6. KAPITEL
Er hätte also gerne die Gelegenheit, noch einmal mit ihr zu sprechen! Mit der Aussicht, dieses Mal eine angenehmere Regelung zu treffen – vielleicht über die Rückgabe ihres Familienerbstücks zu verhandeln. Wie nobel von ihm! Und was würde er stattdessen wollen? Vielleicht ihren Kopf auf einem Silbertablett? Oder wahrscheinlicher: ihren nackten Körper auf seiner Matratze. Wie abscheulich Männer sind, dachte Elizabeth und sank seufzend auf den Polsterschemel vor ihrem Toilettentisch. Sie musterte ihr Gesicht im Spiegel. Als Debütantin war sie stolz auf ihre äußere Erscheinung gewesen … ziemlich eingebildet, wie sie sich jetzt eingestand.
Seitdem hatten viele Männer versucht, ihr Leben in den Schmutz zu ziehen. Und nun war da wieder einer, der sie beleidigen wollte. Doch was ihr wirklich Angst machte, war die Erkenntnis, dass es ihm gelingen könnte …
Aber sie wollte ihren Schmuck wiederhaben. „Wenn ich die Thorneycroft-Garnitur zurückbekomme, dann werde ich sie nie mehr aus der Hand geben, das schwöre ich …“, versprach sie ihren toten Eltern flüsternd und erhob sich. Ihr würde schon noch ein gerissener Plan einfallen, wie sie ihren Gegner überlisten konnte, seine Beute herauszurücken …
Entschlossen verdrängte sie diese Gedanken und konzentrierte sich auf den Tag, der vor ihr lag. Es war Sonntag, und nach der Morgenmesse mit Edwina in St Mary’s würde sie mit Hugh Clemence in die Barrow Road fahren.
Sie setzte sich an ihren Sekretär und nahm eine Feder zur Hand. Nach kurzem Zögern legte sie sie zurück in die Ablage. Sie würde Trelawney später antworten, wenn sie Zeit gehabt hatte, sich eine passende, vernichtende Retourkutsche auf seine Unverschämtheit zu überlegen.
Edwina beugte sich in ihrem protzigen Landauer vor und hob eine Hand, um eine Nachbarin zu grüßen, die gerade den Kirchhof verließ. Dann wandte sie sich an ihre Enkelin. „Pettifer sagte, du hättest heute einen Brief erhalten. Er meinte, das Schreiben sei von einem Lakaien des neuen Viscount Stratton abgegeben worden. Stimmt das, Elizabeth? Ich mache mir Gedanken darüber, was zwischen dir und meinem Freund vor sich geht“, murrte Edwina.
„Deine Sorge kommt etwas spät, meine ich“, erwiderte Elizabeth zuckersüß. „Aber ja, ich habe eine Nachricht von ihm bekommen, in der er seine Bereitschaft andeutet, die Zahlungsbedingungen neu zu verhandeln. Der Köder, damit ich mich mit ihm treffe, ist der Hinweis, dass er mir vielleicht meine Juwelen zurückgibt.“
„Nun, das ist aber mächtig nett von ihm. Siehst du, ich habe dir doch gesagt, dass er ein Gentleman ist.“
„Als Gegenleistung für seine Nettigkeit wird er sicherlich meine sofortige Zustimmung zu einem neuen Angebot von ihm fordern.“
Edwina warf ihrer Enkelin einen scharfen Blick zu.
„Oh, habe ich es nicht erwähnt?“, sagte Elizabeth unschuldig. „Der Viscount war so zuvorkommend, mir verschiedene Möglichkeiten anzubieten, falls es mir nicht gelingen sollte, dich zu einer Rückgabe der Summe zu überreden. Da war das Fleet-Gefängnis für dich und die Gin Alley für mich. Zuvor natürlich meine Dienste als Geliebte, um ihn zu bezahlen. Er rechnete aus, dass es sechs Jahre dauern würde, bis die Sache erledigt wäre … und ich ebenfalls.“
„Ich werde mit ihm sprechen“, stieß Edwina hervor. „Das reicht. Die Sache ist abgeblasen.“
„Weil du es sagst?“ Elizabeth lachte verzweifelt auf. „Du hast mir doch selbst erklärt, dass er ein mächtiger, einflussreicher Mann ist, und leider sehe ich, dass du recht hattest. Er hat eine Rückzahlung in seinem Brief nicht mehr erwähnt. Er will Vergeltung.“ Sie starrte blicklos in den Septembersonnenschein. „Ich glaube, du hast es gut gemeint und gehofft, mich mit ihm verheiraten zu können, aber …“ Elizabeth seufzte tief auf, „aber ich glaube, dein Freund hat da seine eigenen Vorstellungen. Warum hast du das nur getan, Großmama?“
Elizabeth beugte sich über die magere Schulter des Kindes und ignorierte tapfer das Krabbeln in seinem borstigen Haar und den säuerlichen Geruch seiner ungewaschenen Kleidung. „Samuel schreibt sich mit einem ‚u‘ vor dem ‚e‘“, sagte sie. Sie lächelte den Jungen an und ging weiter. Neben ihm saß Clara Parker. Das Mädchen blickte sie mit seinen grauen Augen bewundernd an und wickelte sich eine mausfarbene Haarsträhne um den schmutzigen Finger. „Bist du mit deiner Schreibarbeit fertig, Clara?“, fragte Elizabeth lächelnd.
„Ja, Ma’am“, erwiderte die Kleine und strich verstohlen über den blauen Wollstoff von Elizabeths ältester und unmodischster Pelisse. „Ich hätte so gerne Locken“, fügte sie schüchtern hinzu und betrachtete bewundernd Elizabeths perlmuttfarbene Korkenzieher, die unter dem schlichten Hut hervorschauten.
„Nun mach schön deine Aufgaben, sonst wird der Reverend ärgerlich!“ Elizabeth schaute zu Hugh hinüber. Er stand am anderen Ende der Bank und hörte einem Jungen zu, der ihm mit stockender Stimme die wenigen Zeilen vorlas, die er auf seine Tafel gekritzelt hatte.
Hugh schaute auf und lächelte ihr zu. Dann zog er seine Uhr hervor und warf einen Blick darauf. Sobald er sie wieder in der Westentasche verstaut hatte, klatschte er zum Zeichen, dass die Schulstunde zu Ende war, zweimal in die Hände, und die Kinder verließen eins nach dem andern das Lagerhaus. Als sie in den milden Herbstsonnenschein hinaustraten, begannen sie lachend miteinander zu schwatzen und zu scherzen. Schließlich blieben Hugh und Elizabeth alleine in dem kalten, schäbigen Gewürzspeicher zurück.
„Wenn Mr. Grantham nicht so gütig wäre, uns diesen Raum zur Verfügung zu stellen, müssten wir die Schule schließen. Ich glaube nicht, dass Mutter erfreut wäre, wenn zwanzig schmutzige Kinder ihre Läuse auf den Teppichen im Pfarrhaus verteilen würden.“ Hugh lachte ein wenig beschämt über dieses Eingeständnis.
Nachdem er das Lagerhaus abgeschlossen hatte, bot er Elizabeth galant den Arm und machte sich mit ihr auf den Weg über das unebene Kopfsteinpflaster. Bis zum Pfarrhaus hatten sie etwa zehn Minuten durch Wapping zu gehen. Von dort würde Hugh sie in seinem Einspänner zur Connaught Street zurückbringen.
„Lady Elizabeth …? Lady Elizabeth Rowe …?“
Elizabeth und der Reverend blieben abrupt stehen. Elizabeth machte sich los und näherte sich zögernd dem nächsten Hauseingang. Mehrere Augenpaare wandten sich ihr zu. Sie wusste, dass sie in dem Armenviertel nur deshalb sicher war, weil diese Leute ihrem Gemeindepfarrer Respekt entgegenbrachten. Doch nie zuvor hatte man sie hier direkt angesprochen.
„Hat mich jemand gerufen?“
Der Gestank ranzigen Essens und ungewaschener Leiber ließ sie den Atem anhalten. Sie wollte sich gerade wieder abwenden, als eine weibliche Gestalt in dem abgeblätterten Türrahmen auftauchte und sie unverwandt anstarrte. Elizabeth starrte zurück. Sie kannte die Frau!
Sie konnte sich nur nicht mehr an den Namen zu dem abgehärmten, offenbar kürzlich misshandelten Gesicht erinnern, das unter dem glanzlosen, wirren Haar zu erkennen war.
Die Frau lachte trocken auf, als sie Elizabeths Verwirrung bemerkte. „Du erinnerst dich wohl nicht an mich, nicht wahr? Überrascht mich nicht. Ich sehe nicht mehr so wie früher aus.“ Sie sprach kultiviert mit nur einer Spur eines Cockney-Akzentes. Dann schüttelte sie ihr wirres Haar zurück, blinzelte Elizabeth von der Seite her an und verzog den Mund zu einem Lächeln von erschütternder Arroganz. „Hier, schau doch mal richtig her. Kennste mich jetzt wieder?“, fragte sie herausfordernd in dem nasalen Tonfall dieser Gegend. „Ist kein schöner Anblick mehr, meinste nicht?“
„Jane? Jane Dawson?“
„So hieß ich. Hab Colonel Selby geheiratet, erinnerste dich? Hab’s gut getroffen, was?“, verhöhnte sie sich selbst. „Dabei hab ich damals gedacht, ich hätte das bessere Los von uns beiden gezogen“, sagte sie verschlagen und kicherte, als Elizabeths blasser Teint sich rosig färbte. „Aber man weiß nie, was kommt …“ Sie legte den Kopf schief, um Hugh Clemence zu mustern, der ein paar Schritte von ihnen entfernt stehen geblieben war und dem Wortwechsel lauschte. „Haste doch noch einen abbekommen? Ihn?“, fragte Jane und rümpfte die Nase. „Biste ’ne Pfarrersfrau?“
„Nein, der Reverend und ich unterrichten zusammen in der Sonntagsschule. In der Barrow Road“, erklärte Elizabeth. Ihr wurde bewusst, dass sie Zuschauer anzogen, und so nahm sie Janes dünnen Arm und suchte mit ihr in dem Hauseingang Schutz. „Was, in aller Welt, ist passiert? Wo ist dein Gatte? Ist der Colonel tot?“, fragte Elizabeth.
„Will verdammt sein, wenn ich das weiß“, erwiderte Jane mit einem dumpfen Lachen. „Wie sich herausgestellt hat, war er eigentlich gar nicht mein Mann, er war noch nicht einmal ein Colonel. Es kam heraus, dass dieser Schuft bereits eine Gattin in Yorkshire und eine weitere in Portugal hatte.“ Sie blinzelte und biss sich auf die Lippe. „Er war nur ein Sergeant, der wegen Feigheit und Diebstahl unehrenhaft aus der Armee entlassen worden war. Ich hatte es keinen Deut besser getroffen als du mit deinem Lieutenant Havering. Armeebastarde!“ Sie spuckte aus. Dann betrachtete sie Elizabeth neidisch von oben bis unten. „Aber so, wie du aussiehst, hast du den Skandal unbeschadet überstanden …“
Elizabeth lächelte schwach. „Nicht ganz. Aber ich habe das Glück gehabt, dass meine Großmutter mütterlicherseits mich nicht verstoßen hat. Ohne sie hätte ich tatsächlich nicht gewusst, was aus mir werden soll, nachdem mein Vater vor ein paar Jahren verstorben ist …“
„Das Gleiche wie aus mir, nehme ich an“, sagte Jane gehässig. „Ich hörte, die alte Dowager Marchioness hätte dir die kalte Schulter gezeigt.“
Elizabeth fragte leise: „Was, in aller Welt, ist mit dir geschehen, Jane? Wie ist es so weit gekommen? Was ist mit deinen Eltern? Sie wissen bestimmt gar nicht, wie du hier lebst.“
Jane bedeckte ihren zitternden Mund mit einer Hand. „Es wäre ihnen auch egal, wenn ich tot wäre. Es wäre ihnen sogar lieber. Und es ist so gekommen … weil ich ihn liebte. Als mein Vater mir erzählte, er hätte schmutzige Einzelheiten … über Franks Vergangenheit herausgefunden … da wollte ich ihm nicht glauben. Mein Vater sagte, ich hätte die Wahl … ich könnte mit ihm nach Hause zurückkehren … oder bei meinem Bigamisten bleiben … und in dem Fall hätte er keine Tochter mehr. Also entschied ich mich … weil ich mir sicher war, dass er mich liebte … aber er ging fort … verließ mich … und unseren Sohn.“
„Du hast einen Sohn?“, flüsterte Elizabeth entgeistert. „Der hier lebt?“ Sie warf Hugh einen besorgten Blick zu, der sie stirnrunzelnd ansah, während er aufmerksam den Wortwechsel verfolgte.
Jane nickte. „Oben.“ Sie deutete mit dem Kopf zur Treppe. „Hab dem kleinen Jack heut Abend etwas Laudanum gegeben. Dann ist er wenigstens ruhig und kriegt nichts mit.“
Elizabeth packte das Handgelenk ihrer früheren Freundin. „Um Himmels willen! Hol den Kleinen, und komm mit mir nach Marylebone. Ich werde sehen, was sich machen lässt.“
Jane riss sich los und wich mit vor Schreck geweiteten Augen zurück. „Das kann ich nicht. Du hast ja keine Ahnung. Er wird mich nie gehen lassen … nicht solange ich ihn nicht auszahlen kann …“
„Wer? Von wem redest du?“
„Schätze, sie meint mich“, erklang eine schmierige, schleppende Stimme hinter ihnen.
Elizabeth wirbelte herum und erblickte einen stämmigen Mann mit fahlem Gesicht und unnatürlich blauen Augen. Die fettigen dunklen Kringellocken fielen ihm in die Stirn, als er grinsend auf sie zukam. Besitzergreifend legte er einen Arm um Janes Schultern.
„Willste mich nich deiner Freundin vorstell’n?“, fragte er aalglatt.
Jane senkte den Kopf und schwieg, da schüttelte er sie grob. „Keine Maniern, Mädchen? Wer’s die schöne Lady beim Reverend?“
Hugh legte eine Hand auf Elizabeths Arm und zog sie mit sich fort, während er kalt sagte: „Wie ich sehe, arbeiten Sie wieder mit den alten Kniffen, Leach.“
„Ich nich, Reverend“, protestierte der Mann scheinheilig. „Diese durchtriebenen Frauenzimmer kennen alle Kniffe und bringen mich in Schwierigkeiten. Lieg’n mir dauernd inne Ohr’n, dass ich mich für sie umschau’n soll. Also mach ich das, weil ich mich doch um sie kümmer.“ Wieder schüttelte er Jane herrisch. „Sag dem Pastor, wie gut Leachie sich um dich kümmert.“
Jane sah auf. „Das tut er“, flüsterte sie. „Geht weg. Es tut mir leid … ich hätte euch nicht belästigen sollen … ich bitte euch, nicht wieder herzukommen.“ Sie raffte ihre schmutzigen Röcke, riss sich von dem Mann los und verschwand in der Dunkelheit des feuchten Hauseingangs.
„Kommen Sie, Elizabeth!“ Hughs drängende Stimme zitterte vor Zorn.
„Nein!“ Elizabeth starrte den Mann an, der ihre sittsam gekleidete Gestalt anzüglich von oben bis unten betrachtete und sich dabei nachdenklich das unrasierte Kinn rieb. „Beachten Sie Jane nich’ weiter“, knurrte er. „Hat manchmal kein Benehmen. Ich musste schon öfter deswegen laut mit ihr wer’n. Besonders wenn sie sich den Gents gegenüber beschwert, die’s ihr nur gut machen woll’n. Komm Leachie besuch’n, sooft du willst … hab so ’ne Ahnung, ’s könnt’ ’ner Menge Gents gefall’n, ’s mit dir zu mach’n … vielleicht sogar mir selber.“
Elizabeth öffnete den Mund, um ihm gehörig ihre Meinung zu sagen. Doch wenn sie das täte, würde das Janes Elend nur verschlimmern.
Leach bemerkte ihren ohnmächtigen Zorn und lachte rau. Elizabeth wandte sich ab und griff blind nach Hugh Clemence’ Arm, damit er sie fortbrachte.
„Sei vernünftig, Elizabeth. Hör auf den Reverend. Mit diesem Ungeziefer ist nicht zu spaßen.“
Als Elizabeth den Kopf schüttelte, warf Edwina verzweifelt die Hände hoch. Sie sah Hugh Clemence an. „Oh, sprechen Sie noch einmal mit ihr, Reverend. Und vergessen Sie nicht, dass ich Sie für all das verantwortlich mache. Sie hätten nie mit diesem Unsinn anfangen dürfen, Damen in die Elendsviertel mitzunehmen. Jetzt sehen Sie, was Sie angerichtet haben! Machen Sie Lady Elizabeth klar, dass sie nicht wieder dorthin gehen darf.“
„Ich möchte nicht, dass du Hugh die Schuld für mein Verhalten gibst“, stellte Elizabeth zornig klar. „Ich bin sehr wohl fähig, selbst zu entscheiden, ob ich den Bedürftigen helfen will. Heute habe ich erst verstanden, wie wichtig unsere Arbeit ist. Ich habe mit meinen eigenen Augen gesehen, wie verkommen und verwahrlost das Leben sein kann. Ich habe den lebendigen Beweis vor Augen gehabt, dass es mir auch hätte so ergehen können. Und wenn du auch nur einen Augenblick glaubst, ich würde eine alte Freundin und ihren Sohn diesem üblen Kerl überlassen …“
„Bitte hören Sie mir zu, Elizabeth“, unterbrach der Reverend sie in diesem Moment. „Es handelt sich nicht einfach nur um die Rettung einer … äh … gefallenen Frau mit ihrem Kind. Männer wie Leach binden solche armen Geschöpfe durch Schulden und Angst an sich.“ Er fuhr sich durch das braune Haar. „Ich bezweifle, dass Sie je von der alten Mutter Leach gehört haben. Sie ist eine berüchtigte Kupplerin und Hehlerin. Nathaniel Leach ist ihr Sohn und in demselben Gewerbe tätig. Huren und Taschendiebe sind ihr Geschäft. Sie sind Parasiten der schlimmsten Art.“
„Das spielt keine Rolle!“, wütete Elizabeth mit blitzenden Augen.
„Bitte hören Sie mir zu“, bat Hugh noch einmal. „So schwer das auch zu akzeptieren sein mag, aber die traurige Wahrheit ist, dass Leach Mrs. Selby wahrscheinlich in der Hand hat. Als sie ausgestoßen wurde, hat Leach vermutlich ihr Vertrauen gewonnen, indem er so tat, als wäre er ein besorgter Freund. Vielleicht hat er ihr Nahrung und Kleidung angeboten. Und als sie schließlich dafür bezahlen sollte, hat er sie einem Wucherer vorgestellt und ihr erzählt, wie einfach es ist, sich etwas zu leihen, um die Schulden zu begleichen, und dass sie bald ein besseres Leben führen könnte, wenn sie das tut, was er von ihr verlangt. Doch Leach nimmt ihr das Geld weg, das sie bei den Kunden verdient, die er für sie auftreibt. Er lässt ihr nur einen kleinen Anteil, worüber er auch noch Buch führt. Dann ermutigt er sie, sich mehr zu leihen, und die Schulden werden immer höher, und sie wird nie die Mittel haben, um sich freizukaufen, dafür wird Leach schon sorgen. Es mag Ihnen sehr unmenschlich erscheinen, aber ihre Eltern werden von all dem nichts wissen wollen, wie Sie sie gefunden haben … oder wo …“
„Gib mir eine ausreichende Summe, Großmama“, forderte Elizabeth. „Ich flehe dich an, gib mir einen Teil meines Erbes, damit ich jemandem helfen kann, dem es viel, viel schlechter geht, als es mir je ergangen ist“, bat sie inständig.
Edwina stapfte zur Tür. „Das ist Blödsinn, Elizabeth. Hast du denn nicht gehört, was der Reverend gesagt hat? Du kannst in solchen Fällen nichts tun. Glaubst du, ich würde dir erlauben, uns mit solchem Abschaum in Verbindung zu bringen? Glaubst du, dass dieser Leach kampflos zusehen würde, wie du ihm seine Garantie für warme Mahlzeiten vor der Nase wegschnappst? Er könnte seine Komplizen herschicken, um uns auszurauben. Er könnte uns in unseren Betten ermorden!“ Edwina zeigte mit dem Finger auf Hugh Clemence. „Habe ich nicht recht, Reverend?“
„Möglicherweise, Mrs. Sampson“, räumte Hugh seufzend ein.
Edwina nickte heftig. „Ich verbiete dir, dorthin zurückzukehren. Wenn du dich mir widersetzt, wirst du es bereuen, das schwöre ich dir!“ Damit rauschte sie hinaus und schlug die Tür zu.
Elizabeth blickte Hugh an. Er brauchte keine weitere Ermutigung. Er kam auf sie zu und ergriff ihre schmalen, kalten Hände. „Es tut mir so leid, Elizabeth. Ihre Großmutter hatte recht, mich zu tadeln. Wenn ich Sie nicht dorthin mitgenommen hätte, wäre es heute Abend nicht zu der Begegnung mit Mrs. Selby gekommen.“
„Ich bin froh darüber“, warf Elizabeth ein und drückte seine Hände. „Endlich habe ich die Gelegenheit, wirklich etwas zu verändern. Und fühlen Sie sich bitte nicht schuldig. Ich habe mich freiwillig für die Barrow Road engagiert. Und ich möchte auch weiterhin helfen. Mehr als je zuvor.“
„Wenn Sie das wirklich wollen, Elizabeth, dann müssen Sie mir gestatten, Sie mit allen mir zu Gebote stehenden Mitteln zu beschützen. Es wäre mir eine große Ehre, wenn Sie den Schutz meines Namens und meiner bescheidenen Berufung akzeptieren würden …“
Elizabeth drückte seine Hände fester und unterbrach ihn. „Bitte sprechen Sie nicht weiter davon, Hugh. Aber ich will, dass Sie wissen, wie dankbar ich bin, Sie zu meinen besten und loyalsten Freunden zu zählen.“ Sie machte sich los und lachte freudlos. „Es war ein aufregender Tag, um es milde auszudrücken. Ich denke, ich werde mich früh zurückziehen. Zuerst sollte ich aber wohl meinen Frieden mit meiner Großmutter machen.“
Hugh brachte ein unsicheres Lächeln zu Stande. Dann berührte er flüchtig Elizabeths Hand mit seinen Lippen und ging.
Elizabeth rieb sich seufzend mit einem warmen, duftenden Waschlappen den Tagesstaub vom Gesicht. Als sie ihre Arme und Schultern wusch, fiel ihr Blick auf die Nachricht auf ihrem Sekretär, und ihr Herz machte einen Sprung. Sie legte den Waschlappen weg und nahm den Brief an sich. Bei all der Aufregung wegen Jane Selby hatte sie den Viscount und ihre eigenen Probleme ganz vergessen. Aber im Vergleich zu ihren heutigen Erlebnissen schien die Angelegenheit auch beinahe unbedeutend zu sein. Sie hatte eine liebevolle Großmutter, genug zu essen, saubere Kleidung und ordentliches Bettzeug. Eigentlich hatte sie keine Probleme.
Noch einmal las sie Strattons kurzen Vorschlag, ihn ein weiteres Mal zu treffen, um ihr vielleicht ihre Familienjuwelen zurückzugeben. Die Worte schienen ihr förmlich entgegenzuspringen. Eine Idee begann in ihrem Kopf Gestalt anzunehmen. Sie war so einfach und doch so schockierend, dass sich erst einmal setzen musste.
Was hatte sie schon zu verlieren? Aber wenn sie nicht sofort handelte, solange ihr der Schrecken über Janes Notlage noch in den Knochen saß und der Gedanke an einen kleinen, betäubten Jungen auf einem schmutzigen Bett ihr noch die Kehle zuschnürte, dann würde sie vielleicht nicht mehr den Mut aufbringen, aus wahrem, selbstlosem Mitleid zu handeln.
Die Nachricht entglitt ihren zitternden Fingern und fiel auf die Schreibunterlage. Elizabeth starrte zum Fenster hinaus in die Dunkelheit. Baumwipfel schwankten vor ihrem Fenster in der herbstlichen Brise. Es war noch nicht sehr spät. Kurz vor neun Uhr, schätzte sie. Sie wusste, dass Edwina sich bereits zurückgezogen hatte …
Sie sah zu ihrer Zofe hinüber, die ihr ein Nachtgewand bereitlegte. „Nein, Josie“, teilte sie ihr mit. „Ich brauche das blaue Samtkleid und den schwarzen Satinumhang mit der Kapuze.“ Ein hysterisches Kichern entschlüpfte ihr, als die Bedienstete sie mit offenem Mund anstarrte. „Ich muss noch einmal ausgehen. Und so leid es mir tut, aber ich fürchte, du musst mich begleiten.“