte, war die Haut rosarot verfärbt und tat weh.
Ana fühlte sich wie erschlagen. Bojan hatte ihre Freunde Ty und Lauren in seine Jünger verwandelt. Sie waren verloren, ihre Leben beendet.
Das durfte auf keinen Fall mit Brooke und Dillon geschehen. Vielleicht war es für Brooke auch schon zu spät!
Schnell sprang Ana von der Couch auf und lief zu ihrem Schreibtisch. Dort lag ihr Handy. Sie griff danach und wählte Brookes Nummer. Aber Brooke ging weder an ihr Mobiltelefon noch an ihr Telefon zu Hause.
Ana wollte gerade eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen, als ihr schwindelig wurde. Ihr gelang es nicht mehr, sich auf den Schreibtischstuhl zu setzen. Machtlos fiel sie zu Boden und lag in einem halbwachen Zustand auf dem Teppich, unfähig aufzustehen oder zu sprechen. Sie versuchte, den Hausmeister um Hilfe zu rufen. Aber nur ein Flüstern kam über ihre Lippen. Dann verschwamm ihr plötzlich alles vor den Augen. Sekunden darauf sah sie wieder klar.
Sie sah Brooke auf dem Sofa schlafen. Ein riesiger, dunkler Schatten senkte sich über sie. Brooke bewegte sich unruhig hin und her.
Ein Albtraum suchte sie heim, in dem Bojan versuchte, Macht über sie zu erlangen. Plötzlich setzte Brooke sich senkrecht auf und schrie: „Hau ab, wer immer du bist! Ich will nicht!“
Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, verpuffte der Schatten. Brooke sank auf das Sofa zurück, seufzte und schlief friedlich, als wäre nichts vorgefallen.
Im gleichen Moment konnte Ana sich wieder bewegen. Irritiert richtete sie sich auf und lehnte sich gegen ihren Schreibtisch. Ihr Körper schmerzte, ihr Hals tat weh. Sie wusste nicht, was mit ihr geschehen war. Doch sie hätte vor Freude weinen können. Im tiefsten Inneren wusste sie, dass Brooke trotz aller Versuche Bojans, sie auf die Schattenseite zu ziehen, gegen den Einfluss des Dämons gefeit war.
Erleichtert streckte Ana den Arm aus und griff nach dem Handy, das ihr beim Sturz aus der Hand gefallen war. Brooke hatte sich als Kämpfernatur entpuppt. Jetzt wollte Ana Dillon anrufen. Gleichgültig ob er den Anruf annahm, vielleicht hatte sie eine weitere Vision und konnte herausfinden, ob Dillon in Gefahr war, dem Dämon widerstand oder bereits zu den Bekehrten gehörte.
Sie wählte Dillons Handynummer und lauschte wenig später dem Text, den er auf die Mailbox gesprochen hatte. Ana wartete ungeduldig und wünschte sich eine zweite Vision herbei. Doch nichts geschah. Dillons Stimme verkündete, dass er nicht da sei, man ihm jedoch gern eine Nachricht hinterlassen solle.
Ana zögerte. Sollte sie ihn bitten, schnellstmöglich zurückzurufen? Sie wollte zum Sprechen ansetzen, da wich ihr die Kraft aus den Armen. Ana fiel zur Seite, sie zuckte und bebte. Sie konnte sich nicht bewegen.
Ein Bild tauchte vor ihr auf. Dillon saß vor seinem Computer und spielte „God of War“. Hochkonzentriert starrte er auf den Bildschirm und forderte die Götter des Olymps zum Kampf heraus. Kein dunkler Schatten versuchte, ihn in Versuchung zu führen. Ana lächelte erleichtert. Dann verschwamm das Bild vor ihren Augen, und sie spürte, wie die Kraft allmählich in ihren Körper zurückkehrte.
Mühsam kroch sie auf allen vieren zum Sofa. Plötzlich hörte sie Schritte auf dem Gang.
Panisch versuchte sie aufzustehen, aber die Beine gehorchten ihr nicht. Sie sah sich nach einer potenziellen Waffe um. Doch dann besann Ana sich und folgte ihrer Intuition. Keine warnende innere Stimme, kein Kälteschub.
Der Hausmeister betrat das Zimmer und starrte sie verblüfft an.
„Alles in Ordnung“, krächzte Ana. Ihre Stimme gehorchte ihr noch nicht.
„Soll ich einen Arzt rufen? Kann ich Ihnen helfen?“
„Nein, nein, wie gesagt: Alles okay.“ Sie zog sich am Schreibtisch hoch und humpelte zum Sofa.
Der Hausmeister schüttelte den Kopf und stellte seinen Werkzeugkasten ab. Während er die Fläche ausmaß, die repariert werden musste, achtete er nicht auf Ana. Offensichtlich war sie ihm nicht geheuer.
Lächelnd setzte sie sich und dachte an ihre zweite Vision. Dillon war kein Kandidat für Bojan. Das hätte sie angesichts seiner sachlichen Art auch gewundert. Sie musste also nur Ty und Lauren fürchten. Sie seufzte. Was hieß das eigentlich nur?
„Bin gleich wieder da“, meinte der Hausmeister.
Ana nickte nur. Die Visionen hatten an ihrer Kraft gezehrt. Am liebsten hätte Ana sich jetzt ausgestreckt und geschlafen. Müde schloss sie die Augen und hörte, dass der Hausmeister in den Flur ging.
Dann sah sie Tiago und Kadir aus dem Luna Park gehen. Sie machten sich auf den Weg zu ihr. Ihren Mienen nach zu urteilen, war der Besuch ergebnislos verlaufen. Da hielt Tiago inne und blieb stehen. Es war, als sähe er sie an.
Lautes Hämmern ertönte. Das Bild verschwand.
Ana riss die Augen auf und beobachtete, wie der Hausmeister ein Holzbrett über dem Loch in der Tür anbrachte.
Seufzend legte sie sich die Hände an die Schläfen. Ihr Kopf schien zu dröhnen. Zum Glück hatte der Hausmeister seine Arbeit binnen weniger Minuten erledigt.
„Ich bin dann mal weg“, sagte er zu Ana gewandt, dreht sich um und stand plötzlich vor Tiago und Kadir. „Ihr habt mir gerade noch gefehlt“, rief der Hausmeister. „Eure Zeit läuft! Nächste Woche will ich euch hier nicht mehr sehen. Und kümmert euch um eure Freundin. Sie ist …“ Er tippte sich mit dem Finger gegen die Stirn, musterte Kadir und Tiago abschätzig und meinte dann: „Na ja, da ist sie ja wohl nicht die Einzige.“ Dann schloss er die Tür von draußen und ließ die drei allein.
„Was ist geschehen?“ Tiago betrachtete die reparierte Tür und sah dann in Anas Gesicht.
„Lauren ist eine Anhängerin von Bojans geworden. Sie hat versucht, die Tür aufzubrechen, um mich …“, flüsterte Ana. Sie war so erschöpft, sie konnte nicht einmal mehr wegen Laurens mörderischen Absichten in Tränen ausbrechen.
„Einer von uns hätte bei dir bleiben sollen“, sagte Tiago verärgert. „Bist du verletzt?“
Ana schüttelte den Kopf.
„Wir brauchen Unterstützung. Jetzt noch mehr als zuvor. Ich weiß nicht, wie oft ich das wiederholen soll.“ Kadir sah Tiago ernst an.
Tiago drehte ihm den Rücken zu und wandte sich an Ana. „Wir haben Ty nicht gefunden. Aber im Geisterhaus gab es Anzeichen dafür, dass er dort gewesen ist. Eine der Spukgestalten ist abmontiert worden und liegt neben den Schienen. An einer zweiten hat sich jemand zu schaffen gemacht. Ich vermute, als Ty sie abbauen wollte, ist Bojan aufgetaucht. Ansonsten haben wir nichts gefunden. Aber wir müssen davon ausgehen, dass er ein Bekehrter ist.“
In dem Moment krampfte Anas Körper sich zusammen. „Ich … Helft …“ Sie streckte die Hand nach Tiago aus.
Er ergriff sie und hielt sie fest. Ana sank auf die Sofakissen. Sie sah, dass Tiago auf sie einredete, hörte jedoch nicht, was er sagte. Dann verschwammen die Gesichter der beiden vor ihren Augen, und sie fand sich vor dem Geisterhaus des Luna Parks wieder.
Es war stockfinster. Ty stand vor der Jahrmarktsattraktion und pfiff vor sich hin. Das tat er immer, wenn ihm etwas nicht geheuer war. Er betrat das Fahrerhäuschen und machte sich an der Technik zu schaffen. Plötzlich sprangen die Lichter des Geisterhauses an, und mit einem Quietschen setzten sich die auf den Schienen installierten Sesselwagen in Bewegung. Ty grinste zufrieden und schwang sich in einen der Wagen. Er ließ sich ins Innere des Geisterhauses fahren.
In dem Gebäude flackerten einzelne, intakte Glühlampen und tauchten die zerfallenen Pappmonster in ein unheimliches Licht. Im hinteren Teil der Geisterbahn, dort, wo sich das Spukhaus befand, herrschte Dunkelheit.
Bevor der Sesselwagen ihn in die Finsternis fuhr, sprang Ty auf der Höhe eines Vampirs aus Pappmaché heraus. Er zog sein Schweizer Messer aus der Hosentasche, baute die Horrorfigur ab und legte sie neben die Schienen. Dann machte er sich an einem Plastikskelett zu schaffen.
Er pfiff weiter vor sich hin und war in seine Arbeit so vertieft, dass er die gelb leuchtenden Augen, die vor ihm aus dem finsteren Spukhaus auftauchten, nicht bemerkte. Erst als das dunkle Grollen einsetzte, hob er irritiert den Kopf. Die Lichter des Geisterhauses flackerten auf. Und kurz bevor sie erloschen, sprang mit einem Satz eine riesige Gestalt aus der Dunkelheit.
Ana stöhnte entsetzt auf. Sie sah mehrreihige Haifischzähne. Dann wurde es pechschwarz. Ty schrie auf und jammerte: „Bitte, Gott! Lass es kein Wesen der Schattenwelt sein!“
Dann sah Ana nichts mehr. Sie hörte Tiago ihren Namen rufen, konnte ihm aber nicht antworten. Seine Stimme verlor sich, und vor Anas Augen rasten Farben.
Wieder fand sie sich im Luna Park wieder. Doch diesmal war es helllichter Tag, und sie folgte Lauren. Ihre Freundin schien sehr ängstlich zu sein. Nervös sah Lauren sich nach rechts und links um, während sie in dem menschenleeren Vergnügungspark den Weg zur Geisterbahn entlangging.
„Ty!“, rief sie. „Ty, bist du hier?“ Sie stand vor dem Eingang zur Geisterbahn und zog sich die Jacke eng um den Körper.
„Verdammt!“, fluchte sie, holte ihr Handy aus der Tasche und wählte eine Nummer. „Nun geh schon ran, Ty! Dann kann ich von hier abhauen“, murmelte sie.
Dann drückte sie seufzend auf eine Taste, steckte das Telefon ein und betrat zögernd die Geisterbahn.
Langsam folgte sie den Schienen ins Innere des Hauses. Sie entdeckte den abmontierten Vampir. „Ty hat es wahrhaftig getan“, flüsterte sie und ging zum Ausgang.
„Ty!“ Sie starrte in Richtung des Spukhauses, blieb zögernd stehen. Im nächsten Moment wich sie einen Schritt zurück.
„Lauren.“ Ty trat aus der Dunkelheit des Spukhauses.
„Oh Gott! Hast du mich erschreckt! Du bist echt irre! Ich kann nicht glauben, dass du die Figuren wirklich in Anas Wohnheim schaffen willst. Tu es nicht! Bitte! Du und Ana, ihr seid so gute Freunde, zerstör das nicht mit so einer albernen Aktion.“
„Mach ich auch nicht. Es gibt einen Plan B“, erwiderte Ty und winkte Lauren zu sich. „Komm her! Ich will dir jemanden vorstellen.“
„Wen denn?“ Lauren lächelte vorsichtig und sah Ty skeptisch an.
„Nun komm schon! Hast du etwa Angst?“ Er zwinkerte ihr zu.
„Ja, hab ich … vor den Schattenweltwesen … vor einem Dä…“ Sie hatte das Wort noch nicht zu Ende gesprochen, als Ty ihr Handgelenk packte und sie in die Dunkelheit zog. Gelbe Augen leuchteten auf. Ein tiefes Grollen ertönte, und Lauren schrie entsetzt auf. Ihr schriller Schrei verlor sich, dann herrschte Totenstille.
Keuchend fuhr Ana aus ihrer Trance hoch und rang nach Atem. „Ich hab alles gesehen. Ich weiß, was mit Lauren und Ty geschehen ist.“ So schnell sie konnte, erzählte sie Tiago und Kadir, was sie wusste.
„Ich kann nicht mehr.“ Dann sank sie in die Sofakissen und schlief ein.