8. KAPITEL

„Ich begleite dich noch zur Tür“, sagte Ross, nachdem er Elizabeth aus der Kutsche geholfen hatte.

„Das ist nicht nötig!“ Elizabeth riss ihre Hand los und rauschte an ihm vorbei die Stufen von Connaught Street Nummer sieben hinauf.

Ross gab dem Kutscher ein Zeichen zu warten und folgte ihr bis zur Treppe.

Vor der untersten Stufe blieb er stehen. „Elizabeth“, rief er leise und doch gebieterisch.

Sie zögerte, drehte sich dann hoheitsvoll um und warf ihm einen fragenden Blick zu.

Sein Gesicht lag im Dunkeln. „Komm her.“

„Ich bin müde.“

„Komm her.“

Elizabeth ballte zornig die Fäuste, schritt zähneknirschend drei Stufen hinab und verharrte.

„Ich erwarte von meiner Verlobten, dass sie mir freundlich Gute Nacht sagt.“

Elizabeths Augen glitzerten voller Abscheu. „Und ich, Sir, werde eher einen kalten Tag in der Hölle erleben, als mich von einem Emporkömmling von Viscount über Höflichkeit belehren zu …“

„Du undankbares, unbelehrbares Frauenzimmer!“

Elizabeth fuhr zusammen, als sie die schimpfende Stimme ihrer Großmutter hinter sich hörte, und wäre vor Schreck beinahe gestolpert, doch Ross hinderte sie daran, die restlichen Stufen hinunterzufallen, indem er sie auffing.

„Wo bist du gewesen? Was hast du getan? Weißt du, dass ich Pettifer zweimal zum Pfarrer geschickt habe, um nachzusehen, ob du zu ihm gegangen bist?“ Edwina stürmte mit flatterndem Morgenrock vor die Tür. „Also, wo bist du gewesen? Lüg mich nicht an, das werde ich merken. Warst du etwa im Armenviertel bei dieser fragwürdigen Freundin von dir?“

Erst da gewahrte Edwina den Mann, der ihre Enkelin zu umarmen schien. Schockiert schlug sie sich die Hand auf die Brust und hielt sich an dem Eisengeländer fest. „Oh, mein Gott! Jetzt ist sie wirklich ruiniert …“

„Lady Elizabeth war bei mir.“

„Stratton?“, schnauzte Edwina. Sie erholte sich bemerkenswert rasch. „Was haben Sie getan? Haben Sie sie verführt? Oh, vergessen Sie es. Kommen Sie herein, alle miteinander, bevor wir noch jedem Passanten Gesprächsstoff liefern.“ Ohne ein weiteres Wort verschwand Edwina wieder durch die halb offene Tür ins Haus.

Ross schob die zitternde Elizabeth sanft von sich und führte sie die Stufen hinauf. Elizabeth hatte keine Kraft mehr, sich gegen ihn aufzulehnen.

„Dem Himmel sei Dank, dass sie bei Ihnen gewesen ist, Stratton! Ich hatte schon Sorge, dass die liebe Lizzie völlig den Verstand verloren hätte und mitten in der Nacht in das Elendsviertel gegangen wäre!“, platzte Edwina heraus, als sie im Salon waren. Sie lachte erleichtert auf.

Elizabeth starrte die Großmutter an. Sie persönlich fand es weitaus wünschenswerter, eine unverheiratete Jungfer zu sein, die kurz vor Mitternacht bei einer guten Tat ertappt wurde, statt ein loses Frauenzimmer, das sich vor der eigenen Haustür an den Hals eines berüchtigten Schurken klammerte.

Edwina jedoch entspannte sich zusehends. „Ich bin fast verrückt geworden, als ich herausfand, dass du aus dem Haus gegangen warst. Ich glaubte, du lägest längst im Bett.“

Pettifer kam, zündete Kerzen an und schürte die erlöschenden Scheite im Kamin, als ob derartige Katastrophen nichts Ungewöhnliches wären.

„Ich war außer mir“, fuhr Edwina fort. „Und ich meine, Liebes, dass es klüger und sehr viel anständiger gewesen wäre, wenn du bis morgen gewartet hättest, um den Viscount um Rat zu bitten, wie du deiner unglücklichen Freundin helfen kannst …“

„Sei still, Großmama“, brachte Elizabeth zähneknirschend heraus.

„Bitte fahren Sie doch fort, Mrs. Sampson“, widersprach Ross, der seiner beunruhigten Verlobten einen nachdenklichen Blick zuwarf. „Ich wäre natürlich erfreut, behilflich zu sein, wenn ich nur etwas mehr über das Problem wüsste.“

Edwina stand mit dem Rücken zum Kamin und wärmte sich. „Wissen Sie, dass ich so närrisch war zu glauben, Lizzie wäre heute Abend mit etwas Wertvollem in dieses widerliche Armenviertel gegangen, um ihre Freundin freizukaufen?“

Ross hob eine Augenbraue. „Ich entnehme Ihren seltsamen Äußerungen, dass Ihre Enkelin eine Frau kennt, die irgendwo im Elendsquartier in sehr unglücklichen Umständen lebt. Eine Freundin, der sie unbedingt helfen will … um jeden Preis?“

„Nun, natürlich! Hat sie Ihnen denn nichts davon erzählt?“, fragte Edwina verblüfft.

Elizabeth warf Ross einen rebellischen Blick zu. „Habe ich Ihnen nichts davon erzählt?“, wiederholte sie. „Nun, dann lassen Sie es mich Ihnen jetzt sagen. Der Grund, weshalb ich so tollkühn war, Sie heute Abend aufzusuchen, hatte nichts mit dem zu tun, was Sie in Ihrer Überheblichkeit anzunehmen beliebten. Ich hoffe, das verletzt Sie in Ihrer Eitelkeit nicht allzu sehr. Gute Nacht.“ Sie knickste flüchtig und wandte sich zur Tür.

„Bevor Sie sich zurückziehen, Mylady … ich denke, wir sollten Ihrer Großmutter unsere freudige Nachricht mitteilen.“

Elizabeth wirbelte herum und versuchte, ihn mit einem finsteren Blick aufzuhalten. Doch er kam zu ihr und blieb unmittelbar vor ihr stehen. „Du hättest ehrlicher sein sollen, meine Liebe. Vielleicht hätte ich tatsächlich Mitleid gehabt.“ Er sagte es leichthin, doch sein Gesichtsausdruck war unheilvoll.

„Jetzt ist es an mir, zu sagen, dass ich das nicht glaube“, murmelte sie missmutig. „Es gibt keine Neuigkeit, die wir meiner Großmutter mitteilen müssten“, fügte sie etwas lauter hinzu. „Heute Abend war nichts so, wie es zu sein schien. Insbesondere Ihre Ansicht über meine Beweggründe, Sie aufzusuchen. Ich entschuldige mich, dass ich so viel Ihrer Zeit beansprucht habe.“

„Ich bin froh darüber. Da wir nun heiraten werden, wäre es tatsächlich unhöflich von mir, Ihnen meine Zeit oder meine Unterstützung bei irgendwelchen Problemen zu verweigern.“

Edwina eilte auf sie zu. Obwohl Ross leise gesprochen hatte, war es offensichtlich, dass sie mitgehört hatte, so entzückt lächelte sie. „Haben Sie heiraten gesagt? Hast du der Verbindung zugestimmt, Elizabeth?“, fragte sie begeistert. Unwillkürlich warf sie einen leuchtenden Blick zu Pettifer hinüber, der neue Holzscheite in den Kamin legte. In Anerkennung ihres Triumphes zog er einen Mundwinkel zu einem schiefen Lächeln hoch und setzte dann seine Arbeit fort.

Nachdem sie eine Weile geschwiegen hatte, innerlich mit sich kämpfend, murmelte Elizabeth: „Ja.“

Ohne zu beachten, wie widerwillig sie ihr geantwortet hatte, umarmte Edwina ihre Enkelin erfreut. „Oh, das ist ja wunderbar. Das Beste, was ich seit Langem gehört habe!“

Als Edwina sich umwandte, um Pettifer aufzutragen, Champagner zu holen, nahm Ross Elizabeths Hände und berührte erst die eine und dann die andere mit seinen Lippen. Seine Verlobte brachte nicht mehr die Kraft auf, sie ihm zu entziehen. Tröstend strich er mit den Daumen über ihre Finger.

Ihre Blicke trafen sich, und für einen Moment hatte sie den Eindruck, er habe sie liebevoll angesehen. Aber alles, was er sagte, war: „Sie wollen sich sicher gerne zurückziehen. Ich werde Sie nicht länger aufhalten.“

Elizabeth konnte nur nicken. Er sah so selbstgefällig aus. Jetzt bekommt er mein Vermögen, dachte sie, und mich bekommt er auch. Oh, ja, er hat gewonnen! Rasch senkte sie die Lider, damit er ihre Tränen nicht sah.

Als hätte er den Grund ihres Kummers erraten, verstärkte er seinen Griff. Sie spürte seinen Atem in ihrem Haar. „Alles kommt in Ordnung, Elizabeth, vertrau mir.“ Abrupt ließ er sie los. „Wenn es Ihnen nichts ausmacht, werden wir zu einem späteren Zeitpunkt feiern, Mrs. Sampson. Es war ein aufregender Abend für uns alle. Ich bin sicher, auch Sie sind sehr erschöpft.“

Er ging zur Tür und verbeugte sich höflich vor den beiden Frauen. „Ich werde morgen wiederkommen, wenn ich darf, und einige Einzelheiten bezüglich der Heirat besprechen. Vielleicht möchten Sie mir dann mehr über die Notlage Ihrer unglücklichen Freundin erzählen, Elizabeth. Oh, eine Sache noch“, fügte er im Gesprächston hinzu. „Sie sind sicher interessiert, zu erfahren, aus welcher walisischen Familie ich stamme. Meine Mutter und mein ältester Bruder werden morgen in London eintreffen, ebenso wie ein paar enge Freunde. Es wäre mir eine Ehre, wenn Sie beide bald einmal mit uns dinieren würden. Wenn Sie damit einverstanden sind, werde ich unsere Verlobung bei der Gelegenheit bekannt geben. Anschließend werden wir eine Anzeige in die Times setzen.“

„Das klingt wunderbar!“, schwärmte Edwina.

„Elizabeth?“, fragte Ross ruhig.

„Natürlich muss ich kommen. Es würde mir sehr gefallen, Ihren Stammbaum zu überprüfen“, erwiderte sie mit der ganzen bitteren Süße ihrer erlittenen Niederlage.

„Ich fasse es nicht, dass du so unhöflich warst“, tadelte Edwina sie am nächsten Morgen beim Frühstück.

Elizabeth konnte es selbst nicht glauben. „Der Viscount und ich sind durchaus daran gewöhnt, Beleidigungen auszutauschen“, führte sie als mildernden Umstand an. „Es ist eine schlechte Verbindung, Großmama. Du hättest dich nicht einmischen sollen. Ich kann nur hoffen, dass er irgendwann zur Vernunft kommt und mich von meiner Einwilligung entbindet.“

„Das wird er wahrscheinlich nicht tun“, stieß Edwina hervor, den Mund voll Toast mit Marmelade.

„Nein! Bestimmt nicht, da es im Ehevertrag um so viel Geld geht“, bemerkte Elizabeth bissig.

„Ich habe so eine Ahnung, dass Stratton dich ohnehin heiraten würde, meine Liebe, ob ich ihn nun bezahle oder nicht.“

Seltsamerweise hob das Elizabeths Laune. „Ich hole meine Pelisse“, sagte sie und gab ihrer Großmutter einen liebevollen Kuss auf die Wange. „Sophie möchte sich Stoffe aussuchen. Evangeline wird uns begleiten.“

Edwina schluckte krampfhaft ihren Toast hinunter und brachte missbilligend hervor: „Aber du willst doch jetzt sicher nicht ausgehen? Ross hat uns mitteilen lassen, dass er heute Nachmittag um drei Uhr hier sein wird. Du musst zusehen, dass du dann zu Hause bist.“

„Ich muss nichts dergleichen! Ich möchte meinen Verkauf lieber nicht miterleben!“

„Ross erwartet sicher, dich hier anzutreffen …“

„Dann ist es nur gut, dass ich nicht da sein werde“, verkündete Elizabeth verdrossen. Stratton muss lernen, dass ich nicht die Absicht habe, seine anmaßenden Erwartungen zu erfüllen; er muss lernen, die Tochter eines Marquess nicht so herablassend zu behandeln, beschloss sie, als sie mit erhobenem Kinn hinausging.

Sophies schokoladenbraune Augen weiteten sich schockiert. „Du hast einen Antrag von Viscount Stratton erhalten? Hast du ihn angenommen?“

Elizabeth nickte und verzog das Gesicht.

„Aber Elizabeth, ist er nicht derjenige … dieser ziemlich wilde Gentleman?“

„Ja“, stimmte Elizabeth ruhig zu. „Genau der.“

„Sieht er so gut aus, wie man behauptet?“, fragte Sophie. „Meine Mama scheint zu glauben, er besäße eine verwegene Anziehungskraft … wie ein Korsar …“

„Oder ein Zigeuner …“, fügte Elizabeth mit gekräuselten Lippen hinzu. Gleichgültig sagte sie: „Ich nehme an, man kann ihn für attraktiv halten, wenn man Männer mit dunklem Teint mag.“ Insgeheim fand sie, dass er gut aussah … sehr gut aussah. Gestern Abend hatte sie ihn für den perfekten Mann gehalten.

Sie errötete bei der Erinnerung an ihren heimlichen Besuch, den beglückenden Kuss, den verletzenden Kuss … Mit einem störrischen Zug um den vollen Mund beschloss sie, sich bei der ersten sich bietenden Gelegenheit aus dieser dummen Verlobung zu befreien. Gestern Abend war sie zu müde gewesen. Sie hatte sich zu leicht besiegen lassen. Aber jetzt war sie wieder munter, und ihr Stolz und ihr Selbstvertrauen kehrten zurück. Vielleicht hatte er die Schlacht gewonnen, aber nicht den Krieg!

„Hast du ihn angenommen?“, fragte Sophie nun schon zum zweiten Mal. Sie beugte sich vor und blickte in die geistesabwesenden amethystfarbenen Augen ihrer Freundin.

„Ja … aber nicht unwiderruflich. Meine Großmutter hat sich bei Stratton in finanzielle Schwierigkeiten gebracht und ihm meine Mitgift als Ausgleich angeboten. Die Verlobung ist aber noch nicht offiziell. Ich hoffe, sie werden beide dahinterkommen, dass ich mich nicht manipulieren lasse.“

Sophie runzelte die Stirn. „Ich verstehe“, sagte sie, obwohl sie offensichtlich gar nichts begriff. „Was ist mit Hugh? Hast du es ihm erzählt?“, fragte sie und verzog das Gesicht. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass er sich Hoffnungen in dieser Richtung gemacht hat.“

„Ich habe ihn noch nicht gesehen“, gestand Elizabeth wahrheitsgemäß. Sie hatte Hugh an diesem Morgen einen kurzen Brief geschrieben, in dem sie sich dafür entschuldigt hatte, dass Pettifer ihn am vorherigen Abend zweimal belästigt hatte. Sie hatte nur angedeutet, dass die Exzentrizität ihrer Großmutter daran schuld wäre, und es dabei belassen. Wenn sie sich das nächste Mal sahen, würde er sicher eine richtige Erklärung von ihr erwarten.

Die beiden jungen Damen verließen die Kutsche beim Geschäft der Tuchhändler Harding, Howell & Co. in der Pall Mall und betraten es mit Evangeline im Schlepptau. Eine Unmenge an Stoffballen in allen nur erdenklichen Größen und Farben stapelte sich auf Regalen, die bis unter die Decke reichten. Vor den beiden langen Wänden standen polierte Holztheken. Die jungen Frauen gingen langsam umher und sahen sich nach allen Seiten um.

„Hast du dir etwas Bestimmtes vorgestellt?“, fragte Elizabeth die Freundin.

„Ich dachte an einen aprikosenfarbenen Satin, aber ich habe noch nicht das Richtige gefunden.“

Elizabeth nahm Sophies Arm und führte sie zu dem Ladentisch, wo sie eine Rolle pfirsichfarbenen Voile entdeckt hatte. Das durchscheinende Material war mit Gold- und Silberfäden durchwebt.

„Der ist wunderschön“, schwärmte Sophie, „wenn auch etwas durchsichtig. Aber da es ein großartiger Ball werden soll …“ Sie sprach von der bevorstehenden Feier der Silberhochzeit ihrer Eltern. „… stelle ich mir doch etwas vor, das ein wenig gewagt und auffällig ist …“

„Ich muss sagen, ich ebenfalls“, sagte eine amüsierte männliche Stimme hinter ihnen. „Und ich habe das Glück, genau das erblickt zu haben“, flüsterte der Mann, dem sie gehörte, an Elizabeths Nacken, sodass ihre Haut zu kribbeln begann. „Wie geht es Ihnen, meine Liebe? Haben Sie mein billet doux erhalten?“

Wütend wirbelte Elizabeth herum und starrte voller Abscheu in das Gesicht des Earl of Cadmore. „Immer noch meine stolze Schönheit, wie ich sehe. Das ist gut“, stichelte er in vertraulichem Ton. „Schick deine tugendhafte Freundin und die alte Frau weg, damit wir reden können“, murmelte er, anscheinend vollkommen sicher, dass Elizabeth seinem Befehl gehorchen würde. Das tat sie auch, aber nur, damit Sophie und Evangeline ihre Verlegenheit nicht mitbekamen oder selbst in eine peinliche Situation gerieten. Einige rasche Worte und ein sprechender Blick veranlassten Sophie, die unbekümmert lächelnde Evangeline wegzuführen.

„Lassen Sie mich in Ruhe! Sofort!“, fuhr Elizabeth ihn wütend an. Er hatte sie schon früher bedrängt und verstohlen berührt, aber nie an einem so öffentlichen Ort, nie zuvor so respektlos.

„Ich habe gehört, dass Mrs. Sampson kürzlich Pech am Spieltisch hatte und dass Alice Penney Schuldscheine von ihr über eine recht unglaubliche Summe hält. Unter diesen Umständen sollte eine pflichtbewusste Enkelin etwas für die Familienkasse tun. Ich könnte Ihnen da dienlich sein.“

„Unter Umständen sollte ein pflichtbewusster Ehemann etwas für seine eigene Familie tun. Wären Sie nicht besser bei Ihrer Gattin aufgehoben, statt eine Fremde in der Öffentlichkeit zu belästigen? Ich werde Ihnen sicher nicht dienlich sein“, brachte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Sein Gesicht bekam rote Flecken, da sie auf etwas angespielt hatte, über das freimütig getratscht und gespottet wurde. Obwohl sie bereits seit fünf Jahren verheiratet waren, hatten der Earl und die Countess of Cadmore noch keinen Nachwuchs bekommen.

Cadmore näherte sich ihr mit solcher Wut, dass Elizabeth für einen Moment sicher war, er würde sie schlagen. Doch ihm fiel rechtzeitig ein, wo er sich befand. Er blickte sich um, ob sie bereits Aufmerksamkeit erregten. Rasch fuhr er sich mit der Zungenspitze über die blutleeren Lippen. „Du kleines Miststück“, flüsterte er. „Es wird mir eine Freude sein, dafür zu sorgen, dass du jedes einzelne deiner vulgären Worte zurücknimmst. Schon bald wirst du dich höchst demütig für diese empörende Unverschämtheit entschuldigen.“

„Und was ist mit Ihren vulgären Worten und Unverschämtheiten, Sir?“, fragte Elizabeth leise. „Werden Sie je die Güte haben, sich für Ihre schockierenden Beleidigungen in all den Jahren zu entschuldigen?“

„Mich bei dir entschuldigen?“, höhnte er. „Mich bei einer hinterhältigen, liederlichen Schlampe entschuldigen, die mit meinen Gefühlen gespielt und mich zur Zielscheibe des Spotts gemacht hat? Mich bei einer Dirne entschuldigen, die den Abschaum der Gesellschaft kennengelernt hat? Vielleicht besuchst du deshalb die Elendsviertel so oft? Hast du Geschmack daran gefunden, wenn man dich hart anfasst? Gefällt es dir, Hafenarbeiter ebenso gut zu kennen wie Straßenräuber, im biblischen Sinn? Gefällt dir das? Sag’s mir!“, fragte er herrisch. „Schaut der Pfarrer zu, wenn sie dich in die Gosse werfen? Ist es das, was du magst? Hast du deine Röcke für den Pastor auch gehoben?“ Seine eigenen Worte, seine fiebrigen Fantasien erregten und erzürnten ihn derart, dass sein Gesicht sich in ungezügelter Lust rötete und er seine Hüften an der Theke rieb. Er betrachtete ihr schockiertes bleiches Gesicht, dann glitt sein Blick an ihrer erstarrten zierlichen Gestalt hinab. Er sah so aus und klang so, als litte er grässliche Qualen. „Bei Gott, du wirst mir geben, was ich von dir will.“ Er schloss die Augen und holte tief Luft. „Ich werde dich nehmen, und wenn es das Letzte ist, was ich tue …“

Elizabeth wich zurück, als sie die nackte Begierde und den Hass in seinen hervorquellenden Augen sah. In ihrer Hast, von ihm wegzukommen, stieß sie mit jemandem zusammen. Sie bekam einen flüchtigen Eindruck von einer hübschen, dunkelhaarigen jungen Frau, die sorgfältig gekleidet und geschminkt war. Ein starkes, süßes Parfüm stieg ihr in die Nase und verursachte ihr Übelkeit. Elizabeth entschuldigte sich und blickte in glitzernde schwarze Augen, die sie abschätzend betrachteten.

Dann rauschte die Frau an ihr vorbei und hängte sich besitzergreifend an den Arm des Earls. „Ich habe genau das Richtige gefunden, Caddy. Er ist scharlachrot, und es gibt eine passende Spitze …“, hörte Elizabeth sie noch sagen, während sie sich rasch von den beiden entfernte.

„Möchtest du lieber gehen?“, fragte Sophie mitleidig, als Elizabeth mit zitternden Fingern verschiedene Stoffe auf dem gegenüberstehenden Ladentisch befühlte, um sich zu beruhigen.

„Nein. Ich lasse mich von ihm nicht einschüchtern“, flüsterte Elizabeth erstickt.

„Dieser niederträchtige Mann!“, murmelte Sophie mit einem giftigen Blick in Cadmores Richtung. „Man sollte meinen, dass er allmählich von deinen ständigen Zurückweisungen genug hätte. Sieht so aus, als hätte er sein Flittchen bei sich.“

„Ich glaube, ich möchte vielleicht doch lieber gehen“, flüsterte Elizabeth. „Vielleicht könnten wir es woanders versuchen.“ Eine seltsame innere Kälte betäubte ihren Zorn über Cadmores Bösartigkeit. Sie blickte zum Eingang hinüber und starrte das Paar an, das gerade hereinkam. Viscount Stratton mit einer Frau, die sie nicht kannte.

Die Dame blieb stehen, um einen türkisblauen Musselin zu begutachten, und der Viscount betrachtete den Stoff ebenfalls mit nachsichtigem Interesse. Er machte eine Bemerkung, und die Frau lächelte selig zu ihm hoch. Sie war mehr als nur hübsch, sie war eine ausgesprochene Schönheit und höchst elegant. Das war keine gewöhnliche Kurtisane, dies war eine Dame der Gesellschaft, die eine vornehme Gelassenheit ausstrahlte. Doch offensichtlich bestand eine tiefe Zuneigung zwischen ihnen. Sie waren ein auffallend schönes Paar.

Elizabeth riss ihren Blick von dem schönen Profil und dem honiggoldenen Haar der Frau los, um ihren voraussichtlichen Gatten anzuschauen. Er hatte sie bereits bemerkt und erwiderte ihren Blick.

Ihr wurde heiß. „Komm, Sophie“, sagte sie mit zitternder Stimme. „Ich brauche frische Luft.“

Also ging er, wenige Stunden bevor er mit ihrer Großmutter über ihre Heiratspläne sprechen wollte, mit seiner Mätresse einkaufen. Das verletzte sie viel mehr als alles, was der Earl of Cadmore gesagt oder getan hatte. Dabei wusste sie doch, dass er nicht die Absicht hatte, sein Leben für etwas so Belangloses wie seine Braut zu ändern. Er heiratete eine Mitgift, und dafür halste er sich eine Ehefrau auf. Sie war sich dessen durchaus bewusst. Und was sie betraf, so war sie einzig daran interessiert, ihre kostbaren Juwelen zurückzubekommen. Sie wollte und brauchte keinen Gatten. Falls die Eheschließung tatsächlich stattfinden sollte, würde sie froh sein, wenn er sein Vergnügen woanders suchte. Ob er diese Frau liebte? Aber da er sie nun einmal gesehen hatte, würde sie ihn wissen lassen, dass es sie keinen Deut kümmerte, an wen er sein Geld verschwendete. An wen er bald ihr Geld verschwenden würde! Das wurmte sie nun doch!

Arm in Arm mit Evangeline und Sophie ging sie zur Tür. Er beobachtete sie, obwohl er weiterhin mit seiner Begleiterin sprach. Sie schielte unter ihren Wimpern hervor zu ihnen hinüber und verstand auf einmal, weshalb der Frau der türkisfarbene Stoff so gefiel: Ihre Augen hatten eine höchst seltene grünblaue Farbe.

Dann waren sie auf gleicher Höhe. Tapfer blickte Elizabeth auf, sah dem Viscount geradewegs in die Augen und erwiderte sein höfliches Nicken.

„Lady Elizabeth?“ Seine Begrüßung klang warm und höflich.

„Viscount Stratton …“, tat sie es ihm nach, wenn auch nicht in dem gleichen Tonfall. Er erwartete offensichtlich, dass sie stehen blieb, doch Elizabeth fertigte ihn ab. „Es tut mir leid, Mylord, wir müssen uns beeilen. Wir haben noch so viel zu erledigen und so wenig Zeit. Ich werde in Kürze zu Hause zurückerwartet, wegen einer unangenehmen Verabredung …“ Sie beobachtete triumphierend, wie er seine Augen und den Mund bei ihrer spitzen Bemerkung zusammenkniff.

„Nun, dann will ich Sie nicht aufhalten.“

„Als ob Sie das könnten …“, zwitscherte Elizabeth leichthin. Seine Begleiterin sah mit einem fragenden Lächeln auf den Lippen zwischen ihnen hin und her.

Aus der Nähe sah Elizabeth, dass die Frau älter war als sie selbst, trotzdem war sie so atemberaubend schön, dass sie sich innerlich verkrampfte. Weshalb musste sie so … so perfekt sein?

Elizabeth setzte ein, wie sie hoffte, unbekümmertes Lächeln auf und eilte weiter. Sie packte Sophie fest am Arm, damit ihre Freundin den Blick von dem Paar abwandte und den Mund zumachte. Sie lachte und war sich sehr bewusst, dass der Viscount ihr hinterhersah. Dann waren sie zur Tür hinaus. Sobald sie außer Sichtweite war, sackten ihre Schultern hinunter, sie schloss die Augen und konnte nichts anderes mehr denken als nur den einen Satz: Zur Hölle mit dir, Stratton! Zur Hölle mit dir!