46. Kapitel
Jemand zieht die Vorhänge zu. Nun ist das Zimmer in ein dämmeriges Zwielicht getaucht. Tom und Großmama sitzen an meinem Bett. Ich h ö re noch eine andere Stimme. Die eines Arztes.
»Fieber …«, sagt er.
Es ist kein Fieber. Es ist die Magie. Ich versuche , ihnen das zu sagen , irgendetwas zu sagen , aber es geht nicht.
»Du brauchst Schlaf«, sagt Tom. Er hält meine Hand.
In der Ecke des Zimmers sehe ich die drei Mädchen wa r tend sitzen , jene lautlosen , lächelnden Geister. Ihre in dun k len Höhlen liegenden Augen erinnern mich an das Skelettg e sicht des schrecklichen Wesens auf den Klippen.
»Nein«, sage ich , aber es kommt nur ein unverständl i cher Ton heraus.
»Schhhh, schlaf«, sagt Großmama.
»Ja, schlaf«, flüstern die Mädchen in Weiß und lächeln süß. »Schlafe.«
»Hier, das wird ihr dabei helfen …« Die Stimme des Arztes ist blechern. Er holt eine braune Flasche hervor. Tom zögert. Ja , guter Tom. Aber der Doktor besteht darauf und Tom hält mir die Flasche an die Lippen. Nein! Ich darf nicht trinken.
Darf nicht versinken. Doch ich habe keine Kraft mehr , mich zu wehren. Ich drehe den Kopf weg , aber Toms Hand ist stark.
»Bitte, Gemma.«
Die Mädchen sitzen dort, die Hände im Schoß. »Ja. So süß. Trink und schlaf. Unsere Herrin ist jetzt im Mag i schen Reich. Also schlaf ein.«
»Schlaf jetzt«, fordert mich Tom aus weiter Ferne auf.
»Wir sehen uns in deinen Träumen«, sagen die Mä d chen , als mich die Droge in ihren Bann zieht.
Ich sehe die Höhlen der Seufzer, aber nicht so , wie wir sie zuvor gesehen haben. Dieser Ort ist keine Ruine , so n dern ein prächtiger Tempel. Ich gehe durch die engen Gänge. Als ich mit den Fingern über die rauen Wände streiche , erwachen die verblassten Malereien zum Leben und leuchten in allen Rot-, Blau-, Grün-, Rosa-und Orangetönen. Hier sind die wichtig s ten Orte des Mag i schen Reichs in Bildern festgehalten. Der Wald der Lic h ter. Die Quellnymphen in ihrer dunklen Tiefe. Der Ga r ten. Die Runen des Orakels , wie sie einst standen. Der goldene Horizont jenseits des Flusses , wohin unsere Se e len reisen müssen. Die Frauen des Ordens in ihren weiten Mä n teln , einander an den Händen haltend.
»Ich habe ihn gefunden«, murmle ich mit lallender Zunge.
»Schhhh«, sagt jemand. »Schlaf jetzt.«
Schlaf jetzt. Schlaf jetzt.
Die Worte wehen durch einen felsigen Gang in meinen Körper , wo sie zu Rosenblättern werden , die über meine bl o ßen Füße auf dem staubigen Boden flattern. Ich st e che mich an einem Dorn , der aus einem Mauerspalt ragt. Blutstropfen r innen von meinen Fingern in den Staub zu meinen Füßen. Dicke grüne Ranken schieben sich durch die Spalten und Ri s se. Sie winden sich blit z schnell in komplizierten Mustern um die Säulen , ähnlich den Kö r perbemalungen der Hadschin. Tiefrote Rosen entfalten ihre Knospen , öffnen sich , erblühen und u m schlingen die Säulen wie die ineinander verflochtenen Finger von Li e benden. Es ist so schön , so schön.
Jemand kommt. Ascha, die Unberührbare. Natürlich. Denn wer könnte den Tempel besser bewachen als diej e nigen , von denen niemand annimmt , dass sie auch nur eine Spur mag i sche Kraft besitzen?
Ascha legt zur Begrüßung ihre Hände aneinander und b e rührt damit ihre Stirn , während sie sich verbeugt. Ich erwidere den Gruß auf die gleiche Weise. »Was bietest du?«
Bietet Hoffnung den Unberührbaren, d enn sie brauchen Hoffnung. Lady Hope. Ich bin die Hoffnung.
Der Himmel reißt auf. Aschas Gesicht ist sorgenvoll.
»Was ist los?«
»Sie spürt dich. Wenn du bleibst, wird sie den Tempel fi n den. Du musst diesen Traum verlassen , Gebieterin. Jetzt gleich!«
»Ja, ich gehe«, sage ich. Ich versuche , der Vision zu en t kommen , aber das Schlafmittel hält mich fest. Ich kann mich nicht bewegen.
»Geh! Schnell«, sagt Ascha. »Hülle den Tempel in de i nem Kopf in Wolken. Sie wird sehen , was du siehst.«
Meine Glieder sind schwer von der Droge. So schwer. Meine Gedanken gehorchen mir nicht. Ich stolpere aus der Höhle. Hinter mir verlieren die Bilder wieder ihre Farbe , die Rosen schließen sich wieder in Knospen ein und die Ranken schlüpfen in die Spalten zurück. Als ich aus der Höhle trete , hat sich der Himmel verdunkelt. Die Räuchertöpfe senden ihre bunten Wölkchen aus wie eine Warnung. Der Rauch teilt sich. Miss Moore steht vor mir mit der armen Nell Hawkins , ihrem Opfer. »Der Tempel. Danke , Gemma.«
***
Ich schlage die Augen auf. Die Zimmerdecke, geschwärzt vom Gaslicht , kommt in Sicht. Die Vorhänge sind zugez o gen. Ich weiß nicht , welche Tageszeit ist. Ich höre Flü s tern.
»Gemma?«
»Sie hat die Augen aufgemacht. Ich hab’s gesehen.«
Felicity und Ann. Sie stürzen herbei, setzen sich neben mich aufs Bett und nehmen meine Hände.
»Gemma? Ich bin’s , Ann. Wie fühlst du dich? Wir h a ben uns solche Sorgen um dich gemacht.«
»Es hieß, du hättest Fieber , also haben sie uns natürlich nicht erlaubt zu kommen , bis ich darauf bestanden habe. Du hast drei Tage geschlafen«, sagt Felicity.
Drei Tage. Noch immer so müde.
»Sie fanden dich in der Baker Street in der Nähe von Miss Moores Wohnung. Was hast du dort gemacht?«
Miss Moore. Miss Moore ist Circe. Sie hat den Tempel g e funden. Ich habe versagt. Ich habe alles verloren. Ich drehe den Kopf zur Wand.
Ann plappert weiter. »Bei all der Aufregung hatte Lady Denby keine Gelegenheit , mit Mrs Worthington über mich zu sprechen.«
»Simon war jeden Tag hier, Gemma«, sagt Felicity. »Jeden Tag! Das muss dich glücklich machen.«
»Gemma?«, sagt Ann besorgt.
»Es ist mir egal.« Meine Stimme ist so klein und tr o cken.
»Was soll das heißen, es ist dir egal? Ich hab gedacht , du bist verrückt nach ihm. Er ist jedenfalls verrückt nach dir , das steht fest. Ist das nicht eine wunderbare Nac h richt?«, sagt Felicity.
»Ich habe den Tempel verloren.«
»Was meinst du damit?«, fragt Ann.
Es ist zu anstrengend, das zu erklären. Mein Kopf dröhnt. Ich möchte schlafen und nie mehr aufwachen. »Wir haben uns in Miss McChennmine geirrt. In allem. Miss Moore ist Ci r ce.«
Ich will sie nicht ansehen. Ich kann nicht.
»Ich habe sie ins Magische Reich gebracht. Jetzt hat sie die Kraft. Es ist aus. Es tut mir leid.«
»Keine Magie mehr?«, fragt Ann.
Ich schüttle den Kopf. Das Schütteln tut weh.
»Aber was ist mit Pippa?« Felicity bricht in Tränen aus.
Ich schließe die Augen. »Ich bin so müde«, sage ich.
»Das kann nicht sein«, sagt Ann schluchzend. »Kein Mag i sches Reich mehr?«
Ich antworte nicht. Stattdessen gebe ich vor zu schl a fen , bis mir das Knarren des Bettes bedeutet , dass sie das Zi m mer verlassen. Ich liege da und starre ins Leere. Ein Lich t spalt lugt durch die geschlossenen Vorhänge. Es ist imme r hin Tag. Nicht , als ob mich das auch nur einen Deut kü m merte.
***
Am Abend trägt mich Tom ins Wohnzimmer, um mich ans Kaminfeuer zu setzen.
»Du hast einen überraschenden Besuch«, sagt er.
Mit mir auf seinen Armen stößt er die Wohnzimme r tür auf. Simon ist ohne seine Mutter gekommen. Tom bettet mich aufs Sofa und breitet eine Decke über mich. Ich sehe wahrschei n lich zum Fürchten aus , aber es macht mir nichts aus.
»Ich werde Mrs Jones beauftragen, Tee zu bringen«, sagt Tom und geht aus dem Zimmer. Obwohl er die Tür offen lässt , sind Simon und ich allein.
»Wie fühlen Sie sich?«, fragt Simon. Ich sage nichts. »Sie haben uns allen einen schönen Schreck eingejagt. Wie sind Sie in eine so fürchterliche Gegend geraten?«
Der Weihnachtsbaum ist ganz vertrocknet. Er verliert b ü schelweise Nadeln.
»Wir dachten, vielleicht wollte jemand ein Lösegeld. Vie l leicht war jener Mann , der Ihnen auf dem Bahnhof gefolgt ist , schließlich doch keine Ausgeburt Ihrer Fant a sie.«
Simon. Er schaut so bekümmert drein. Ich sollte ihm etwas Tröstliches sagen. Ich räuspere mich. Es kommt nichts. Sein Haar hat die Farbe einer stumpfen Münze.
»Ich habe etwas für Sie«, sagt er näher kommend. Er zieht eine Brosche aus seiner Manteltasche. Sie ist mit vi e len Perlen verziert und sieht ziemlich alt und kostbar aus.
»Die gehörte der ersten Viscountess von Denby«, sagt Si mon , das Schmuckstück zwischen seinen Fingern ha l tend. Er räuspert sich zweimal. »Die Brosche ist über hundert Jahre alt und wurde von den Frauen meiner Familie getragen. Sie wü r de an meine Schwester gehen , wenn ich eine Schwester hätte. Das ist nicht der Fall , aber das wissen Sie ja.« Er räuspert sich wieder.
Er steckt die Brosche an den Spitzenstoff meiner Nachtj a cke. Vage begreife ich , dass ich jetzt sein Eheve r sprechen trage. Ich begreife , dass sich durch diese kleine Geste die Dinge grundlegend geändert haben.
»Miss Doyle, Gemma. Darf ich so frei sein?« Er gibt mir einen keuschen Kuss , ganz anders als der Kuss in der Bal l nacht.
Tom kommt mit Mrs Jones und dem Tee zurück. Die Mä n ner nehmen Platz und unterhalten sich aufgeräumt , während ich fortfahre , die Tannennadeln anzustarren , die auf den Bo den rieseln. Ich sinke immer tiefer ins Sofa. Das Gewicht der Brosche zieht mich hinunter.
***
»Ich habe mir gedacht, wir statten heute Bethlehem e i nen Besuch ab«, verkündet Tom beim Mittagessen.
»Warum?«, frage ich.
»Du hast tagelang in deinem Nachthemd gesteckt. Es wü r de dir guttun herauszukommen. Und ich dachte , vielleicht wird sich am Zustand von Miss Hawkins etwas ändern , wenn du sie besuchst.«
Nichts wird sich an ihrem Zustand ändern. Ein Teil von ihr ist für immer im Magischen Reich gefangen.
»Wie bitte?«, fragt Tom.
***
Schließlich gebe ich nach und fahre mit Tom. Wir haben wi e der einen neuen Kutscher , denn Jackson ist ve r schwunden. Ich kann nicht behaupten , dass ich über diesen Umstand übe r rascht bin.
»Großmama sagt, Ann Bradshaw sei nicht mit dem Herzog von Chesterfield verwandt«, sagt Tom , sobald wir unterwegs sind. »Sie sagt auch , Miss Bradshaw sei in Ohnmacht gefa l len , als sie von diesen Anschuldigungen erfahren habe.« Als ich das weder leugne noch bestätige , fährt er fort. »Ich begre i fe nicht , wie so etwas möglich ist. Miss Bradshaw ist eine so liebenswürdige Person. Es passt nicht zu ihr , jemanden hinters Licht zu führen. Allein die Tatsache , dass sie in Ohnmacht gefallen ist , beweist , dass sie einen zu lauteren Charakter hat , um so etwas auch nur in Erwägung zu ziehen.«
»Menschen sind nicht immer so, wie wir sie haben möc h ten«, murmle ich.
»Verzeihung?«, sagt Tom.
»Nichts«, sage ich.
Wach auf, Tom. Väter können ihre Kinder mit Absicht ve r letzen. Sie können einer Sucht verfallen sein und zu schwach sein , um von ihren Lastern zu lassen , auch wenn sie noch so sehr darunter leiden. Mütter können einen durch Missachtung unsichtbar werden lassen. Sie können einen mit ihrer Able h nung , ihrem fehlenden Verständnis zerbrechen. Freunde kö n nen einen hintergehen. Me n schen lügen. Wir leben in einer kalten , grausamen Welt. Ich kann es Nell Hawkins nicht ve r argen , dass sie sich daraus in den Wahnsinn geflüchtet hat.
Die Gänge von Bethlehem wirken jetzt fast beruh i gend auf mich. Mrs Sommers sitzt am Klavier und klimpert eine Me lodie voller falscher Töne. In einer Ecke hat sich ein Handa r beitskreis versammelt. Die Frauen widmen sich mit Feuere i fer ihrer Stickerei , als würden sie mit jedem sorgfältigen Stich ihrer Erlösung näher ko m men.
Ich werde in Nells Zimmer gebracht. Sie liegt auf i h rem Bett , mit offenen Augen , doch ihr Blick sieht nichts.
»Hallo, Nell«, sage ich. Im Raum ist es still. »Könntest du uns bitte allein lassen«, sage ich zu Tom.
»Was? Ach so, ja , sicher.« Tom geht.
Ich nehme Nells Hände in meine. Sie sind so klein und kalt.
»Es tut mir leid, Nell«, sage ich. Meine Entschuldigung kommt wie ein Schluchzen heraus. »Es tut mir leid.«
Nells Hände packen meine plötzlich ganz fest. Mit dem letzten Rest ihrer Kraft kämpft sie gegen irgende t was an. Wir sind verbunden und in meinem Kopf kann ich sie sprechen hören.
»Sie … kann sie nicht … binden«, flüstert sie. »Es … gibt noch immer … Hoffnung.«
Ihre Muskeln entspannen sich. Ihre Hände entgleiten mir. »Gemma?«, fragt Tom , als ich aus Nells Zimmer stürze und Hals über Kopf zur Kutsche laufe. »Gemma! Gemma , wo willst du hin?«
***
Es ist Viertel nach fünf, als ich eine Droschke ergattere. Mit etwas Glück schaffe ich es bis zum Bahnhof Viktoria , bevor Ann und Felicity den Fünf-Uhr-vierzig-Zug nach Spence besteigen. Aber das Glück ist mir nicht hold. Die Straßen sind verstopft , überfüllt mit Menschen und Fah r zeugen aller Art. Es ist die falsche Tageszeit , wenn man es eilig hat.
Die Turmuhr des Big Ben schlägt die halbe Stunde. Ich strecke meinen Kopf aus dem Droschkenfenster. Vor uns dehnt sich ein Meer von Pferden , Wagen , Droschken , Ku t schen und Omnibussen. Wir sind ungefähr eine Vie r telmeile vom Bahnhof entfernt und stecken hof f nungslos fest.
Ich rufe dem Kutscher zu: »Bitte, ich möchte hier ausste i gen.«
Zwischen schnaubenden Pferden haste ich über die Straße zum Gehsteig. Es ist nicht mehr weit , aber ich bin von den Tagen im Bett sehr geschwächt. Als ich den Bahnhof erreiche , muss ich mich an die Wand lehnen , um nicht ohnmächtig zu werden.
Vierzig Minuten nach fünf Uhr. Keine Zeit zum Au s ruhen. Der Bahnsteig wimmelt von Menschen. In diesem Gewühl f inde ich sie nie. Ich entdecke eine leere Ze i tungskiste , und ohne mich um die missbilligenden Blicke von Vorübergehe n den zu kümmern , steige ich hinauf , um die Menge zu überbl i cken. Endlich erspähe ich sie. Sie stehen mit Franny dort dr ü ben auf dem Bahnsteig. Die Worthingtons haben sich nicht einmal die Mühe gemacht , ihre Tochter zu begleiten , ihr einen Abschied s kuss zu geben und die eine oder andere Träne zu vergi e ßen.
»Ann! Felicity!«, rufe ich. Noch ein paar schwarze Punkte mehr für mein undamenhaftes Benehmen. Ich humple zu i h nen hinüber.
»Gemma, was macht du denn hier? Ich hab gedacht , du reist erst in ein paar Tagen nach Spence ab«, sagt Fel i city. Sie trägt ein elegantes Reisekostüm in einem schmeichelnden malvenfarbenen Ton.
»Miss Moore hat die Magie noch nicht an sich ge bracht«, erkläre ich atemlos. »Es ist ihr nicht gelungen , sie zu binden.«
»Woher weißt du das?«, fragt Felicity.
»Nell hat es mir gesagt. Ihre eigene magische Kraft reicht offenbar nicht aus. Sie braucht mich dazu.«
»Was sollen wir tun?«, fragt Ann.
Eine Pfeife schrillt. Der Zug nach Spence steht in eine Dampfwolke gehüllt abfahrbereit auf dem Gleis. Der Schaf f ner fordert die Passagiere auf einzusteigen.
»Wir müssen ins Magische Reich«, sage ich.
Ich sehe Jackson und Fowlson in der Menge. Auch sie s e hen uns. Sie kommen direkt auf uns zu.
»Wir haben Gesellschaft«, sage ich.
Felicity folgt meinem Blick. »Die beiden?«
»Rakschana«, sage ich. »Sie werden versuchen , uns aufz u halten , alles an sich zu reißen.«
»Dann hängen wir sie ab«, sagt Felicity und springt in den Zug.