21. Kapitel
Als das Dessert abserviert ist , ziehen sich die Männer ins He r renzimmer zurück , um ihren Brandy und ihre Zigarren zu genießen , während es sich die Frauen bei Tee und Klatsch im Salon gemütlich m a chen.
»Mutter, ich glaube , Miss Doyle würde gerne das Porträt von Großvater sehen«, sagt Simon , der uns auf dem Weg in den Salon abfängt. Ich habe bisher nichts von diesem Porträt gehört.
»Ja, natürlich. Wir gehen alle zusammen«, sagt Lady De n by aufgeräumt.
Simons glattes Lächeln zuckt leicht. »Ich möchte euch auf keinen Fall vom Kamin wegholen , Mutter. In der Bibliothek zieht es ein wenig , wie du weißt.«
»Unsinn, wir nehmen unsere Umhängetücher , dann werden wir schon nicht erfrieren. Sie müssen wirklich unbedingt den guten George sehen –er wurde von einem sehr bekannten Porträtisten aus Cotswold gemalt.«
Ich weiß nicht, was da gerade abgelaufen ist , aber es scheint klar , dass Simon verloren hat.
»Hier entlang.« Lady Denby führt uns in ein geräumiges Zimmer , das von einem Gemälde mit den Ausmaßen eine r Tür beherrscht wird. Es ist ein grässlich überladenes Bildnis eines Mannes , der mit geschwellter Brust auf dem Rücken eines Pferdes sitzt. Er trägt ein rotes Jackett und stellt bis in die Zehenspitzen die vollkommene Verkörperung des Lan d edelmannes dar , der sich auf die Jagd b e gibt.
Simon nickt dem Porträt zu. »Miss Doyle, darf ich vorste l len , mein Großvater , Cornelius George Basil Middleton , Vi s count von Denby.«
Großmama überschlägt sich vor Begeisterung, obwohl sie von Kunst genauso viel versteht , wie in einem Finge r hut Platz hat. Trotzdem erfüllt es die Gastgeberin mit Stolz. Lady De n by geht weiter zu einem Kunstobjekt auf einem Kaminsims und zwingt ein Dienstmädchen , das gerade ein Gitter reinigt , mit der Bürste in der rußigen Hand zu warten.
»Was für ein hübsches Bild«, sage ich diplomatisch.
Simon zieht eine Augenbraue hoch. »Wenn Sie mit hübsch dumm , übertrieben und grotesk meinen , dann akzeptiere ich Ihr Lob.«
Ich unterdrücke ein Lachen. »Die Hunde sehen sehr würd e voll aus.«
Simon steht neben mir und mich durchströmt wieder dieses seltsame Gefühl. Er legt den Kopf schief und b e trachtet das Bild. »Tatsächlich. Vielleicht könnte ich mich , was meinen Stammbaum angeht , stattdessen ja auf sie berufen.« Seine Augen sind so blau. Und sein Lächeln ist so warm. Wir stehen nur eine Handbreit voneinander entfernt. Aus dem Auge n winkel kann ich Großmama und die anderen sehen , die einen Rundgang durch den Raum machen.
»Wie viele davon haben Sie gelesen?«, frage ich und wende mich scheinbar interessiert den Bücherregalen zu.
»Nicht viele«, sagt Simon , nicht von meiner Seite we i chend. »Ich habe diverse Hobbys. Sie beanspruchen einen Großteil meiner Zeit. Ich muss mich um unsere Angelege n heiten in Denby kümmern , das Gut und alles.«
»Ja, natürlich«, sage ich , indem ich meine langsame Pr o menade fortsetze.
»Werden Sie zufälligerweise den Weihnachtsball von A d miral und Lady Worthington besuchen?«
»Ja, das werde ich«, sage ich und gehe zu den Fenstern hinüber , die auf die Straße blicken.
»Ich werde auch dort sein.« Er holt mich ein, ist schon wi e der an meiner Seite.
»Oh«, sage ich. »Wie schön.«
»Vielleicht reservieren Sie mir einen Tanz?«
»Ja«, sage ich lächelnd. »Vielleicht.«
»Sie tragen heute Ihre Halskette nicht, wie ich sehe.«
Meine Hand fährt an meinen bloßen Hals. »Sie haben me i nen Schmuck bemerkt?«
Als er sieht, dass seine Mutter beschäftigt ist , flüstert er mir ins Ohr: »Ich habe Ihren Hals bemerkt. Dann erst den Anhä n ger. Er ist sehr ungewöhnlich.«
»Es ist ein Amulett und hat meiner Mutter gehört«, s a ge ich. Sein kühnes Kompliment hat mir das Blut in die Wangen getrieben. »Eine Frau aus einem Dorf in Indien hat es ihr zum Schutz gegeben. Leider hat es bei meiner Mutter nicht g e wirkt.«
»Vielleicht ist es gar nicht zum Schutz bestimmt«, sagt Si mon.
Daran habe ich noch nie gedacht. »Ich kann mir nicht vo r stellen , was es sonst bedeuten sollte.«
»Was ist Ihre Lieblingsfarbe?«, fragt Simon.
»Violett«, antworte ich. »Warum fragen Sie?«
»Einfach so«, sagt er lächelnd. »Vielleicht sollte ich I h ren Bruder in meinen Klub einladen. Er scheint ein prima Kerl zu sein.«
Ha! »Ich bin sicher , er würde sich sehr darüber freuen.« Tom würde durch brennende Reifen springen , um in Simons Klub aufgenommen zu werden. Es ist der beste Klub in Lo n don.
Simon betrachtet mich eine Weile. »Sie sind nicht wie die anderen jungen Damen , die mir meine Mutter vo r führt.«
»Oh, und warum nicht?«, platze ich heraus.
»Sie haben etwas Abenteuerlustiges an sich. Ich habe das Gefühl , dass Sie eine Menge Geheimnisse haben , die ich gern kennenlernen würde.«
Lady Denbys Blick fällt auf uns, wie wir da so eng nebe n einander am Fenster stehen. Ich gebe vor , mich für ein lede r gebundenes Exemplar von Moby Dick zu intere s sieren , das auf einem Beistelltisch liegt. Der Buchrücken knirscht , als ich den Deckel aufklappe , so als wäre es noch nie geöffnet wo r den. »Vielleicht würden Sie sie lieber nicht kennen«, sage ich.
»Wie können Sie das wissen?«, fragt Simon und stellt eine Keramikfigur zweier Amoretten auf ihren Platz zurück. »Ma chen wir einen Versuch.«
Was soll ich sagen? Dass ich an den gleichen Wahnvorste l lungen wie Nell Hawkins leide , nur dass es gar keine Wah n vorstellungen sind? Dass ich fürchte , selbst nur ein paar Schritte vom Irrenhaus entfernt zu sein? Es wäre wunderbar , Simon ins Vertrauen zu ziehen und zu h ö ren , wie er sagt: Sehen Sie? Es war doch gar nicht so schlimm. Sie sind nicht verrückt. Ich glaube Ihnen. Ich bin bei Ihnen.
Ich lasse die Gelegenheit vorübergehen. »Ich habe ein dri t tes Auge«, sage ich leichthin. »Ich stamme von At a lante ab. Und meine Tischmanieren sind unter aller Kr i tik.«
Simon nickt. »So etwas habe ich mir schon gedacht. Weshalb wir Sie zur Sicherheit bitten werden , von nun an im Stall zu essen. Das macht Ihnen doch nichts aus?«
»Überhaupt nichts.« Ich klappe das Buch zu und wende mich ab. »Was für schreckliche Geheimnisse haben Sie , Mr Middleton?«
»Außer dass ich spiele, trinke und gelegentlich einbr e che?« Er folgt mir auf dem Fuß. »Die Wahrheit?«
Mein Herzschlag stockt. »Ja«, sage ich und wende mich ihm schließlich zu. »Die Wahrheit.«
Er schaut mir tief in die Augen. »Ich bin furchtbar niede r geschlagen.«
»Das ist nicht wahr«, sage ich und entferne mich wi e der ein paar Schritte , an den riesigen Bücherschränken hochblickend.
»Leider stimmt es. Ich soll eine passende Frau mit einem angemessenen Vermögen finden und den Familie n namen bis ins nächste Glied fortsetzen. Das wird von mir erwartet. Me i ne eigenen Wünsche zählen nicht. Tut mir leid. Ich hätte das nicht sagen sollen. Ich will Sie nicht mit meinen Problemen belasten.«
»Nein, ehrlich. Ich nehme gerne Anteil daran.« Merkwü r digerweise stimmt das.
»Wollen wir wieder in den Salon zurückkehren?«, fragt Lady Denby. Das Dienstmädchen nimmt seufzend seine Schrubberei wieder auf , sobald die Damen gegangen sind. Simon und ich folgen ihnen langsam.
»Ihre Blume hat sich gelöst, Miss Doyle.« Die Rose , die ich festgesteckt hatte , rutscht aus meinem Haar. Ich gre i fe zugleich mit ihm danach. Unsere Finger berühren sich einen Moment , bevor ich mich abwende.
»Danke«, sage ich. Ich bin ziemlich durcheinander.
»Darf ich?« Ganz behutsam befestigt Simon die Rose hi n ter meinem Ohr. Ich sollte es nicht zulassen , damit er mich nicht für zu freizügig hält. Aber ich weiß nicht , was ich sagen könnte. Ich rufe mir in Erinnerung , dass Simon neunzehn ist , drei Jahre älter als ich. Er weiß über Dinge Bescheid , von denen ich nichts weiß.
Etwas schlägt gegen das Fenster, gefolgt von einem zwe i ten , heftigeren Schlag , der mich zusammenzucken lässt. »Wer wirft da mit Steinen?« Simon schaut in die diesige Dunkelheit hinaus. Er öffnet das Fenster. Kalte Luft strömt herein , sodass mir eine Gänsehaut über die Arme läuft. Unten ist niemand zu sehen.
»Ich sollte zu den Damen hinübergehen. Großmama wird sich schon Sorgen machen , wo ich bleibe.«
Ich trete so rasch den Rückzug an, dass ich fast über das Mädchen stolpere , das nicht einmal den Kopf hebt , um von ihrer Arbeit aufzuschauen.
***
Es ist weit nach Mitternacht, als wir uns verabschieden und in eine von Sternen und Hoffnung überglänzte Nacht hinaustr e ten. Der Abend hat mich in ein Wechselbad der Gefühle g e stürzt. Da ist zunächst das Gute –Simon. Seine Familie. Die Herzlichkeit , mit der sie mir begegnet sind. Mein wieder g e sunder und geheilter Vater. Auf der anderen Seite die ernüc h ternde Aussicht , Nell Hawkins in der Irrenanstalt zu bes u chen. Um herauszufinden , ob sie den Schlüssel des Gehei m nisses in Händen hält und uns den Weg zum Tempel und zu Ci r ce weisen kann. Und schließlich das Merkwürdige –die ans Fenster geworfenen Steine.
Kartik, der uns bei der Kutsche erwartet , wirkt erregt. »Ha t ten Sie einen angenehmen Abend , Miss?«
»Ja, sehr angenehm , danke«, antworte ich.
»Das habe ich bemerkt«, murmelt er , als er mir in den Wa gen hilft , um dann ein wenig zu rasant anzufahren. Was ist nur los mit ihm?
Sobald meine Familie sicher im Bett ist, schlüpfe ich in meinen Mantel und stürze über den kalten , harten Boden zu den Ställen. Kartik sitzt bei einer Tasse Tee und liest laut aus der Odyssee. Er ist nicht allein. Emily sitzt neben ihm und hört ihm zu.
»Guten Abend«, sage ich , als ich hereinplatze.
»Guten Abend«, sagt er und steht auf.
Emily schaut erschrocken drein. »Oh, Miss , ich war nur … nur …«
»Emily, ich habe mit Mr Kartik etwas zu besprechen , wenn du nichts dagegen hast.«
Emily nimmt die Beine in die Hand und rennt zum Haus zurück.
»Was haben Sie mit Ihrer Bemerkung vorhin ge meint?«
»Ich habe einfach nur gefragt, ob Sie einen angenehmen Abend hatten. Mit Mr Muddleton.«
»Middleton«, korrigiere ich ihn. »Er ist ein Gentl e man , falls Sie es nicht wissen.«
»Er sieht wie ein Lackaffe aus.«
»Bitte unterlassen Sie es, ihn zu beleidigen. Sie wi s sen nichts über ihn.«
»Es gefällt mir nicht, wie er Sie anschaut. Als wären Sie ein reifes Stück Obst.«
»Er tut nichts dergleichen. Moment mal. Wie können Sie wissen , wie er mich anschaut? Haben Sie mir nac h spioniert?«
Kartik steckt verärgert seine Nase ins Buch. »Er hat Sie so angeschaut. In der Bibliothek.«
»Sie haben die Steine ans Fenster geworfen!«
Kartik springt auf. Das Buch ist vergessen. »Sie haben ihm erlaubt , Ihr Haar zu berühren!«
Das stimmt. Es war unschicklich. Ich kann meine Verl e genheit nicht ganz verbergen. Trotzdem bin ich nicht gewillt , klein beizugeben. »Ich habe Ihnen etwas zu s a gen. Falls Sie e s hören wollen und so lange aufhören kö n nen , sich selbst zu bemitleiden.«
»Ich bemitleide mich nicht selbst«, sagt Kartik aufg e bracht.
»Dann also gute Nacht.«
»Warten Sie!« Kartik kommt mir nach. Ich grinse schade n froh. Es ist unattraktiv , aber ich kann ’s mir nicht ve r kneifen. »Es tut mir leid. Ich verspreche , mich mustergültig zu betr a gen«, sagt er. Er lässt sich theatr a lisch auf die Knie fallen , hebt eine Eichel vom Boden auf und hält sie an se i nen Hals. »Ich flehe Sie an , Miss Doyle. Sagen Sie es mir oder ich bin gezwungen , mich mit dieser mächt i gen Waffe zu töten.«
»Oh, stehen Sie schon auf«, sage ich und muss gegen me i nen Willen lachen. »Tom hat eine Patientin in Bet h lehem. Nell Hawkins. Er sagt , sie leidet an Wahnvorste l lungen.«
»Das erklärt ihren Aufenthalt in Bethlehem.« Er grinst. Als ich nicht reagiere , sagt er zerknirscht: »Tut mir leid. Bitte fahren Sie fort.«
»Sie behauptet, ein Mitglied des Ordens zu sein , und dass eine Frau namens Circe versucht , sie zu finden. Sie sagt , sie hat sich selbst in den Wahnsinn getrieben , d a mit Circe sie nicht in ihre Gewalt bekommt.«
Sein Grinsen verschwindet. »Sie müssen Nell Hawkins s o fort aufsuchen.«
»Ja. Ich habe es schon veranlasst. Morgen Nachmittag we r de ich Nell Hawkins Gedichte vorlesen und herau s finden , was sie über den Tempel weiß. Hat er mich wirklich so ang e schaut?«
»Wie?«
»Wie ein reifes Stück Obst?«
»Sie sollten vor ihm auf der Hut sein«, sagt Kartik.
Er ist eifersüchtig! Kartik ist eifersüchtig und Simon ist von mir … bezaubert? Mir ist ein wenig schwindlig. Und ich bin verwirrt. Doch nein , hauptsächlich schwindlig , ste l le ich fest.
»Ich kann gut selbst auf mich aufpassen«, sage ich. Ich m a che auf dem Absatz kehrt und renne direkt gegen die Wand. Auf meiner Stirn wächst eine Beule , die wah r scheinlich für immer bleiben wird.