16. KAPITEL
Es hatte Elizabeths ganze Aufmerksamkeit beansprucht, Jane aus ihren nassen Kleidern und in ein heißes Bad zu bekommen. Mutter und Kind sollten unbedingt außer Sichtweite von Edwina untergebracht sein, bevor sie zurückkehrte.
Josie hatte sich selbst übertroffen. Auf die Frage von Jane, wie es ihrem Jungen ging, hatte sie gutmütig geantwortet: „Der kleine Bub hat gar nicht mehr aufgehört zu essen, Madam. Sie werden ihn kaum wiedererkennen, so hat er zugenommen.“
„Was ist los?“, fragte Ross, als Elizabeth in den Salon kam, nachdem alles geregelt war. „Du hast kaum mit mir gesprochen oder mich angesehen, seit ich zur Tür hereingekommen bin. War der Pfarrer wieder hier, um dich zu warnen, dass ich ein gottloser Schurke bin?“
„Das braucht Hugh mir nicht zu sagen!“, fuhr sie ihn, ohne nachzudenken, an. Um ein würdevolles Verhalten bemüht, holte sie tief Luft. „Bist du verletzt?“ Sie musterte ihn besorgt. Abgesehen von einem Kratzer am Auge und seiner zerrissenen, verschmutzten Kleidung schien er nicht zu Schaden gekommen zu sein. „Ich hatte gehofft, dass Luke dich abfangen würde. Ich befürchtete, du könntest in einen Hinterhalt geraten.“
„Bin ich. Es freut mich, dass du dir um meine Sicherheit Gedanken machst.“ Sie errötete bei seinem ironischen Tonfall. „Wenn Luke und die anderen nicht erschienen wären, hätte die Sache ganz anders ausgehen können. Ich schulde meinem Bruder und meinen Freunden großen Dank. Und dir ebenfalls, weil du sie mir nachgeschickt hast.“
„Ich schulde dir ebenfalls großen Dank“, erwiderte sie bissig. „Du hast Jane und ihren Sohn wieder zusammengebracht und meine Halskette zurückgeholt. Aber das ist ja auch in deinem eigenen Interesse. Die Halskette ist Teil meiner Mitgift, und du wolltest keinen Kuckuck in deinem Nest haben.“
„Bist du verärgert, weil ich gesagt habe, ich wollte meine eigene Familie gründen? Es lag nicht in meiner Absicht, herzlos zu klingen.“
Angesichts seiner geduldigen Selbstbeherrschung verlor sie die Fassung. „Ich bin wütend, weil du vergessen hast zu erwähnen, dass du bereits damit begonnen hast, deine eigene Familie zu gründen. Vielleicht glaubst du, dein Erstgeborener ginge deine zukünftige Frau nichts an.“
Er starrte sie mit seinen grüngoldenen Augen an, bis sie den Blick senkte. „Bereits angefangen? Erstgeborener?“, fragte er mit samtiger Stimme.
„Deine Geliebte war hier und wollte mir eine Unterstützung für den Bastard entlocken, den sie erwartet. Sie behauptet, ihr wärt heimlich verlobt gewesen und dass du dich ihrer grausam entledigt hättest. War das, nachdem Edwina dich für mich gekauft hat?“
Ein lastendes Schweigen breitete sich aus. Schließlich fasste er ruhig zusammen: „Cecily Booth kam heute Abend her und sagte, wir wären verlobt gewesen und sie würde mein Kind erwarten?“
„Ja.“
„Ich entschuldige mich für ihre ungeheuerlichen Lügen und ihre Unverschämtheit. Sie wird dich nie wieder belästigen.“ Er trat auf sie zu, doch sie wandte den Kopf ab.
„Elizabeth … sieh mich an …“
Elizabeth gehorchte dem heiseren Flehen in seiner Stimme.
„Willst du deine Gefühle für mich von etwas so offenkundig Falschem und Bösartigem vergiften lassen? Sieh mich an! Ich bin derselbe Mann, der dich vor nicht einmal zwei Stunden in deinem Schlafgemach in den Armen gehalten und geküsst hat. Was hast du mir da erzählt? Sag es! Sag mir, was du möchtest.“
Als sie schwieg, fuhr er fort: „Falls sie in anderen Umständen ist – was ich bezweifele –, dann ist Cadmore der Übeltäter. Ich weiß genug über den weiblichen Körper, um sicher sein zu können, dass sie von mir kein Kind erwartet. Während der kurzen Zeit, in der sie unter meinem Schutz stand, war sie regelmäßig indisponiert.“
Elizabeth errötete. Sie spürte das verzweifelte Verlangen, ihn zu verletzen.
„Sie hat gewonnen, wenn du mich zurückweist, Elizabeth. Möchtest du das? Möchtest du, dass ein intrigantes Flittchen dein und mein Glück zerstört? Komm, ich bin erschöpft, und du bist aufgebracht. Es war ein chaotischer Tag für uns beide. Wir sollten jetzt nicht weiter darüber reden.“ Er zog die Halskette aus der Tasche und hielt sie ihr hin. „Möchtest du sie nicht?“, fragte er mit einem jungenhaften Lächeln, bei dem ihr Herz einen Sprung machte.
Elizabeth starrte die achteckigen Amethyste an, die denen in ihrem Verlobungsring so ähnlich waren. War es ihr Ring? Passte er zu der Halskette, oder stand er für acht Monate Unzucht? „Nein“, wies sie sein Friedensangebot zurück. „Du hast sie dir verdient. Behalte sie als Bezahlung für das, was du heute Abend getan hast. Ich hatte die Absicht, mit dem Schmuck Janes Freiheit zu erkaufen.“
Gedankenverloren strich er mit dem Daumen über die Steine. „Du wirst sie wiederhaben wollen“, sagte er schließlich.
„Das hast du mir schon einmal gesagt“, spottete sie.
„Und ich hatte recht. Nimm sie jetzt, oder du wirst mich aufsuchen müssen, um sie zurückzuerbitten. Überlege dir, was du tust, Elizabeth, denn ich habe es satt, ehrenhaft und nachsichtig zu sein.“ Ihre Blicke trafen sich, während er wartete, ihr Zeit ließ. Dann sah sie mit zwiespältigen Gefühlen, wie er die Kette in seine Tasche gleiten ließ und sich zum Gehen wandte.
„Mylord?“
Er war bereits an der Tür, doch Ross wirbelte auf dem Absatz herum, als sie ihn ansprach. Sein Gesicht war eine ausdruckslose Maske.
„Sie haben etwas vergessen, Viscount Stratton. Hier.“ Sie zog den Verlobungsring hervor und warf ihn ihm zu. Sicher fing er ihn auf. „Geben Sie ihn Ihrer Hure zurück. Sie vermisst ihn und besonders die acht wundervollen Monate, die er symbolisiert“, sagte Elizabeth kalt.
Ein freudloses Lachen entrang sich seiner Kehle, als er den unbezahlbaren Ring anschaute. Im nächsten Moment war er fort.
„Was sagst du, der Viscount war auch darin verwickelt? Ich werde ihm bei lebendigem Leibe die Haut abziehen!“
Elizabeth ließ Jacks Hand los und massierte mit den Fingern ihre schmerzenden Schläfen. „Bitte, Großmama, versuch es zu verstehen. Sie können sonst nirgendwo hingehen. Ich habe dir doch gesagt, dass der Junge gezwungen wird, Taschendiebstähle zu begehen oder Schornsteine hinaufzuklettern, wenn Leach seinen Willen bekommt. Ich war so ehrlich, dich von ihrer Anwesenheit in Kenntnis zu setzen.“ Elizabeth errötete ein wenig, da Jane sich bereits seit sechsunddreißig Stunden im Haus befunden hatte, bevor Elizabeth erkannte, dass es keinen Sinn hatte, sie noch länger zu verstecken, und beschloss, an die Menschlichkeit ihrer Großmutter zu appellieren.
„Nun, da Stratton dich in deinem Tun unterstützt hat, bitte ihn doch, sich um eine anständige Unterkunft für die beiden zu kümmern. Unter meinem Dach werden sie nicht länger bleiben!“
„Das kann ich nicht, Großmama …“
„Weshalb nicht? Er ist dein Verlobter. Ihr seid so gut wie verheiratet“, deutete sie mit einem sprechenden Blick auf die Taille ihrer Enkelin an. „Wo ist dein Ring?“ Sie griff in die silberne Schale neben sich und steckte sich ein Stück Marzipan in den Mund. Als Jack die Süßigkeit sah, machte er große Augen. Edwina hielt im Kauen inne.
„Ich nehme an, du möchtest eins.“ Ihr Ton klang beinahe wie eine Beschuldigung.
Der Junge nickte schüchtern.
„Hier, nimm schon!“ Mürrisch drückte sie ihm die Schale in die Hand und winkte ihn fort. Jack bedankte sich flüsternd und lief zu seiner Mutter.
„Los, geht in den Salon, ihr beiden“, befahl Edwina ihren unwillkommenen Gästen unwirsch. „Ich möchte mit meiner Enkelin unter vier Augen sprechen. Lass die Schale hier!“, schnauzte sie Jack an, bevor er den Raum verließ.
„Weshalb kannst du das nicht tun?“, fragte Edwina, sobald sie mit Elizabeth allein war.
Elizabeth zuckte zusammen. Noch eine Neuigkeit, die sie ihrer Großmutter bislang verschwiegen hatte. Nicht zuletzt, weil sofort Tränen in ihren Augen brannten, wenn sie auch nur daran dachte.
„Wir haben uns gestritten, Großmama“, gestand sie heiser.
„Verliebte streiten sich immer“, meinte Edwina wegwerfend.
Elizabeth schluckte, doch der Kloß blieb in ihrem Hals. „Es war eine schlimme Auseinandersetzung. Wir sind nicht länger verlobt. Ich habe ihm seinen Ring zurückgegeben.“
„Du hast die Verlobung gelöst?“ Edwina war zu schockiert, um wütend zu sein. „Warum, in Gottes Namen? Ich weiß, dass du ihn liebst. Und das ist ja auch kein Wunder! Er ist der begehrteste Mann weit und breit! Alle wichtigen Gastgeberinnen laden dich ein … als seine Verlobte. Er hat dir geholfen, diese … diese Obdachlosen zu retten. Und jetzt weist du ihn zurück?“ Edwina war vollkommen verblüfft, aber Elizabeth spürte auch ihren unterschwelligen Zorn. „Hat er dich ausgeschimpft, weil du dich mit Gesindel abgegeben hast? Du kannst stur und überheblich sein, wenn du dir etwas in den Kopf gesetzt hast, Elizabeth.“
„Der Grund waren seine Verfehlungen, nicht meine“, platzte Elizabeth verärgert heraus.
„Ich nehme an, dieses dreiste Flittchen hat ihn wieder verfolgt und geplagt, und das ist dir zu Ohren gekommen.“
Mit einem scharfen Blick verlangte Elizabeth eine Erklärung.
„Diese vermaledeite Brünette hat sich zum Gespött gemacht, weil sie hinter Ross herläuft. Auch als Cadmore sich ihrer angenommen hatte, hat sie noch versucht Stratton zurückzugewinnen. Verdammt gut möglich, dass sie meine Gespräche letztes Mal bei Maria belauscht hat. Wo ich mich auch hinwandte, überall war sie und beobachtete mich. Cecily Booth ist ein eifersüchtiges Biest, das nichts Gutes im Schilde führt, denk an meine Worte!“
Das tat Elizabeth. „Was hat sie denn mit angehört? Hast du mit meiner Verlobung mit dem Viscount geprahlt?“, fragte sie vorsichtig. Ein böser Verdacht beschlich sie. „Hast du mit meinem Ring angegeben?“
Edwina runzelte nachdenklich die Stirn, dann kicherte sie. „Ja. Und wie. Alice Penney hat vor Wut gekocht, als ich ihr davon erzählt habe.“
„War er mit Cecily Booth verlobt, Großmama?“
„Verlobt? Hah!“ Edwina lachte kreischend. „Das hätte sie wohl gerne gehabt!“
„Waren sie acht Monate zusammen?“
„Wohl eher acht Wochen. Kann mich nicht erinnern, dass Ross je acht Monate lang dasselbe Mädchen gehabt hätte …“ Edwina hüstelte. „Also, es reicht jetzt mit diesem unschicklichen Gerede.“
Elizabeth schloss die Augen. Sie war eine solche Närrin. Sie hatte sich von bösartigen Lügen beeinflussen lassen, weil sie zu empfindlich war und viel zu überheblich. Endlich sah sie ein, dass Ross sie nicht wegen ihrer Mitgift wollte, aber nun war es zu spät. Er hatte versucht, sie von ihrer Eifersucht abzubringen, sie zu beruhigen, bevor sie einer verschmähten Rivalin gestattete, ihre gemeinsame Zukunft zu zerstören. Aber sie hatte sich geweigert, sich wie eine erwachsene Frau zu benehmen.
Es klopfte, und auf Edwinas „Herein“ trat Pettifer in den Raum. „Mrs. Trelawney und die Ladies Ramsden, Du Quesne und Courtenay sind gekommen, Madam“, verkündete er. „Soll ich sie hereinführen?“
Edwina warf einen Blick in das geisterhaft blasse Gesicht ihrer Enkelin. „Jedenfalls hat Ross das Zerwürfnis für sich behalten, wenn seine Verwandten und Freunde uns noch die Aufwartung machen. Dem Himmel sei Dank!“
Ross war in Kent und beaufsichtigte Reparaturen in Stratton Hall, erfuhr Elizabeth von seiner Mutter. Sie tat natürlich so, als wüsste sie, wo er war, um unangenehmen Fragen aus dem Weg zu gehen. Die Damen waren gekommen, um zu sehen, wie es ihr ging und ob sie ihre Indisposition endlich überstanden hatte. Demelza Trelawney hatte neben ihr gesessen, ihre Hand gehalten und ihr versichert, wie glücklich sie sei, sie nun bald in der Familie willkommen zu heißen. Sie sagte, sie wäre traurig, dass Katherine und Tristan die Hochzeit verpassen würden, und dass beide geschrieben hätten, wie sehr sie sich darauf freuten, ihre neue Schwägerin kennenzulernen.
Jane kam herein und wurde als alte Freundin vorgestellt, die eine Weile zu Besuch war. Alle Damen hatten sie freundlich begrüßt, und falls sie Bescheid wussten, wer sie war, so waren sie alle so höflich gewesen, keine Bemerkung darüber zu machen.
„Feine Leute“, meinte Edwina begeistert, nachdem die Besucherinnen sich verabschiedet hatten. „Zu diesen Kreisen zu gehören sollte man nicht einfach so aufgeben.“ Sie setzte sich in ihren gemütlichen Sessel am Kamin und sah Elizabeth an. „Nun, mein Mädchen, du hast einen schweren Fehler gemacht. Du hast überreagiert, und jetzt bist du zu stolz, um es dir einzugestehen.“
„Nein, bin ich nicht. Ich gebe es bereitwillig zu“, erwiderte Elizabeth und blinzelte heftig.
„Fein, das ist ein Schritt in die richtige Richtung. Und um dir bei deinem nächsten zu helfen … ich werde deiner Freundin und ihrem Jungen gestatten, noch ein paar Tage zu bleiben …“ Sie griff in die Konfektschale und schob sich eine Praline in den Mund. „… unter der Bedingung, dass du bei deinem Verlobten zu Kreuze kriechst.“
„Das kann ich nicht …“
„Du musst es tun. Ist dir morgens immer noch übel?“
Elizabeth nickte. Ihr Magen krümmte sich weiß Gott den ganzen Tag. Dann dämmerte ihr auf einmal etwas, und sie sah Edwina forschend an. Doch ihre Großmutter lächelte nur ungerührt. „Geh, und mach dich fertig. Josie kann mit dir reisen.“
Sie hörte die See, bevor sie sie sehen konnte. Das Geräusch der Brandung ließ sie einen Moment lauschend innehalten.
Sie gab dem Kutscher ein Trinkgeld, und schon bald war die Mietkutsche über die sandige Auffahrt zur Hauptstraße davongerumpelt. Josie beäugte neugierig die Fachwerkfassade von Stratton Hall und ließ den Blick dann zu dem mit Zinnen versehenen Dach schweifen, von dem die Schindeln herunterrutschten. Sie verzog das Gesicht. Elizabeth zwang sich, sie anzulächeln, während sie ängstlich das verfallene gotische Herrenhaus betrachtete, dessen Herrin sie vielleicht oder vielleicht auch nicht werden würde.
„Warte hier einen Augenblick“, befahl Elizabeth ihrer Zofe. „Ich möchte noch nicht hineingehen. Ich muss erst das Meer sehen.“
Sie ließ Josie bei dem Gepäck zurück und lief über das raue, ungemähte Gras. Sie kam durch einen Obstgarten, der früher einmal sehr schön gewesen sein musste. Überall lagen faulende Früchte auf dem Boden, und die Äste der Bäume schaukelten in der milden Herbstbrise. Ein intensiver Geruch nach Äpfeln hing in der Luft.
Sie bahnte sich ihren Weg durch hohes Schilfgras, dann blieb sie stehen und genoss die Aussicht. Unter ihr glitzerten Sonnenstrahlen auf dem Wasser, das in hohen, schaumgekrönten Wellen auf den weißen Sand einer kleinen, hübschen Bucht spülte. Gefesselt beobachtete sie das Naturschauspiel.
Auf einmal spürte sie, dass er da war, dicht hinter ihr. Sie hielt den Atem an.
„Komm von der Kante weg. Die Kreidefelsen bröckeln ab.“
Vorsichtig trat sie zwei Schritte zurück und wandte sich zu ihm um. Diese wilde, raue, schöne Landschaft war sein natürlicher Lebensraum. In seiner dunklen Kleidung und mit vom Wind zerzaustem Haar passte er perfekt in die Umgebung. Er hatte seinen Adlerblick auf sie gerichtet und ließ sie nicht aus den Augen. Es schien ihr, als sähe sie den Seeräuber in ihm zum ersten Mal.
„Du musst das Durcheinander im Haus entschuldigen. Ich habe zurzeit nur wenig Dienerschaft. Wenn ich gewusst hätte, dass du heute kommst, hätte ich ihnen aufgetragen, sauber zu machen. Du bist eher hier, als ich dachte.“
Sie hörte den Triumph in seiner Stimme. Aber was hatte sie auch erwartet? Überlege dir genau, was du tust, hatte er zu ihr gesagt, denn ich habe es satt, ehrenhaft und nachsichtig zu sein.
Und sie war gekommen. Sie sah in seinen glitzernden Raubvogelaugen, dass er gemeint hatte, was er sagte. Beklommen ließ sie ihr erhitztes Gesicht von dem lauen, salzigen Wind kühlen. „Führen Stufen zum Strand hinunter?“
„Ja, aber jetzt gehst du dort nicht hin.“
Er erwartete, dass sie sich ihm widersetzen würde. „Nein“, murmelte sie. „Jetzt nicht.“ Dann ging sie an ihm vorbei zum Herrenhaus zurück.
Sie hatten sich in den roten Salon gesetzt. Es war, wie Ross ihr erklärte, der einzige Raum, der sich in einem einigermaßen vernünftigen Zustand befand. Er enthielt einige exquisite, zierliche Möbelstücke, die wohl dem Geschmack der letzten Schlossherrin entsprachen.
Auf Befehl seines Herrn brachte ein Hausmädchen ein Tablett mit Tee und Kuchen für Elizabeth. Sie trank jedoch nur einen hastigen Schluck, bevor sie aufstand und unruhig im Zimmer umherlief.
Das Schweigen zog sich in die Länge. Elizabeth blieb stehen. Sie biss sich auf die Unterlippe und sah Ross flehend an. In ihren klaren Augen stand die Bitte um ein Zeichen, dass er nicht so unnachgiebig war, wie er sich gab, dass er ihr verzeihen würde. Er nippte an seinem Brandy und beobachtete sie über den Rand des Glases hinweg.
Ihr Herz sank. Er hatte nicht die Absicht, es ihr leicht zu machen. Aber weshalb sollte er auch?
Ruhelos nahm sie ihre Wanderung durch den Raum wieder auf, während die Atmosphäre immer angespannter wurde. „Ich … ich verstehe, weshalb du so böse auf Edwina warst … dass sie dir das Geld entlockt hat. Die Renovierung hier muss ein Vermögen kosten.“ Da das keine Kritik an seinem Heim sein sollte, fügte sie rasch hinzu: „Aber ich … ich glaube, das Haus ist viel versprechend …“
„Es ist ein vernachlässigtes Dreckloch.“
„Gefällt es dir nicht?“
„Seine Lage gefällt mir. Aber dieses Schloss hat neun Jahre lang leer gestanden.“
„Du wolltest es wegen der See?“
„Ja.“
„Es wird eines Tages wieder schön hier sein. Mir gefällt es …“
Wieder nahm er einen Schluck aus seinem Glas.
Verzweifelt bemüht, das Gespräch in Gang zu halten, damit sie die angespannte Stille nicht ertragen musste, plapperte sie: „Ich wollte dir erzählen, dass … deine Mama und die Gattinnen deiner Freunde uns die Aufwartung gemacht haben. So habe ich erfahren, dass du hier bist. Ich habe so getan, als hätte ich es gewusst. Ich dachte, sie würden es für seltsam halten, dass du deiner Verlobten nicht gesagt hast, wo du bist.“
„Als wir das letzte Mal miteinander sprachen, hatte ich nicht den Eindruck, dass es dich je wieder kümmern würde, wo ich bin.“
Elizabeth zuckte zusammen und errötete, aber sie schöpfte Mut, weil er nicht bestritten hatte, dass sie seine Verlobte war. „Und Edwina weiß jetzt, dass Mrs. Selby und Jack sich unter ihrem Dach befinden. Sie sagte, sie können noch eine Weile bleiben, solange ich … das heißt, zumindest bis ich wieder nach Hause komme.“
„Ein Dach über dem Kopf, solange du bei mir bleibst? Kennt deine Wohltätigkeit keine Grenzen, meine Liebe?“
Elizabeth wirbelte herum, sah ihn an und hob das Kinn. „Ich wäre ohnehin gekommen, ob Edwina ihnen Zuflucht gewährt hätte oder nicht. Es war meine Entscheidung, dich aufzusuchen.“
„Tatsächlich?“
„Ja.“
„Aus welchem Grund? Sag mir, was die Tochter eines Marquess dazu gebracht hat, den Unterschlupf eines walisischen Seeräubers aufzusuchen.“
„Ich … ich möchte dich um Verzeihung bitten. Ich weiß jetzt, dass du mit dem, was du gesagt hast, recht hattest … über die Bösartigkeit dieser Frau … und wozu das führen würde …“
„Und du bist deswegen hergekommen“, stellte er fest, ohne auf ihre Anspielung auf Cecily Booth einzugehen, und griff in seine Westentasche. Er holte ihre Halskette hervor und ließ sie zwischen Daumen und Zeigefinger baumeln. „Ich hatte dir doch prophezeit, dass du sie wiederhaben willst.“
„Ich weiß“, flüsterte sie heiser.
„Erinnerst du dich auch, was ich noch gesagt habe?“
Ihre Blicke trafen sich, und nach einem Augenblick antwortete sie ihm mit einem kaum wahrnehmbaren Nicken.
„Gut. Dann komm, und hol sie dir.“
Langsam trat Elizabeth näher. „Setz dich“, befahl er und wies auf einen Fußhocker vor seinem Sessel.
Sie ließ sich auf dem Schemel nieder und senkte den Kopf.
Nach einer Weile lehnte er sich vor, sodass seine Ellbogen auf den Knien ruhten und ihre Köpfe nahe beieinander waren. „Also, ich möchte, dass du mir einen guten Grund gibst, weshalb ich mich nicht wie der wütende Barbar benehmen sollte, für den du mich immer gehalten hast.“ Er legte die funkelnde Halskette über die milchweißen Handgelenke in ihrem Schoß.
„Du hast gesagt, du liebst mich“, antwortete sie.
„Du hast gesagt, du willst mich.“
„Das tue ich“, bestätigte sie heiser.
„Beweis es mir.“
Sie legte die Halskette auf den Boden und erhob sich. Dann raffte sie ihre Röcke mit zitternden Händen und setzte sich rittlings auf seinen Schoß, wie damals in ihrem Schlafgemach. Blind suchte sie nach seinem Mund. Ihre Lippen trafen seine Wange, schmeckten das Salz der Seeluft, glitten tiefer und streiften zart seinen Mund.
Sie spürte kühle Luft auf ihren Schultern, als er das Oberteil ihres Kleid herunterstreifte, dann seine heißen Lippen auf ihrem Nacken. Als er ihr Mieder geöffnet hatte, wollte sie sich an ihn pressen, um ihre Nacktheit zu verbergen, doch seine Hände waren schneller. Er umfasste ihre kleinen, festen Brüste und beugte sich vor. Dann fühlte sie, wie seine Lippen ihre Knospe umschlossen und seine Zunge ein quälend süßes Spiel mit ihr trieb.
Ihre Hände glitten in seine Haare und verkrampften sich bei dem ekstatischen Vergnügen, das er ihr bereitete. Sie stöhnte auf, als Hitze sich in ihrem Bauch ausbreitete. Mit einer Hand schob er ihre Röcke über ihre Schenkel hoch, mit der andern öffnete er geschickt die Bänder ihrer Unterwäsche. Aufkeuchend spürte sie seine streichelnden Finger an der samtigen Haut ihrer feuchten Mitte.
„Möchtest du wieder nach Hause? Du brauchst es nur zu sagen.“
„Nein“, flüsterte sie heiser. Das Entzücken, das seine kundige Hand ihr bereitete, war köstlich und unerträglich zugleich. Tränen strömten ihr übers Gesicht.
Er vergrub seine andere Hand in ihrem dichten, weichen Haar und bog ihren Kopf zurück, sodass er ihr in die Augen sehen konnte.
„Nein?“, wiederholte er spöttisch und hielt mit seinen Zärtlichkeiten inne. „Möchtest du bleiben? Beweist du mir auf diese Weise, dass du mich willst? Indem du weinst, wenn ich dich berühre?“
„Ja“, brachte sie mit brüchiger Stimme hervor und schlang die Arme um seinen Nacken. „Es tut mir leid … ich verspreche, ich werde mich in Zukunft anders benehmen. Ich will dich, so wie du von Anfang an warst …“
Sie hörte ihn leise lachen. Ihr Kopf sank auf seine Schulter, und sie presste ihre nackten Brüste gegen den weichen Wollestoff seines Rocks.
„Rudolph dachte, sie würden ihn töten.“ Sie hielt mit klopfendem Herzen inne, fragte sich, weshalb sie das gesagt hatte. Verwirrt runzelte sie die Stirn. Sanft streichelte er mit seinen Händen ihren bloßen Rücken. Sie fühlte sich getröstet und beschützt. „Ich hatte auch Angst, dass sie das tun würden. Ich habe ihm zugerufen, er soll fliehen … und er lief los … Ich dachte, er würde später zurückkommen, um mich zu holen, aber er kam nicht. Er hatte sich feige aus dem Staub gemacht. Die Straßenräuber wollten den Einspänner und Geld, um vor den Dragonern zu fliehen, die ihnen auf den Fersen waren. Rudolph hatte nicht einmal eine Pistole dabeigehabt. Mein Vater war außer sich.“ Sie schniefte und wischte sich die Tränen vom Gesicht. „Er sagte, ein Soldat sollte es besser wissen, als nachts ohne eine geladene Waffe zu reisen …“ Sie dachte kurz nach. „Er war so jung … kaum zwanzig. Er sagte, er wäre ein schlechter Soldat. Sein Vater hatte ihm ein Offizierspatent gekauft, aber er hasste die Armee. Er hätte lieber Medizin studiert.“
Sie schwieg einen Augenblick und genoss die tröstende Berührung seiner warmen Hände. Dann holte sie tief Luft und fuhr fort: „Der Gasthof Boar’s Head war in der Nähe, und sie nahmen mich mit, denn ihr Anführer dachte, ich wäre vielleicht ein Lösegeld wert oder könnte ihnen als Geisel nützlich sein. Außerdem suchten die Dragoner nach zwei Männern, nicht drei Leuten. Er beauftragte seinen Spießgesellen, etwas Essbares aufzutreiben, während er mich beaufsichtigen würde. Ich wusste sofort, was seine Absicht war, denn er hatte mich lüstern angesehen. Als sein Komplize zurückkehrte, hatte er mir das Kleid ausgezogen und mich ein paar Mal geschlagen, denn ich wehrte mich. Und dann …“
Starke, zärtliche Finger schoben sich in ihr Haar. „Es war seine Frau, die ihn mit einer Schaufel niederschlug. Der Hieb war so hart, dass ihr Hut herunterfiel. Sie hatte sehr langes Haar, das sie zu einem Knoten hochgebunden und unter dem Hut verborgen hatte. Zuerst dachte ich, sie hätte ihn getötet. Er war lange Zeit bewusstlos. Sie half mir … mich anzuziehen … gab mir etwas zu essen. Dann kamen die Dragoner in den Hof. Ich hätte um Hilfe schreien können, aber sie hatte mir nichts getan … Ich gab ihr mein Kleid … damit sie unerkannt fliehen konnte. Ich hoffe, sie ist dem Galgen oder Newgate entkommen. Jedes Mal, wenn ich das Gefängnis oder Bridewell besuche, halte ich nach ihr Ausschau. Ich werde ihr Gesicht niemals vergessen.“
Wieder schwieg sie eine Weile, während er sie mit seinen streichelnden Händen beruhigte. „Mein Vater hatte die Verfolgung bereits aufgenommen“, fuhr sie schließlich fort. „Er fand mich zwei Tage später, halb verhungert und nur mit meiner Unterwäsche bekleidet. Ich hatte mich versteckt, falls die Dragoner zurückkehren würden, um mich zu verhaften, weil ich Beihilfe geleistet hatte. Ich habe meinem Papa die ganze Wahrheit erzählt, alles, was passiert ist. Er hat mir keine Vorwürfe gemacht, aber er war so traurig, so zornig. Er gab sich selbst die Schuld, dass er sich nicht gut genug um mich gekümmert hätte. Für meine Großmutter, die Dowager Marchioness, war es unerheblich, ob die Halunken mir etwas angetan hatten oder nicht. Für sie war ich ruiniert, und sie meinte, es wäre besser, wenn ich nie zurückgekommen wäre … Danach habe ich sie gehasst, genau wie sie mich hasste, weil ich den Namen der Thorneycrofts beschmutzt habe. Vielleicht bin ich ihr zu ähnlich: zu überheblich und zu stolz.“
Sie richtete sich auf und wischte sich die Tränen fort, die ihr wieder über die Wangen rollten. „Für Papa war der Skandal … die Verachtung und Beschimpfungen von Menschen, die er einmal für seine Freunde gehalten hatte … zu viel. Selbst die Geburt seines Sohnes, des Erben, den er sich so sehr gewünscht hatte, konnte ihn nicht aufmuntern. Tom war erst drei Jahre alt, als Papa starb. Meine Stiefmutter beschuldigte mich, dass ich ihren Gatten in ein vorzeitiges Grab gebracht hätte, meine Großmutter gab mir die Schuld am Verlust ihres Sohnes. Sie hassten mich so sehr.“ Sie holte zitternd Luft. „Ich habe es verdient, ich weiß … sie hatten recht …“
„Du kannst nichts dafür, dass er starb, Elizabeth … es ist alles nicht deine Schuld. Du bist tapfer und selbstlos und wundervoll“, flüsterte Ross in ihr Ohr, während er sie an sich drückte und seine Hände immer noch ihren Rücken streichelten. „Edwina erzählte mir, dass er ein schwaches Herz hatte. Dein Vater hätte jederzeit sterben können.“
Heftig schluchzend begrub sie ihr Gesicht an seinem Hals und weinte, als ob ihr eigenes Herz in tausend Stücke brechen würde.