Prolog

7. Dezember 1895

Dies ist , nach bestem Wissen und Gewissen , mein Be richt über die Ereignisse der letzten sechzig Tage und den selts a men Besuch , den ich bekam und dem ich es verdankte , dass ich in dieser kalten englischen Nacht kein Auge zugetan h a be. Ich , Kartik , Bruder Amars , rechtmäßiger Sohn der Rakschana. Aber der Reihe nach. Alles begann in jenen Oktobertagen , nac h dem das Unglück geschehen war.

Als ich mein Lager im Wald hinter der Spence-Akademie für junge Damen abbrach , wurde es bereits kälter. Durch e i nen Falkenkurier hatte ich Nachricht von den Rakschana e r halten. Meine Anwesenheit in London sei dringend erforde r lich. Ich solle die Hauptstraßen meiden und mich vergewi s sern , dass ich nicht verfolgt werde. Über viele Meilen reiste ich mit den Zigeunern , die mir bereitwillig Unterschlupf in ihren Planwagen g e währten. Den Rest des Weges legte ich allein , zu Fuß zurück , im Schutz der Bäume und unter dem Mantel der Nacht.

Vom Marsch erschöpft, frierend und mit knurrendem Magen –meine magere Fleischration hatte ich schon vor zwei Tagen aufgegessen –verbrachte ich bereits die zwe i te Nacht u nter freiem Himmel. Das Alleinsein hatte me i ne Sinne verwirrt und der Wald begann , mich mit seinen Ge räuschen zum Narren zu halten. In meinem geschwächten Zustand wurde jeder Nachtv o gel zu einem Verfolger , jeder knacksende Zweig unter den Hu fen eines Rehkitzes zur Drohung der unerlösten Seelen von Barbaren , die vor Jahrhunderten niedergemetzelt worden w a ren.

Im Schein des Lagerfeuers las ich einige Abschnitte aus meinem einzigen Buch , einem Exemplar der Odyssee , und hoffte , dabei aus den Abenteuern des Helden Mut zu gewi n nen. Denn mir waren jegliche Tapferkeit und Selbstsicherheit abhandengekommen. Schließlich fiel ich in einen von Trä u men erfüllten Schlaf.

Es war kein erquickender Schlaf. Ich träumte von Gras , das schwarz war wie abgebrannte Zündhölzer. Ich befand mich an einem Ort aus Schutt und Asche. Die Silhouette eines eins a men Baumes ragte vor einem blutroten Mond auf. Und von ferne drang das Kriegsgeschrei einer riesigen Armee unird i scher Wesen herauf. Durch den Lärm hörte ich die gellende Stimme meines Bruders , Amar , der warnend rief: »Enttäusche mich nicht , Bruder. Vertraue ja nicht …« Doch da änderte sich der Traum. Sie war da und lehnte sich über mich , umflo s sen von ihren rotgoldenen Locken , die sich wie ein Glorie n schein gegen den leuchtenden Himmel abzeichneten.

»Dein Schicksal ist an meines gebunden«, flüsterte sie. Sie beugte sich näher , ihre Lippen schwebten dicht über meinen. Ich konnte den leisesten Hauch ihrer Wärme spüren. Mit e i nem Schlag wachte ich auf , aber da war nichts außer der glimmenden Asche meines Lagerfeuers und den nächtlichen Geräuschen kleiner Tiere , die eilig Deckung suchten.

Halb verhungert kam ich in London an, außerdem ha t te ich keine Ahnung , wohin ich mich wenden sollte. Die Rakschana hatten mir nicht mitgeteilt , wo ich sie finden würde. Das taten sie nie. Sie fanden immer mich. Als ich mich auf dem Mark t platz von Covent Garden durch die Menge drängte , machte mich der Duft heißer Aalpastete vor Hunger fast verrückt. Ich war drauf und dran , eine der gefüllten Teigtaschen zu stehlen , als ich ihn entdec k te. Der Mann lehnte , eine Zigarre rauchend , an einer Mauer. Er war nicht besonders auffällig: von mittl e rer Größe und Statur , bekleidet mit dunklem Anzug und Hut , die Morgenzeitung ordentlich zusammengefaltet unter den linken Arm geklemmt. Er trug einen gepfle g ten Schnurrbart und über seine Wange zog sich das bo s hafte Grinsen einer Narbe. Ich wartete darauf , dass er wegschaute , damit ich u n beobachtet nach der Pastete greifen konnte. Mit scheinbarem Interesse sah ich einem Gauklerpaar zu , das auf der Straße seine Kunststücke zeigte. Einer der beiden Männer jonglierte mit Messern , während der andere Zaubertricks vorführte. Be stimmt gab es noch einen dritten Mann , der währenddessen herumschlich und die Leute um ihre Brieftaschen erleic h terte. Ich warf wieder einen Blick zur Mauer und der Mann dort war verschwunden.

Nun war es Zeit zuzuschlagen. Unter meinem Mantel ve r borgen streckte ich die Hand nach den dampfenden Teigt a schen aus. Die heiße Pastete war kaum in meinen Fingern , als der Mann mit der Narbe neben mir auftauc h te.

»Der Östliche Stern ist schwer zu finden«, sagte er mit le i ser , aber heiterer Stimme. Jetzt erst bemerkte ich die Anstec k nadel an seinem Rockaufschlag –ein kleines , mit einem To tenkopf geschmücktes Schwert. Das Zeichen der Rakschana.

Aufgeregt antwortete ich mit den Worten, die er , wie ich wusste , erwartete: »Aber er leuchtet hell für jene , die ihn s u chen.«

Als Brüder der Rakschana reichten wir einander die rechte Hand , schlossen die Hände zur Faust und bedec k ten diese mit der linken.

»Willkommen, Novize , wir haben dich erwartet.« Er beugte sich vor und flüsterte mir ins Ohr: »Du hast viel zu erklären.«

Ich kann nicht genau sagen, was dann geschah. Ich sah noch , wie die Pastetenverkäuferin Münzen in die Tasche steckte. Dann fühlte ich einen scharfen Schmerz am Hinte r kopf und die Welt versank in schwarzer Finsternis.

Als ich wieder zu mir kam, blinzelte ich ins Licht zahlre i cher Kerzen , die rings um mich aufgestellt waren. Der Raum hinter den Flammen lag in tiefer Dunkelheit. Mein Begleiter war verschwunden. Ich hatte höllische Kop f schmerzen und nun , bei wachem Bewusstsein , packte mich das Entsetzen über das Unbekannte mit doppelter Macht. Wo war ich? Wer war jener Mann? Wenn er ein Rakschana war , warum dann der Schlag auf den Kopf? Ich horchte angestrengt auf Gerä u sche , Stimmen , irgen d einen Hinweis darauf , wo ich mich befand.

»Kartik, Bruder Amars , Novize der Bruderschaft der Ra k schana …« Die tiefe , kraftvolle Stimme kam von i r gendwo über mir. Ich konnte nichts sehen außer den Kerzen und d a hinter völlige Dunkelheit.

»Kartik«, wiederholte die Stimme , eindeutig auf eine An t wort drängend.

»Ja«, krächzte ich , als ich endlich wieder sprechen konnte.

»Das Tribunal ist eröffnet.«

Langsam konnte ich Konturen in der Dunkelheit ausm a chen. Ungefähr vier Meter über dem Fußboden lief ein Ge länder rings um den kreisrunden Raum. Hinter dem Geländer konnte ich nur die bedrohlichen , dunke l roten Gewänder der ranghöchsten Mitglieder der Ra k schana erkennen. Das waren nicht die Brüder , die mich mein ganzes Leben lang geschult hatten , sondern mächt i ge Männer , die im Schatten lebten und wirkten. Um ein solches Tribunal zu verdienen , musste ich irgendetwas entweder sehr gut oder sehr schlecht gemacht haben.

»Wir sind sehr ungehalten über dein Versagen«, fuhr die Stimme fort. »Du hättest das Mädchen beobachten sollen.«

Also sehr schlecht. Ein neues Entsetzen packte mich. Nicht die Furcht , geschlagen oder von Straßenräubern überfallen zu werden , sondern die Angst , dass ich meine Wohltäter , meine Brüder , enttäuscht hatte und mich vor ihrem berüchtigten Gericht zu verantworten haben wü r de.

Ich schluckte schwer. »Ja, Bruder , ich habe sie be o bachtet , aber …«

Die Stimme nahm an Schärfe zu. »Du solltest sie beobac h ten und uns Bericht erstatten. Weiter nichts. War diese Au f gabe zu schwer für dich , Novize?«

Die Angst schnürte mir die Kehle zu.

»Warum hast du uns nicht sofort benachrichtigt, als sie das Magische Reich betreten hatte?«

»Ich ich dachte , ich hätte die Dinge im Griff.«

»Und war es so?«

»Nein.« Meine Antwort hing in der Luft wie der dichte Rauch von den Kerzen.

»Nein, du hattest sie nicht im Griff. Und nun wurde die Grenze des Magischen Reichs durchbrochen. Das Undenkbare ist geschehen.«

Ich rieb meine schweißnassen Handflächen an den Knien , aber das half nichts. Der kalte , metallische Ge schmack der Angst bahnte sich seinen Weg in meinen Mund. Es gab so vieles , was ich nicht wusste über diese Organisation. Und trotzdem hatte ich mich ihr voll und ganz verschrieben , mit bedingungsloser Treue , mit me i nem Leben selbst , wie mein Bruder es vor mir getan ha t te. Amar hatte mir Geschichten über die Rakschana und ihren Ehrenkodex erzählt. Über ihren Platz in der Ge schichte als Hüter des Magischen Reichs.

»Wenn du uns sofort verständigt hättest, hätten wir die Si tuation retten können.«

»Mit Verlaub gesagt, das Mädchen ist anders , als ich erwa r tet hatte.« Ich machte eine Pause und dachte an das Mädchen , das ich zurückgelassen hatte –ein eigenwilliges Ding mit bestürzend grünen Augen. »Ich glaube , sie ist wohlmeinend.«

Die Stimme dröhnte. »Dieses Mädchen ist gefährlicher , als du denkst , Junge. Sie ist imstande , uns alle zu ve r nichten. Noch ist sie sich dessen nicht bewusst. Und nun wurde –zw i schen euch beiden –die magische Kraft freigesetzt. Das Ch a os regiert.«

»Aber sie hat Circes Mordgesellen besiegt.«

»Circe hat mehr als nur einen dunklen Geist zu ihrer Ve r fügung«, fuhr die Stimme fort. »Dieses Mädchen hat die Kri s talle zertrümmert , in denen die Magie eing e schlossen und versiegelt und für Generationen sicher g e borgen gewesen war. Verstehst du , dass die Dinge außer Kontrolle geraten sind? Die Magie treibt innerhalb des Magischen Reichs frei umher und jeder dunkle Geist kann sich ihrer bedienen. Viele von ihnen nutzen sie b e reits , um die Seelen , die ans jenseitige Ufer übersetzen müssen , zu verführen. Sie wollen sie in die Winterwelt bringen , um so ihre eigene Macht zu stärken. Wie lange mag es dauern , bis sie den Schleier zwischen dem Ma gischen Reich und unserer Welt durchtrennt haben we r den? Wie lange noch und es wird ihnen gelingen , herau s zukommen und einen Weg zu Circe zu finden , oder umgekehrt? Wie la n ge wird es dauern , bis Circe sich der Magie bemächtigt? Bis sie die Macht hat , nach der sie strebt?«

Ein eisiger Schauer lief durch meine Adern.

»Jetzt verstehst du. Du begreifst, was sie getan hat. Zu we l cher Tat du ihr verholfen hast. Auf die Knie …«

Zwei starke Hände griffen aus dem Nichts nach mir und zwangen mich auf die Knie. Mein Mantelkragen wurde gel o ckert und ich fühlte kalten Stahl an meiner Halsschlagader , die wie rasend pochte. Das war ’s. Ich hatte versagt , hatte Schande über die Rakschana und das Andenken meines Br u ders gebracht und würde dafür sterben.

»Unterwirfst du dich dem Willen der Bruderschaft?«, fragte die Stimme.

Der Druck der flachen Klinge gegen meinen Hals würgte mir fast meine Stimme ab , sodass nur ein mühsamer , erstic k ter Laut aus meiner Kehle drang. Die Stimme eines Fremden. »Ja.«

»Sag es.«

»Ich ich unterwerfe mich dem Willen der Brude r schaft. In allen Dingen.«

Die Klinge zog sich zurück. Ich war frei.

Ich schäme mich, es zuzugeben , aber ich war vor Erleicht e rung den Tränen nahe , als ich begriff , dass mir das Leben geschenkt worden war. Ich würde leben und ich hatte noch eine Chance , mich der Rakschana würdig zu erweisen.

»Es besteht noch Hoffnung. Hat das Mädchen dir gege n über jemals den Tempel erwähnt?«

»Nein, Bruder. Ich habe nie von solch einem Ort g e hört.«

»Lange bevor die Runenstäbe errichtet wurden, um die Magie darin einzuschließen und zu versiegeln , hatte der Or den des aufgehenden Mondes seinen Sitz in jenem Tempel. Es heißt , er sei die Quelle der Kraft des Mag i schen Reichs. Es ist der Ort , wo die Magie kontrolliert werden kann. Wer in de n Besitz des Tempels gelangt , beherrscht das Magische Reich. Sie muss ihn finden.«

»Wo befindet er sich?«

Die Antwort ließ eine Weile auf sich warten. »Irgen d wo im Innern des Magischen Reichs. Wir wissen es nicht genau. Der Orden hielt ihn gut verborgen.«

»Aber wie …«

»Sie muss ihren Verstand einsetzen. Wenn sie tatsäc h lich eine vom Orden ist , wird der Tempel höchstwah r scheinlich auf irgendeine Weise nach ihr rufen. Aber sie muss vorsichtig sein. Andere werden ebenfalls nach ihm suchen. Die Magie ist unberechenbar , wild. Keinem dort drüben ist zu trauen. Das Wichtigste ist: Sobald sie den Tempel findet , muss sie folge n de Worte sprechen: Ich binde die Magie im Namen des Östl i chen Sterns.«

»Heißt das, die Rakschana wollen den Tempel an sich bri n gen?«

»Wir wollen nur, was uns zusteht. Warum sollte der Orden alles für sich haben? Deren Zeit ist vorbei.«

»Warum bitten wir das Mädchen nicht, dass es uns dorthin mitnimmt?«

Einen Moment lang herrschte Schweigen im Raum und ich fürchtete , man werde mir gleich wieder das Me s ser an die Kehle setzen. »Kein Mitglied der Rakschana darf das Mag i sche Reich betreten. Das ist die Strafe , die uns die Hexe aufe r legt hat.«

Strafe? Wofür? Ich hatte Amar nur sagen hören, wir seien Wächter des Ordens , die dafür zu sorgen hätten , dass der Orden seine Macht nicht missbrauche. Es sei ein unliebsames Bün d nis , aber nichtsdestoweniger ein Bün d nis. Die Dinge , die ich jetzt vernahm , machten mich hellhörig.

Ich fürchtete mich, meine Meinung zu sagen , aber ich wusste , dass mir nichts anderes übrig blieb. »Ich glaube nicht , dass sie freiwillig für uns arbeiten wird.«

»Verbirg deine Absicht vor ihr. Gewinne ihr Vertrauen.« Und nach einer Pause: »Wenn nötig , mach ihr den Hof.«

Ich dachte an das selbstbewusste, eigensinnige Mädchen , dem ich auf Schritt und Tritt gefolgt war. »Sie lässt sich nicht so leicht den Hof machen.«

»Jede Frau lässt sich gerne den Hof machen. Man muss es nur richtig anstellen. Dein Bruder , Amar , hat es sehr geschickt verstanden , die Mutter des Mädchens auf unsere Seite zu zi e hen.«

Mein Bruder unter dem Mantel des Verführers. Mein Br u der mit einem Dämon im Leib. Jetzt war nicht der rechte Moment , meine beunruhigenden Träume zur Sprache zu bri n gen. Die Rakschana könnten mich für einen Dummkopf oder Feigling halten.

»Gewinne ihre Gunst. Finde den Tempel. Halte sie von j e dem anderen Zeitvertreib fern. Den Rest überlasse uns.«

»Aber …«

»Geh jetzt, Bruder Kartik«, sagte er dann , den Ehrentitel benutzend , der mir vielleicht eines Tages als vollwe r tigem Mitglied der Rakschana verliehen werden würde. »Wir we r den dich im Auge behalten.«

Meine Schergen traten auf mich zu, um mir wieder di e A u gen zu verbinden. Ich fuhr herum. »Wartet!«, rief ich. »So bald sie den Tempel gefunden hat und wir die mag i sche Kraft gewonnen haben , was wird dann aus ihr?«

Es war totenstill im Raum, ausgenommen das Flüstern der Kerzenflammen , die im leisen Luftzug flackerten. Schließlich schallte die Stimme in den Gerichtssaal he r ab.

»Dann musst du sie töten.«