36. Kapitel
Der Klang ferner Kirchenglocken weckt mich. Es ist Wei h nachtsmorgen. Das Haus ist still wie ein Le i chenhaus. Vater und Tom schlafen noch nach uns e rer langen Nacht und Großmama hat ebenfalls b e schlossen , im Bett zu bleiben. Nur die Dienstboten und ich sind wach.
Ich ziehe mich rasch und leise an und mache mich auf den Weg zum Wagenschuppen. Kartik sieht auf eine charmante Art verschlafen aus.
»Ich möchte mich für gestern Nacht entschuldigen. Und mich bei Ihnen bedanken , dass Sie ihm geholfen haben«, sage ich.
»Jeder braucht bisweilen Hilfe«, sagt er.
»Außer Ihnen.«
Statt einer Antwort überreicht er mir ein notdürftig in einen Streifen Stoff eingewickeltes Ding. »Fröhliche Weihnachten , Miss Doyle.«
Ich bin erstaunt. »Was ist das?«
»Machen Sie es auf.«
Ich schlage den Stoff auseinander und darin ist ein kleines Messer von der Länge eines Männerdaumens. Auf der Klinge ist ein winziges Zeichen eingeritzt , ein Totem , das einen vie l armigen Mann mit einem Büffelkopf da r stellt.
»Megh Sambara«, erklärt Kartik. »Die Hindus glauben , dass er vor Feinden schützt.«
»Ich habe gedacht, Sie erkennen keine anderen Bräuche außer jenen der Rakschana an.«
Kartik steckt verlegen die Hände in die Taschen und wippt auf den Absätzen seiner Stiefel. »Das Messer hat Amar g e hört.«
»Dann sollten Sie sich nicht davon trennen«, sage ich und will es ihm zurückgeben.
Kartik springt zur Seite, um der Klinge auszuweichen. »Vorsicht , es ist klein , aber scharf. Und es könnte sein , dass Sie es brauchen werden.«
Ich hasse es, hier und jetzt an meine Aufgabe erinnert zu werden. »Ich werde es behalten und bei mir tragen. Danke.«
Ich sehe, dass neben ihm noch ein zweites kleines Bündel liegt. Ich wüsste nur zu gern , ob es für Emily ist , aber ich bringe es nicht über mich zu fragen.
»Heute ist Miss Worthingtons Weihnachtsball, stimmt ’s?«, fragt Kartik und fährt sich durch sein dichtes Lockengewirr.
»Ja«, sage ich.
»Was tun Sie da auf diesen Bällen?«, fragt Kartik schüc h tern.
»Oh«, seufze ich. »Man lächelt viel und redet übers Wetter und wie wundervoll jeder aussieht. Es gibt einen kleinen I m biss und Erfrischungen. Und das Tanzen natü r lich.«
»Ich war noch nie auf einem Ball. Ich weiß nicht , wie da getanzt wird.«
»Für einen Mann ist es nicht so schwer. Die Frau muss le r nen , ihm zu folgen , ohne ihm auf die Füße zu treten.«
Kartik hebt seine Hand in eine Position, als würde er eine unsichtbare Partnerin halten. »So?« Er dreht sich mehrmals im Kreis.
»Ein bisschen langsamer. Ja, genau so«, sage ich.
Kartik schlägt einen affektierten Ton an. »Sagen Sie , Lady Naseweis , hatten Sie viel Besuch , seit Sie in London ang e kommen sind?«
»Oh, Lord Neunmalklug«, antworte ich im gleichen To n fall. »Es wurden so viele Karten aus den allerbesten Häusern für mich abgegeben , dass ich zwei Porzellanschüsseln herau s holen musste , um sie alle unterzubri n gen.«
»Zwei Schüsseln, sagen Sie?«
»Zwei Schüsseln.«
»Was für Unannehmlichkeiten für Sie und Ihr Geschirr«, sagt Kartik lachend. Er ist so reizend , wenn er lacht.
»Ich würde Sie so gerne einmal in schwarzem Jackett mit weißer Krawatte sehen.«
Kartik hält inne. »Glauben Sie, ich würde wie der vollend e te Gentleman aussehen?«
»Ja.«
Er verbeugt sich vor mir. »Darf ich um diesen Tanz bi t ten , Miss Doyle?«
Ich knickse. »Oh, mit dem größten Vergnügen , Lord Neunmalklug.«
»Nein«, sagt er leise. »Darf ich bitten?«
Kartik bittet mich, mit ihm zu tanzen. Ich blicke mich um. Das Haus liegt noch immer in tiefem Schlummer. Sogar die Sonne verbirgt sich hinter den grauen Wolken ihres Fede r betts. Niemand ist auf den Beinen , aber bald werden sie es sein. Mein Verstand flüstert mir eindrin g lich zu: Tu ’s nicht. Es ist unangebracht. Falsch. Was , w enn uns jemand sieht? Was ist mit Simon …
Aber meine Hand trifft die Entscheidung für mich. Durch die frühmorgendliche Kälte des Weihnachtstags kommt sie ihm entgegen und schlüpft in seine.
»Hm, Ihre , äh , Ihre andere Hand muss an meiner Taille li e gen«, sage ich und schaue auf unsere Füße hinunter.
»Hier?«, fragt er und legt seine Hand an meine Hüfte.
»Höher«, krächze ich. Seine Hand findet meine Taille. »Ja , richtig.«
»Und weiter?«
»Jetzt … jetzt tanzen wir«, sage ich. Mein Atem kommt in kleinen flachen Stößen aus meinem Mund.
Er dreht mich zuerst langsam und ungeschickt herum. Wir stehen so weit voneinander entfernt , dass eine dritte Person zwischen uns Platz hätte. Ich blicke unverwandt auf unsere Füße , die Spuren in den Sägespänen auf dem Boden hinterla s sen.
»Ich denke, es wäre leichter , wenn Sie sich nicht zurüc k lehnen würden«, sagt er.
»Aber so gehört es sich«, antworte ich.
Er zieht mich näher zu sich, viel näher , als es angeme s sen ist. Zwischen seiner Brust und meiner ist nur ein hauchdünner Zwischenraum. Ich blicke mich instinktiv um , aber es ist n i e mand zu sehen außer den Pferden. Kartiks Hand wandert von meiner Taille zu meinem Kreuz und ich schnappe nach Luft. Während ich mich drehe und drehe , seine Hand warm auf meinem Rücken , seine andere Hand meine fest umschließend , wird mir plötzlich ganz schwindlig.
»Gemma«, sagt er so , dass ich in diese herrlichen bra u nen Augen schauen muss. »Ich muss Ihnen etwas sagen …«
Nein, bitte sag es nicht. Es wird alles kaputt machen. Ich reiße mich los , presse die Hand auf meinen Magen.
»Geht es Ihnen gut?«, fragt er.
Ich lächle schwach und nicke. »Die Kälte«, sage ich. »Vie l leicht sollte ich wieder hineingehen.«
»Aber zuerst muss ich Ihnen …«
»Es ist so viel zu tun«, sage ich , ihm das Wort abschne i dend.
»Also schön«, sagt er und es klingt verletzt. »Vergessen Sie Ihr Geschenk nicht.«
Er reicht mir das Wundermesser. Unsere Hände berü h ren sich. Für einen Moment ist es , als halte die Welt den Atem an. Und dann sind seine Lippen , diese warmen , sanften Lippen , auf meinen. Es durchfährt mich , als ginge ein plötzlicher Re genschauer auf mich nieder.
Ich habe ein Gefühl im Bauch, als würden Vögel darin fla t tern. Und dann reiße ich mich los. »Bitte nicht.«
»Es ist, weil ich Inder bin , nicht wahr?«, fragt er.
»Unsinn«, sage ich. »Ich betrachte Sie gar nicht als I n der.«
Er sieht aus, als hätte er einen Faustschlag erhalten. Dann wirft er den Kopf zurück und lacht. Ich weiß nicht , was an meinen Worten so lustig sein soll. Er sieht mich mit einem so h arten Blick an , dass ich das Gefühl habe , darunter zu zerbr e chen. »Sie betrachten mich also gar nicht als Inder. Nun , das ist eine große Erleichterung.«
»Ich … so habe ich es nicht gemeint.«
»Das tut ihr Engländer nie.« Er geht in den Stall und ich folge ihm auf den Fersen.
Ich hatte mir nicht klargemacht, dass er das als Beleid i gung auffassen könnte. Zu spät erkenne ich jetzt , dass er recht hat. Im Grunde konnte ich Kartik gegenüber nur so unbefangen , so … ich selbst … sein , weil er ein Inder ist und deshalb ni e mals irgendetwas zwischen uns sein könnte. Alles , was jetzt über meine Lippen käme , wäre eine Lüge. Ich habe einen schrecklichen Schlamassel a n gerichtet.
Kartik packt seine wenigen Habseligkeiten in einen Ruc k sack.
»Wo wollen Sie hin?«
»Zu den Rakschana. Es ist Zeit für mich, meinen Platz zu behaupten. Mit meinem Training zu beginnen und in der Le h re fortzuschreiten.«
»Bitte gehen Sie nicht, Kartik. Ich will nicht , dass Sie g e hen.« Es ist das Ehrlichste , was ich bis jetzt gesagt h a be.
»Dann tut es mir leid für Sie.«
In der Stallgasse wird es lebendig. Dienstboten haben mit einem Schlag ihre Arbeit aufgenommen wie die wi n zigen mechanischen Figuren einer Spieluhr.
»Sie sollten hineingehen. Würden Sie bitte die Freundlic h keit haben , dies hier Emily von mir zu geben?«, sagt er kühl. Er reicht mir das zweite Geschenk , das gerade so weit herau s schaut , dass ich die Odyssee erkenne. »Sagen Sie ihr , es tut mir leid , dass ich ihr nicht weiter helfen kann , Lesen zu le r nen. Sie wird sich jemand anderen s u chen müssen.«
»Kartik«, beginne ich. Ich bemerke , dass das , was ich ihm vor Monaten geschenkt habe , noch an der Wand lehnt. »Wo l len Sie den Kricketschläger nicht mitne h men?«
»Kricket. Ein typisch englisches Spiel«, sagt er. »Leben Sie wohl , Miss Doyle.« Er schultert seinen Rucksack und geht , dem heraufdämmernden Morgen entgegen.