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Es blieb lange still. Hannah war dankbar, dass Wintar kein Gesprächspausenfüller war, sondern das Schweigen ganz selbstverständlich aushielt. Der Junge war ihr nahegegangen. Wie verletzt und stark zugleich er war, keine sechzehn Jahre alt … Schließlich streifte sie die eindringliche Stimmung ab, die Marek hinterlassen hatte, und bat Lone, nachzuforschen, ob Bleichert tatsächlich in Mareks Familie tätig geworden war, und ihr die Akte zu besorgen, sollte sich die Annahme bestätigen. Das wäre für sich genommen zunächst nichts als ein merkwürdiger Zufall, der nichtsdestotrotz notiert gehörte.
Sie wandte Wintar das Gesicht zu, der sie mit aufmerksamem Blick betrachtete. »Danke, Kollege«, sagte sie schlicht. Tiefblaue, nachdenkliche Augen.
Er nickte. »Das haben Sie richtig klasse gemacht. Ich hätte nicht gedacht, dass wir ihn zu einer Aussage bewegen können, was immer die jetzt wert sein mag.«
»Viel, wenn auch nicht unbedingt auf den ersten Blick. Sie hilft uns, Verknüpfungen zu entdecken und zu vergleichen, die Suche nach den Verbindungen, die losen Enden eines Motivs … das Übliche. Kommen Sie den Jungs auf der Straße sehr nahe?«
»Manchmal und mit Sicherheit häufiger, als sie selbst es wahrnehmen oder wahrhaben möchten. Die meisten gehen ihren Weg, seit sie zwölf, dreizehn, vierzehn sind, und sie bilden ihre eigenen Familiengefüge mit strengen Regeln und Ritualen. Viele kommen unter die Räder, manche können sich aus kriminellen Zusammenhängen befreien, manche gehen darin unter.«
Hannah musterte den großgewachsenen breitschultrigen Kollegen interessiert. »Kein einfacher Job, oder?«
»Polizeiarbeit ist wohl in nahezu keinem Bereich besonders einfach. Ich schätze meine Arbeit als Streetworker.« Er wandte den Blick Richtung Kotti. »Ist Ihr Begleiter so etwas wie ein ausgebildeter Therapiehund?«
»Nein, er ist ein Naturtalent, würde ich behaupten, denn er weiß, wie er Menschen erreicht und innerlich bewegen kann. Wer ihn mag, ist wie verzaubert.« Sie lachte.
»Er passt zu Ihnen.«
»Oh … Danke für die Blumen.« Ich bin verlegen, fuhr es ihr durch den Kopf, unglaublich. Der Mann hat Charme.
»Trinken wir in der Kantine noch einen Kaffee zusammen?«
»Gerne. Ich muss ohnehin noch hierbleiben. Es wird mal wieder eine lange Nacht.«
»Wenn das kein Argument ist.« Er lächelte.
Eigentlich müsste der Stick für emsige Betriebsamkeit gesorgt haben. Hannah verbrachte den ganzen Tag bis in die Abendstunden im Präsidium und unternahm lediglich zwischendurch einen Ausflug in die JVA. Ihren jungen ungestümen Kollegen bekam er zufällig zu Gesicht, als er sich nach ihrer Rückkehr ins LKA entschied, der Gottlieb-Dunkel-Straße einen Besuch abzustatten – er und ein zweiter Mann, sehr wahrscheinlich auch ein Polizist, behielten ganz offensichtlich das Lagerhaus im Auge. Na bitte. Der Hinweis hatte also gefruchtet.
Sven hielt große Distanz. Da der GPS-Tracker keine Bewegung anzeigte, entschied er sich, an dem Mann dranzubleiben – wie hatte sie ihn im Laufe der energischen Auseinandersetzung vor dem Club genannt? Ja: Springer. Eine halbe Stunden später kehrten die beiden Beamten unverrichteter Dinge ins LKA zurück, und Sven nahm wieder seinen Beobachtungsposten ein. Es war spät, als plötzlich Bewegung in die Sache geriet. Ein Taxi hielt vor dem mittlerweile erleuchteten Eingang, und ein Mann stieg zu, den Sven durch sein Fernglas erst beim zweiten Hinsehen als Hannahs Kollegen identifizierte. Springer sah völlig anders aus – Frisur, Anzug, aber die Gestik war unverkennbar: lebhaft, dynamisch. Sven lächelte. Es ging doch nichts über eine gelungene Maskerade. Fast wäre ich darauf reingefallen. Fast.
Der Club war ähnlich gut besucht wie am Vortag, und auf der Bühne bewegte sich ein erstes Paar – zwei Frauen. Lass mich raten, dachte Mark, gleich kommt ein Kerl dazu, der euch erst mal zeigt … und so weiter und so fort. Er wischte die Bilder beiseite und ließ die letzte Besprechung Revue passieren. Hannah hatte angeregt, dass er die Namen von Bleichert und Berg fallenließ, wenn es passte. Warum nicht. Doch dazu müsste erst mal die Lederfrau auftauchen. Zur vereinbarten Zeit zwischen zehn und elf war sie nirgendwo zu entdecken. Der Kollege, der sie observierte, hatte offenbar den Anschluss verloren, teilte ihm Tom per Funk mit. Na großartig, dachte Mark und bestellte ein Tonic.
Die Lederfrau trudelte kurz nach Mitternacht ein. »Na, Kleiner, wartest du schon lange auf mich?«
Er grinste. »Ich war pünktlich, wenn du das meinst. Aber hier gab es einiges zu sehen, das mir das Warten leichtgemacht hat.«
»Wie schön für dich.« Sie warf ihm plötzlich einen scharfen Blick zu. »Und? Immer noch interessiert?«
»Und ob!«
Sie drehte sich zur Bar um und bestellte einen Drink. »Ist nicht so einfach«, meinte sie im Umdrehen. »Schwieriges Terrain, um genau zu sein.«
»Kein Kinderspiel, was?« Er lachte dreckig.
»So ähnlich. Wie heißt dein Kumpel? Du weißt schon – der, der dir den heißen Tipp gegeben hat.«
Mark nippte an seinem Drink und zog die Brauen zusammen. »Der will natürlich, dass ich seinen Namen da raushalte.«
Die Lederfrau griff nach ihrem Glas. »Solche Nummern sind Vertrauenssache – ist doch logisch, oder? Also?«
»Du bist aber ganz schön humorlos heute Abend.«
»Na schön.« Mark seufzte. »Mein Kumpel hat über seinen Anwalt einen Kontakt herstellen können. Hört sich schräg an, ist aber so. Der Advokat heißt …« Er beugte sich vor. »Bleichert, Robert Bleichert. Wenn ich es richtig verstanden habe, ist der häufiger für den Chef tätig und hat dann jeweils Freispiele.« Mark lachte. »Kein schlechter Deal. Allerdings scheint Bleichert verreist zu sein – ich erreiche den einfach nicht.«
Die Lederfrau sah ihn schweigend an.
»Kommt dir der Name bekannt vor?«
»Möglich, ja. Ich werde das so weitergeben.«
»Ach? Und was heißt das jetzt genau?«
»Das wird geprüft, heißt das.«
»Mann, ich bin doch nicht ewig in der Stadt! Mach doch nicht so ein Geschiss!«
»Morgen, Kleiner – komm morgen wieder, kurz nach elf, und bring Geld mit.« Damit verschwand sie im Gedränge vor der Bühne.
Mark wartete ein paar Minuten, gab die Info dann ans Team weiter und machte sich auf den Heimweg. Den Umweg übers Hotel sparte er sich diesmal.
Es war wenig los, als er den Herrfurthplatz auf der Suche nach einem Parkplatz umrundete. Schließlich quetschte er sich zwischen einen Smart und einen alten VW-Transporter. Er stieg gähnend aus und reckte sich. Morgen weckt mich niemand, dachte er und nahm sich fest vor, das Diensthandy auf lautlos zu stellen. Auf der anderen Straßenseite führte ein alter Mann seinen Hund an einen Baum und ermunterte ihn mit schmeichelnden Worten, sich zu erleichtern, bevor er ihn hochhob und in einem Hinterhof verschwand.
Mark schloss ab, drehte sich um und prallte zurück. Sie waren zu dritt – schwarze Kleidung, Strumpfmasken –, zwei waren groß und kräftig, der dritte war deutlich kleiner, dafür wendiger. Bevor er auch nur einatmen konnte, hatte ihn einer gepackt und seine Arme auf den Rücken gedreht, während die beiden anderen abwechselnd auf ihn einschlugen. Er hatte nicht die geringste Chance, sich aus dem Haltegriff zu befreien, und die Schläge und Tritte waren gezielt, effektiv und schmerzhaft: Gesicht, Magen, Hoden, Nieren. Kurz bevor seine Augen endgültig zuschwollen und er die Besinnung zu verlieren drohte, tauchte plötzlich ein vierter Mann wie ein Schatten auf. Im weiteren Handgemenge sackte Mark zu Boden. Ein unterdrückter Schrei, jemand gurgelte halblaut, Stolpern, dann entfernten sich Schritte. Ein Motor heulte auf, ein Wagen schoss vorbei. Mark ließ den Kopf sinken und griff in etwas Feuchtes. Wasser? Urin? Blut … viel Blut. Ich sterbe, dachte er. So schnell kann es gehen.
ENDE FOLGE 2
SO GEHT ES WEITER …