26. Kapitel
Kaum bin ich aufgewacht , schreibe ich in fliege n der Hast einen Brief an die Direktorin der Sankt -Viktoria-Mädchenschule und frage sie , wann Miss McChennmine ein Mitglied ihres Lehrkörpers war. Noch bevor die Tinte ganz g e trocknet ist , schicke ich Emily damit zur Post.
Da heute Donnerstag ist, werden wir wie versprochen mit Miss Moore die Gemäldegalerie besuchen. Wir fa h ren mit dem Omnibus durch die Innenstadt von London. Es ist her r lich , auf dem Oberdeck zu sitzen , sich den Wind ins Gesicht blasen zu lassen und auf die von Menschen wimmelnde Str a ße und die mit Waren beladenen Pferdekarren hinunterz u schauen. Es ist nur noch knapp eine Woche bis Weihnachten und das Wetter ist kälter geworden. Die dicken Wolken über uns sind Vorboten des kommenden Schnees. Ihre weißen Wolkenbäuche lassen sich auf den Rauchfängen nieder , ve r schlucken diese ganz , bevor sie zum nächsten und übernäch s ten weiterziehen , um jedes Mal zu verweilen , als hätten sie einen weiten , weiten Weg hinter sich.
»Unsere Haltestelle, meine Damen«, ruft Miss Moore über den Straßenlärm. Der Wind hat aufgefrischt , sodass sie ihre n Hut festhalten muss. Vorsichtig steigen wir die Treppe ins Unterdeck des Omnibusses hinunter , wo uns ein Schaffner in einer adretten Uniform die Hand reicht und uns beim Ausste i gen hilft.
Die Gemäldegalerie ist im Haus eines ehemaligen Herre n klubs untergebracht. Viele Leute haben heute den Weg hie r her gesucht. In enger Tuchfühlung mit den anderen Bes u chern bewegen wir uns von Stockwerk zu Stockwerk und betrachten jedes der erstklassigen Bilder. Miss Moore führt uns durch einen Saal , der den Werken weniger bekannter Künstler gewidmet ist. Da hängen stille Bilder von verträu m ten jungen Mädchen , wilde Szenen von Seeschlachten und idyllische Landschaften , die in mir den Wunsch wecken , mit bloßen Füßen darin umherzulaufen. Ein großes Gemälde in der Ecke zieht mich in seinen Bann. Es zeigt eine Schar von Engeln , die in einen Kampf verwickelt sind. Unter ihnen e r streckt sich ein üppiger Garten mit einem einsamen Baum und einer großen Anzahl trauernder Menschen. Im unteren Teil des Bildes breitet sich eine trostlose schwarze Steinwü s te aus , die in einen orangeroten Feuerschein getaucht ist. Ganz oben , in den Wolken , liegt eine goldene Stadt. In der Mitte des Bildes sind zwei miteinander ringende Engel zu sehen , deren Arme im Kampf so eng ve r schlungen sind , dass ich nicht sagen kann , wo der eine aufhört und der andere beginnt. Es ist , als würden sie ohne di e sen Kampf , der sie oben hält , ins Bodenlose stürzen.
»Haben Sie etwas gefunden, was Ihnen gefällt?«, fragt plötzlich Miss Moore neben mir.
»Ich weiß nicht«, antworte ich. »Es ist … irritierend.«
»Das sind große Kunstwerke oft. Was irritiert Sie an di e sem Bild?«
Ich betrachte die reiche Palette der Ölfarben, die Rot-und Orangetöne des Feuers; die blassen Grautöne der Engelsfl ü gel; die verschiedenen Schattierungen der Fleischtöne , die Muskeln zum Leben erwecken , sie zum Kampf stärken.
»Es scheint fast tollkühn, als ginge es irgendwie um zu viel.«
Miss Moore beugt sich vor, um die Inschrift auf der Me s singtafel unter dem Gemälde zu lesen. »Unbekannter Maler. Um 1800. Heerschar rebellischer Engel .« Sie zitiert etwas , das wie ein Gedicht klingt. ›»Selbst in der Hölle gilt es , nach Herrschaft zu streben: Besser , in der Hölle zu herrschen , als im Himmel zu dienen.‹ John Milton. Das verlorene Paradies. Erstes Buch. Haben Sie es je gel e sen?«
»Nein«, sage ich errötend.
»Miss Worthington? Miss Bradshaw?«, fragt Miss Mo o re. Sie schütteln die Köpfe. »Du lieber Himmel , was soll nur aus dem britischen Weltreich werden , wenn wir u n sere größten englischen Dichter nicht lesen? John Mi l ton , geboren 1608, gestorben 1674. Sein episches Gedicht Das verlorene Par a dies ist die Geschichte Luzifers.« Sie zeigt auf den schwar z haarigen Engel in der Mitte. »Der herrlichste und meistg e liebte der Engel Gottes , der Engel , der aus dem Himmel g e stürzt wurde , weil er eine Rebellion gegen Gott angezettelt hatte. Nachdem sie den Himmel verloren hatten , schworen er und seine r e bellischen Engel , ihren Kampf hier auf Erden fortzuse t zen.«
Ann schnäuzt sich geziert in ihr Taschentuch. »Ich ve r stehe nicht , warum er kämpfen musste. Er war doch schon im Himmel.«
»Richtig. Aber es genügte ihm nicht, zu dienen. Er wollte mehr.«
»Obwohl er alles hatte, was er sich nur wünschen konnte?«, fragt Ann.
»Allerdings«, bestätigt Miss Moore. »Denn er musste da r um bitten. Er war abhängig von der Laune eines and e ren. Es ist schrecklich , selbst keine Macht zu haben. Zu rückgewiesen zu werden.«
Felicity und Ann werfen mir einen Blick zu und eine Welle von Schuldgefühl überschwemmt mich. Ich habe die Macht. Sie nicht. Hassen sie mich deswegen?
»Armer Luzifer«, murmelt Felicity.
Miss Moore lacht. »Das ist eine höchst ungewöhnliche Ei n schätzung , Miss Worthington. Aber Sie befinden sich damit in guter Gesellschaft. Milton selbst schien Symp a thie für ihn zu empfinden. Genau wie dieser Maler. Se hen Sie , wie schön er den dunklen Engel gemalt hat?«
Wir drei betrachten die starken, vollkommenen Rü cken der Engel. Sie scheinen fast wie Liebende , die nichts um sich herum wahrnehmen. Nur der Kampf zählt.
»Ich frage mich …«, grübelt Miss Moore , »was ist , wenn das Böse gar nicht existiert? Was ist , wenn das Böse nur der menschlichen Vorstellungskraft entspringt und es gar nichts gibt , wogegen es anzukämpfen gilt , außer u n seren eigenen Grenzen? Der beständige Kampf zw i schen unserem Wollen , unseren Sehnsüchten und unseren En t scheidungen?«
»Aber das Böse gibt es wirklich«, sage ich und denke an Circe.
Miss Moore schaut mich mit einem merkwürdigen Blick an. »Wieso sind Sie sich da so sicher?«
»Wir haben es gesehen«, platzt Ann heraus. Felicity hustet und gibt Ann einen unsanften Rippenstoß.
Miss Moore senkt ihre Stimme. »Sie haben vollkommen recht. Das Böse existiert.« Mein Herzschlag stockt. Was we i ter? Wird sie uns hier und jetzt etwas gestehen? »Es nennt sich Mädchenpensionat.« Sie schüttelt sich in gespieltem Grausen und wir kichern. Ein verkniffenes graues Ehepaar , das gerade an uns vorbeigeht , wirft uns einen missbilligenden Blick zu.
Felicity starrt auf das Gemälde, als wollte sie es berühren. »Halten Sie es für möglich , dass manche Menschen … irgen d wie nicht ganz in Ordnung sind? Dass etwas Böses in ihnen ist , das andere dazu bringt …« Sie bricht ab.
»Das andere wozu bringt?«, fragt Ann.
»Bestimmte Dinge zu tun.«
Ich weiß nicht, was sie meint.
Miss Moore wendet den Blick nicht von dem Gemälde. »Wir alle tragen die Verantwortung für unser Handeln , Miss Worthington , falls es das ist , was Sie meinen.«
Wenn Felicity wirklich das gemeint hat, so lässt sie es sich nicht anmerken. Ich weiß nicht , ob ihre Frage b e antwortet wurde.
»Wollen wir weitergehen, meine Damen? Wir müssen uns noch die Romantiker ansehen.« Miss Moore marschiert zie l strebig los. Ann folgt ihr , aber Felicity rührt sich nicht von der Stelle. Sie ist von dem Bild fasziniert.
»Du würdest mich nicht ausschließen, nicht wahr?«, fragt sie mich.
»Wovon ausschließen?«, frage ich.
»Vom Magischen Reich. Vom Orden. Von allem.«
»Natürlich nicht.«
Sie legt den Kopf schief. »Glaubst du, sie haben ihn sehr vermisst , als er gefallen ist? Hat Gott über seinen verlorenen Engel geweint? Was meinst du?«
»Ich weiß es nicht«, sage ich.
Felicity hakt sich bei mir ein und wir schlendern hinter den anderen her und lassen das Bild sowie den ewigen Kampf zwischen Engeln und Teufeln hinter uns.
»Ist das die Möglichkeit? Bist du es wirklich, Ann? Ja , es ist unsere Annie!«
Eine Frau kommt auf uns zu. Sie ist ziemlich aufg e donnert , mit Perlenschnüren und Brillantohrgehängen , die besser für den Abend passen würden. Offensichtlich will sie aller Welt zeigen , dass sie Geld hat. Es ist mir peinlich für sie. Ihr Gatte , ein Mann mit einem säube r lich gestutzten Schnurrbart , zieht vor uns seinen hohen schwarzen Hut. Ein reich verzierter Spazierstock krönt seine Aufmachung.
Die Frau schließt Ann affektiert in die Arme. »Was für eine Überraschung , dich hier zu sehen. Aber warum bist du nicht in der Schule?«
»I…i … ich …«, stammelt Ann. »D-darf ich vorste l len , m-meine Cousine , Mrs Wharton.«
Wir machen uns bekannt und schließlich wissen wir , dass Mrs Wharton Anns entfernte Cousine ist , die Ann den Besuch der Schule ermöglicht , damit sie im ko m menden Jahr die Gouvernante ihrer Kinder wird.
»Ich hoffe sehr, dass es sich hierbei um eine geschmackvo l le Ausstellung handelt«, sagt Mrs Wharton naserümpfend. »Wir haben in Paris eine Ausstellung b e sucht , die war obszön , muss ich leider sagen. Bilder von Wilden , die ohne eine Faser am Leib herumhocken.«
»Dafür war es reichlich teuer«, sagt Mr Wharton l a chend , obwohl es bekanntlich höchst geschmacklos ist , von Geld zu reden.
Miss Moore neben mir versteift sich. »Ah. Wahre Kuns t kenner , wie ich sehe. Sie müssen sich unbedingt das Gemälde von Moretti anschauen«, fügt sie hinzu. Damit meint sie das gewagte Bild einer nackten Venus , der Göttin der Liebe , das mir die Schamröte ins Gesicht getrieben hat. Mit Sicherheit werden es die Whartons anstößig finden und ich habe den Verdacht , dass genau das Miss Moores Absicht war.
»Ja, gewiss , das werden wir. Vielen Dank«, zwitschert Mrs Wharton. »Es ist in der Tat ein glücklicher Zufall , dass sich unsere Wege gekreuzt haben , Annie. Es sieht ganz so aus , als würde uns Elsa , unsere Go u vernante , früher als erwartet verlassen. Sie geht im Mai und wir werden dich dann sofort brauchen. Ich weiß , wie sehr Charlotte und Caroline sich freuen werden , ihre Cous i ne als Gouvernante zu haben. Allerdings vermute ich , dass Charlotte darauf bestehen wird , Miss Charlotte genannt zu werden , nun , wo sie acht ist. Du d arfst dich von ihr nicht zu sehr heru m kommandieren lassen.« Sie lacht da r über , während Ann sich sichtlich elend fühlt.
»Wir sollten sehen, dass wir weiterkommen , Mrs Wha r ton«, sagt Mr Wharton und reicht ihr seinen Arm. Unsere Gesellschaft ist ihm schon langweilig geworden.
»Ja, Mr Wharton. Ich werde an Mrs Nightingale schre i ben«, sagt seine Gattin , den Namen verwechselnd. »Es war riesig nett , Sie getroffen zu haben«, sagt sie und lässt sich wie ein kleines Kind von ihrem Mann fortfü h ren.
***
Wir kehren zum Nachmittagstee in einer schummrigen , g e mütlichen Teestube ein. Diese ist nicht wie die Resta u rants und Café s , die wir normalerweise besuchen , voller Blumen und steifem Geplauder. Es ist ein Lokal für berufstätige Fra u en und es pulsiert von Betriebsamkeit. Felicity und ich sind erfüllt von unserem Kunsterlebnis. Wir diskutieren über uns e re Lieblingsbilder und Miss Moore erzählt uns , was sie über die Maler weiß. Es gibt uns das Gefühl , höchst kultiviert und gebildet zu sein , wie die Gäste eines berühmten Salons in Paris. Nur Ann ist schweigsam. Sie trinkt ihren Tee und isst zwei große Stück Kuchen hintereinander.
»Wenn du so weitermachst, wirst du nicht mehr in dein Kleid für den Weihnachtsball passen«, tadelt Felic i ty.
»Was spielt das für eine Rolle?«, fragt Ann. »Du hast g e hört , was meine Cousine gesagt hat. Im Mai bin ich fort.«
»Nicht doch, Miss Bradshaw. Es gibt immer eine ander e Möglichkeit«, sagt Miss Moore bestimmt. »Ihre Zu kunft ist noch längst nicht entschieden.«
»Oh doch, das ist sie. Die Whartons haben einen Teil me i ner Ausbildung in Spence bezahlt. Ich stehe in ihrer Schuld.«
»Wie wäre es, wenn Sie sich weigern und ihnen anbi e ten , Ihre Schulden zurückzuzahlen , sobald Sie eine andere Anste l lung gefunden haben?«, fragt Miss Moore.
»Ich könnte die Schulden nie zurückzahlen.«
»Doch, Sie könnten es , mit der Zeit. Es würde nicht leicht sein , aber es wäre zu schaffen.«
»Aber sie würden furchtbar wütend auf mich sein«, sagt Ann.
»Ja, höchstwahrscheinlich. Was aber keinen von Ihnen u m bringen wird.«
»Ich könnte es nicht ertragen, dass jemand schlecht von mir denkt.«
»Möchten Sie lieber Ihr Leben lang der Gnade und Ungn a de von Mrs Wharton und den Misses Charlotte und Caroline ausgeliefert sein?«
Ann starrt die Krümel auf ihrem Teller an. Der Ja m mer ist , ich kenne Ann. Ihre Antwort heißt Ja. Ann l ä chelt schwach. »Vielleicht werde ich wie die Heldin in einer von diesen Schulmädchengeschichten sein und j e mand wird kommen und mich holen. Ein reicher Onkel. Oder vielleicht findet ein guter Mann Gefallen an mir und will mich zu seiner Frau machen.« Bei den letzten Worten wirft sie mir einen unsicheren Blick zu und ich weiß , dass sie an Tom denkt.
»Das sind aber ziemlich hochgesteckte Hoffnungen«, sag t Miss Moore. Ann schnieft. Dicke Tränen fallen in ihren Tee.
»Nun kommen Sie«, sagt Miss Moore und tätschelt ihre Hand. »Noch ist es nicht so weit. Was können wir tun , um Sie aufzuheitern? Möchten Sie mir mehr über diese fantastischen Dinge erzählen , die Sie im Magischen Reich erleben?«
»Dort bin ich schön«, sagt Ann. Sie klingt ganz heiser vor zurückgehaltenen Tränen.
»Wunderschön«, sage ich. »Erzähl Miss Moore , wie wir die Quellnymphen verjagt haben!«
Ein Lächeln zuckt kurz um Anns Lippen. »Wir haben ’s i h nen gezeigt , stimmt ’s?«
Miss Moore tut so, als sei sie ärgerlich. »Los , spannt mich nicht so auf die Folter. Erzählt mir von den Quel l nymphen.«
Miss Moore hört aufmerksam zu, während wir ihr die Ge schichte in allen Einzelheiten erzählen und alles genau schi l dern. »Aha , wie ich sehe , lesen Sie ja doch. Das stimmt mit den alten griechischen Sagen von Nymphen und Sirenen überein , die mit ihrem Gesang Seeleute in den Tod lockten. Und wie ist ’s , haben Sie inzwischen Ihren Tempel gefu n den?«
»Nein, noch nicht. Aber wir haben die Goldene Dämm e rung besucht , eine Buchhandlung in der Nähe der Bond Street , und ein Buch von einer Autorin namens Wilhelm i na Wyatt über Geheimbünde gefunden«, sagt Ann.
»Die Goldene Dämmerung …« Miss Moore nimmt e i nen Bissen von ihrem Kuchen. »Ich glaube nicht , dass ich diese Buchhandlung kenne.«
»Miss McChennmine hatte eine Reklame davon in ihrem Koffer«, sagt Ann. »Gemma hat sie entdeckt.«
Miss Moore zieht eine Augenbraue hoch.
»Der Koffer stand offen«, sage ich errötend. »Mein Blick fiel darauf , ohne dass ich es wollte.«
»Wir haben Miss McChennmine dort im Geschäft ge sehen. Sie hat nach dem Buch gefragt , also haben wir das dann auch getan. Es steht etwas über den Orden drin!«, sagt Felicity.
»Wussten Sie, dass die Mitglieder des Ordens Ana g ramme benutzten , um nötigenfalls ihre wahre Identität zu verschle i ern?«, frage ich.
Miss Moore gießt uns Tee ein. »Ach, tatsächlich?«
Ann platzt heraus: »Ja, und wir haben ein Anagramm für Miss McChennmine gemacht. Es lautet: Man nennt mich Ci r ce. Das ist der Beweis.«
»Beweis wofür?«, fragt Miss Moore und verschüttet ein wenig Tee , den sie mit ihrer Serviette auffängt.
»Dass Miss McChennmine Circe ist, natürlich. Und sie ist aus irgendeinem teuflischen Grund nach Spence zurückg e kehrt«, erklärt Felicity.
»Sollte das etwa der Zeichen-und Lateinunterricht sein?«, fragt Miss Moore mit einem schiefen Lächeln.
»Es handelt sich um eine ernste Sache«, beharrt Felic i ty.
Miss Moore runzelt die Stirn. »Genauso, wie jemanden der Hexerei zu bezichtigen , weil er eine Buchhandlung besucht.«
Beschämt trinken wir unseren Tee.
»Wir sind ihr gefolgt«, sagt Ann ruhig. »Sie ist nach Be d lam gefahren , wo Nell Hawkins ist.«
Miss Moore setzt die Teetasse klirrend ab. »Nell Ha w kins. Wer ist das?«
»Ein Mädchen, das an den Orden glaubt. Sie sagt , Ci r ce versucht , sie in ihre Gewalt zu bringen. Deshalb ist sie ve r rückt geworden«, sagt Ann genüsslich. Sie hat wirklich einen Sinn fürs Makabere.
»Mein Bruder, Tom , ist medizinischer Assistent im Bethl e hem-Hospital. Nell ist eine Patientin von ihm«, erkläre ich.
»Interessant. Und Sie haben mit dieser Person gespr o chen?«
»Ja«, sage ich.
»Hat sie Ihnen gesagt, dass sie mit Miss McChennmine b e kannt ist?«
»Nein«, antworte ich etwas verlegen. »Sie ist verrückt und es ist schwierig , ihren Worten einen Sinn zu entl o cken. Aber sie war in der Sankt-Viktoria-Mädchenschule , als sie den Verstand verlor , und wir haben Grund zu der Annahme , dass Miss McChennmine zur gleichen Zeit dort angestellt war und vie l leicht etwas damit zu tun ha t te.«
»Das ist merkwürdig«, sagt Miss Moore und schüttet Milch in ihren Tee , bis die Flüssigkeit ein wolkiges Beige annimmt. »Handelt es sich dabei um eine Tatsache? Wi s sen Sie es mit Sicherheit?«
»Nein«, gebe ich zu. »Aber ich habe eine Anfrage an die Direktorin gerichtet. Ich hoffe , bald Antwort zu b e kommen.«
»Also wissen Sie in Wirklichkeit nichts«, sagt Miss Moore und streicht die Serviette auf ihrem Schoß glatt. »Ich empfe h le Ihnen , bis dahin mit Ihren Anschuldigu n gen vorsichtig zu sein. Es könnte unvorhergesehene Au s wirkungen haben.« Wir schauen einander schuldb e wusst an. »Ja , Miss Moore.«
»Ann, was haben Sie da gemacht?«, fragt Miss Moore.
Ann hat etwas auf einen Zettel gekritzelt. Sie versucht , es mit ihrer Hand zu bedecken. »N-nichts.«
Felicity entreißt ihr den Zettel.
»Gib’s zurück«, bettelt Ann und versucht erfolglos , den Zettel wieder an sich zu bringen.
Felicity liest vor: »Hester Moore. Oster Moehre.«
»Es ist ein Anagramm Ihres Namens. Kein sehr gutes«, sagt Ann hitzig. »Felicity , bitte!«
Felicity liest ungerührt weiter. »So mehr Roete. Oh , Ro tes Meer.« Ein Funken Bosheit leuchtet in Felicitys Augen auf. »Tom ehre Eros.«
Es spielt keine Rolle, dass der Satz keinen Sinn ergibt. Die Tatsache , dass Tom und Eros gemeinsam in einem Satz au f tauchen , hat Ann unsäglich bloßgestellt. Sie reißt den Zettel wieder an sich. Andere Gäste in der Teestube sind auf unser kindisches Betragen aufmerksam geworden und es bestürzt mich zutiefst , dass unser Besuch so u n rühmlich endet. Miss Moore wird uns wahrscheinlich nie wieder zu einem Ausflug einladen.
Tatsächlich wirft sie einen Blick auf ihre Taschenuhr. »Ich bringe Sie jetzt nach Hause.«
***
In der Droschke sagt Miss Moore: »Ich hoffe, es bleiben I h nen weitere Begegnungen mit den Quellnymphen e r spart. Die scheinen besonders grausam zu sein.«
»Das hoffe ich auch«, sagt Ann schaudernd.
»Vielleicht können Sie mich in Ihre Geschichte mit herei n nehmen. Ich glaube , ich würde den Nymphen gern die Stirn bieten.« Miss Moore setzt eine heldenhafte Miene auf. Es bringt uns zum Lachen. Ich bin erleichtert. Ich habe den Tag so sehr genossen. Der Gedanke , es könnte nie wieder einen ähnlichen geben , würde mich traurig machen.
Als wir Ann und Felicity wohlbehalten zu Hause abg e setzt haben , fahren wir die kurze Strecke zum Belgrave Square weiter. Miss Moore nimmt den Anblick des wu n derschönen Hauses in sich auf.
»Möchten Sie mit hereinkommen und Großmama Guten Tag sagen?«, frage ich.
»Vielleicht ein anderes Mal.« Sie blickt ein wenig b e sorgt drein. »Gemma , misstrauen Sie dieser Miss McChennmine wirklich?«
»Sie hat irgendetwas Beunruhigendes an sich«, antworte ich. »Ich kann nicht sagen , was es ist.«
Miss Moore nickt. »Also gut. Ich werde selbst Erkundigu n gen einziehen. Vielleicht ist überhaupt nichts dran und wir werden über unsere Dummheit lachen. In der Zwischenzeit sollten Sie sich vor ihr lieber in Acht ne h men.«
»Danke, Miss Moore«, sage ich. »Danke für alles.«