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Berg traute sich fast zwei Tage nicht aus dem Haus. Er bandagierte seinen malträtierten Finger, meldete sich krank, starrte stundenlang die Wand an und zerbrach sich den Kopf über der Frage nach den Hintergründen für den Besuch dieses seltsamen Typen; zwischendurch lugte er durch den Türspion und behielt mit einem Fernglas die Straße im Auge. Sollte er schon wieder reingelegt worden sein? Aber der Typ hatte kein Geld gewollt, sondern Antworten auf seine Fragen. Und was würde er mit ihnen anfangen? Vielleicht hatte er das Gespräch aufgezeichnet, und das dicke Ende würde noch kommen. Aber woher wusste er von Berg und seinem speziellen Interesse? In der Netz-Community waren alle anonym unterwegs. Niemand kannte seine Identität – außer Sam, dessen Vertrauten und zugleich Bergs Kontaktmann Goran sowie Eva. Angeblich, aber das musste ja nicht zutreffen. Was war zum Beispiel mit Siri, der immer den Chauffeur machte? Vielleicht wusste er mehr, als Berg ahnte. Und womöglich kursierte das Video immer noch, jemand könnte es verbreitet haben und 

Am Donnerstagabend fuhr er den PC hoch und machte sich auf die Suche nach entsprechenden Warnungen im Netz. Zwischenzeitlich fiel ihm siedendheiß ein, dass es völlig zweitrangig war, wer warum ein Interesse an ihm entwickelt hatte – er musste jede Spur beseitigen, die in den Club und zu Eva führte und sein Interesse belegte. Er löschte alle verdächtigen Mails, Filme, Fotos und dachte sogar daran, den Papierkorb endgültig zu leeren.

Freitagmittag kam er schließlich auf die Idee, Goran zu informieren. Er schickte ihm eine Mail mit der schlichten Aufforderung, dass er mal anrufen möge. Das geschah etwa drei Stunden später.

»Was willst du denn schon wieder? Du hast dich doch erst vor ein paar Tagen ausgetobt.«

»Ich muss mit Sam sprechen.«

»Vergiss es. Der hat was anderes zu tun, als mit dir zu plaudern.«

»Ich würde es nur zu gerne vergessen.«

»Was meinst du damit?«

»Das erzähle ich Sam.«

»Hör zu …«

»Nein, sag Sam, dass ich Besuch hatte, ziemlich unerfreulichen Besuch, und nur mit ihm darüber rede.« Damit legte Berg auf. Das klang nach ziemlich großer Klappe, aber es war die einzige Möglichkeit, so etwas wie einen kleinen Alarm auszulösen. Wenn sie darauf nicht reagierten, war das nicht mehr sein Problem.

Goran meldete sich am frühen Abend und nannte ihm die Adresse eines Lokals am Potsdamer Platz. »Fahr öffentlich«, sagte er abschließend und legte auf.

Berg schlich mit weichen Knien aus dem Haus. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann ihm das letzte Mal die Angst derart den Hals zugeschnürt hatte. Er wurde erst ruhiger, als er in der S-Bahn saß und vom üblichen Freitagabendrummel eingelullt wurde – Teenager auf dem Weg ins lange Wochenende, ein singender Obdachloser, der seine Zeitung loswerden wollte, Touristen, Event-Sucher, dazwischen müde Feierabendgesichter und ein humorloser Fahrkartenkontrolleur mit verschwitzten Händen.

Sam wartete im Dunkin’ Donuts am Sony Center. Er saß an einem kleinen Tisch am Ende des schmalen Raums vor einem Karton mit einer Auswahl schreiend bunter Kuchen und winkte Berg lässig heran.

»Setz dich! Magst du ein Donut?« Er hielt ihm den Karton unter die Nase, aber Berg winkte ab. Allein der Geruch widerte ihn an. Wie konnte man nur einen solchen Scheiß in sich hineinstopfen?

»Dann nicht, aber du weißt nicht, was du verpasst.«

Doch, dachte Berg. Und ich bin froh drum.

Sam biss herzhaft ab, kaute eine Weile und behielt Berg im Auge. »Was ist mit deiner Hand passiert?«

»Der Finger ist gebrochen.«

»Aha. Und wie ist das passiert?«

»Das war der Besucher.«

»Aha. Wie unfreundlich …« Sam kniff die Augen zusammen. »Lassen wir die Plaudereien. Du erzählst mir jetzt in allen Einzelheiten, was passiert ist, klar?«

»Natürlich.«

Sam hörte sich die Story mit ungerührter Miene an, stellte zwei, drei Zwischenfragen und atmete lediglich scharf ein, als Berg nach einigem Herumdrucksen schließlich zugab, dass er zwei Tage hatte verstreichen lassen, bevor er aktiv geworden war.

»Zwei Tage?«, flüsterte Sam. »Wie bescheuert bist du eigentlich? Nein, lass mal, ich ziehe die Frage zurück.«

»Ich weiß doch gar nicht, aus welcher Ecke der Wind weht«, erklärte Berg mit hoher Stimme. »Und ich war völlig von der Rolle. Ich hab mich nicht aus dem Haus getraut und 

»Mittwochabend ist der Kerl also aufgetaucht …« Sam hob die Hand, als Berg erneut zum Sprechen ansetzen wollte. »Halt die Klappe, ich muss nachdenken. Er wusste also, dass du am Abend vorher deine Freundin besucht hast …« Sam schüttelte den Kopf. »Woher hatte er die Info?« Er warf Berg einen Blick zu, der ihm den Angstschweiß auf die Stirn trieb.

»Keine Ahnung! Niemand weiß davon!«, beeilte er sich zu versichern. »Ich schwöre es!«

»Tauschst du dich manchmal mit anderen Typen deines Kalibers aus? In irgendwelchen Chats zum Beispiel?«

»Nun …«

»Antworte!«

»Ja, manchmal, aber ich …«

»Vollidiot!«

»Niemand weiß von ihr, darauf kannst du dich verlassen.«

»Ich kann mich auf gar nichts verlassen«, zischte Sam. Er starrte eine Weile zum Fenster hinaus. »Hast du irgendwelchen Schweinkram auf deinem PC?«

»Habe ich längst entsorgt.«

»Besser, du machst ihn komplett platt.«

»Aber …«

Sam starrte ihn finster an.

Berg nickte beflissen. »Okay, okay.«

»Außerdem wird es in nächster Zeit keinerlei Kontakte geben, ist das klar?«

»Ja.«

»Weder mit uns noch sonst wo in der Szene. Hab ich mich deutlich genug ausgedrückt?«

»Ja, natürlich.«

Verschwinde.«

»Häh?««

»Hörst du schwer? Mach dich vom Acker.«

Die Unterredung hatte nur wenige Minuten gedauert. Als Berg nach Hause kam, fühlte er sich erschöpft wie nach einem langen Arbeitstag. Sam hätte ruhig ein bisschen freundlicher zu mir sein können, überlegte er später, während er sich zwei Buletten briet. Fast hatte er den Eindruck, dass Sam ihn verachtete. Berg schüttelte den Kopf. Ausgerechnet er, der all diese Mädchen für alles Mögliche zur Verfügung stellte, blickte auf ihn herab, der doch nichts anderes tat, als das vielfältige Angebot zu nutzen. Und die Sache mit der Festplatte … na ja, man konnte es auch übertreiben.

Katrin Bleichert wirkte bei ihrem Eintreffen im LKA immer noch so perplex, wie Lusche es Hannah angekündigt hatte. »Die hat mit allem gerechnet, nur nicht mit uns«, hatte er vorab telefonisch berichtet. »Und die Neuigkeit von dem Video hat sie völlig aus dem Tritt gebracht. Ich habe die Gelegenheit genutzt und gleich mal zwei Techniker in Bleicherts Arbeitszimmer gesetzt, und Mark ist auch mit von der Partie.«

»Das hat sie zugelassen?«

»Ja. Ich habe ihr gesagt, dass der Beschluss lediglich Formsache sei, weil der Wind nun aus allen möglichen Ecken weht. Und die Hilt wisse schon Bescheid und kümmere sich darum.«

»Sehr gut. Wo ist der Sohn?«

»Den hat sie bei einer Freundin untergebracht.«

»Gut, bis gleich.«

Bleichert grüßte nur flüchtig; ihr Blick huschte zu dem im Vernehmungszimmer bereitstehenden Laptop, bevor er kurz Kotti streifte. Sie setzte sich und legte die Hände auf den Tisch.

»Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten, Frau Bleichert?«

»Nein. Danke.« Sie hob das Kinn. »Was genau hat es mit diesem Video auf sich?« Ihr Ton war energisch, fast schroff. »Ihr Kollege meinte, es sei so hässlich, dass eine umfangreiche Durchsuchung des Arbeitszimmers und aller persönlichen Sachen meines Mannes dringend erforderlich sei. Dabei ist das doch vor Wochen schon geschehen. In der Zwischenzeit hat sich dort nichts verändert, logischerweise. Ich verstehe einfach nicht, was das soll.«

»Die Ausgangssituation hat sich grundlegend geändert. Vor Wochen wusste niemand, worauf wir unseren Fokus richten müssen. Dementsprechend …«

»Und das wissen Sie jetzt?«

»Er hat sich deutlich verengt.«

»Aufgrund dieses Videos?«

»Ich denke schon.«

»Sie machen es ziemlich spannend.«

Hannah beugte sich nach vorne. »Frau Bleichert, ich muss Sie darauf aufmerksam machen, dass Sie selbstverständlich einen Anwalt hinzuziehen können.«

»Das wird nicht nötig sein.«

Vielleicht doch, aber das werde ich dir nicht auf die Nase binden. »Unter Umständen ändern Sie Ihre Meinung noch. Das steht Ihnen natürlich frei …«

Bleichert atmete laut aus. »Nun rücken Sie endlich mit der Sprache heraus!«

»Ihr Mann ist vor ungefähr zwei Jahren gefilmt worden, als er ein junges Mädchen brutal vergewaltigte.«

Bleichert versteinerte.

»Sie erinnern sich, dass wir über die Beratertätigkeit Ihres Mannes im Rotlichtmilieu sprachen? Er wurde für einen Clubbesitzer tätig, der im Verdacht stand, minderjährige Mädchen zur Prostitution zu zwingen.«

Ein kaum wahrnehmbares Nicken.

»Genauer gesagt, ergaben sich aufgrund anonymer Hinweise Anhaltspunkte, dass diese jungen Mädchen für grausame Gewaltszenarien missbraucht wurden. Wir gehen inzwischen davon aus, dass Ihr Mann selbst einer dieser speziellen Freier war und auch aus diesem Grund höchst engagiert und natürlich im Hintergrund agierend dafür sorgte, dass nicht weiter ermittelt wurde.«

Bleichert ließ sich in die Lehne zurücksinken. Sie rang um Haltung.

»Eines der Mädchen ist nach wie vor verschwunden, das andere lebt inzwischen nicht mehr. Die Polizei fand ihre Leiche gestern früh, bei der Wohnungsdurchsuchung stießen wir auf einen USB-Stick mit dem gerade erwähnten Film.«

»Ich kann das kaum glauben …« Bleichert hob rasch eine Hand, als Hannah Anstalten machte, die Aufzeichnung abzuspielen. »Nein, lassen Sie das! Ich werde mir das auf keinen Fall ansehen.«

»Ist Ihr Mann erpresst worden?«

»Nein.« Sie schüttelte den Kopf.

»Lebte Ihr Mann wiederholt Gewaltneigungen aus? Sind Sie Opfer gewesen?«

»Nein.« Sie zwinkerte.

Du lügst, dachte Hannah. »Frau Bleichert, Sie müssen die Karten auf den Tisch legen. Wir können eine rechtsmedizinische Untersuchung veranlassen, die Aufschluss darüber geben würde, ob Sie Gewalt erfahren mussten – auch wenn das bereits einige Zeit zurückliegt.«

Bleichert starrte sie entsetzt an. »Was für ein Quatsch! Er hat mir nichts getan.«

»Es wäre der richtige Augenblick …«

»Nein.«

»Wir werden mit seiner Exfrau sprechen. Möglicherweise ist die Ehe aufgrund der Gewalttätigkeit Ihres Mannes gescheitert. Wenn sich ein Muster wiederholt …«

»Unsinn – es gibt kein Muster«, fuhr Bleichert hektisch dazwischen. »Sie hatte einen anderen, die Ehe wurde geschieden, so einfach ist das.«

»Sagt wer?«

Bleichert winkte ab. »Vergessen Sie das einfach. Er hat mir nie etwas getan.«

Die Scham, dachte Hannah, immer wieder ist es die Scham – vor anderen, vor sich selbst. »Wir werden mit allen sprechen, die zum Umfeld Ihrer Familie gezählt werden können. Irgendwem wird etwas aufgefallen sein, selbst wenn Sie …«

»Was genau wollen Sie eigentlich von mir?« Bleichert hob die Hände. »Mein Mann hat mich nicht vergewaltigt, ich wusste nicht, dass er … Er ist verschwunden, und ich weiß genauso wenig wie Sie, was passiert ist!«

Hannah musterte sie abwartend. »Ich habe den Eindruck, dass Sie sehr wohl etwas wissen oder längst Ihre Schlussfolgerungen gezogen haben, und das ist nur eine Möglichkeit, die harmlosere, um genau zu sein.«

»Tatsächlich? Und wie lautet die zweite, die weniger harmlose?«

»Sie wirken alles andere als schockiert, was das Verschwinden Ihres Mannes angeht. Ist Ihnen eigentlich klar, dass Sie ein starkes Motiv haben?«

»Ich habe kein Motiv, meine innersten Gefühle und Ängste gehen niemanden etwas an, und mein Alibi ist mehrfach geprüft worden, wie Sie ja wohl wissen.«

Das stimmte, bedeutete aber unter Umständen gar nichts, dachte Hannah. Du bist schlau und hast genug Geld, jemanden zu engagieren.

»Sie könnten jemanden bezahlt haben.«

»Sie gucken zu viele Filme.«

»Dafür habe ich gar keine Zeit.« Hannah erhob sich abrupt. »Apropos Zeit. Wir machen eine kurze Pause. Entschuldigen Sie mich bitte für ein paar Minuten.«

»Wenn es sein muss, aber nehmen Sie bitte diesen … Hund mit.«

Kotti stand auf, würdigte Bleichert keines Blickes und schlüpfte noch vor Hannah aus der Tür.

Lusche wartete im Nebenraum, wo er die Vernehmung mitverfolgt hatte.

»Die Hausdurchsuchung soll auf die anderen Räume ausgeweitet werden«, sagte Hannah und goss sich einen Kaffee ein.

»Schon passiert.« Lusche spuckte seinen Kaugummi aus und steckte sich unmittelbar danach ein frisches in den Mund.

»Was hältst du von ihr?«

»Ich denke, sie hat was zu verbergen«, meinte Lusche in lapidarem Tonfall. »Wenn der Alte ihr was getan hat, wird sie das auf keinen Fall zugeben. Und wir haben keine Chance, solange niemand den Mund aufmacht und eine Tatbeteiligung nicht nachgewiesen werden kann. Bei der Lady beißen wir auf Granit, befürchte ich.«

»Wohl wahr.« Hannah nickte und trank einen Schluck. Sie sah Lusche abwartend an.

»Vielleicht gab’s ’ne gut funktionierende Abmachung zwischen den Eheleuten«, fuhr er fort. »Er tobt sich bei Prostituierten aus, sie hat ihre Ruhe, nach außen wirken die beiden wie ein harmonisches Paar, eine nette erfolgreiche Familie, und er hat seinen Spaß – sorry, du weißt, wie ich das meine.«

»Schon klar. Und weiter?«

»Ich schätze, sie hat tatsächlich nichts mit der Sache zu tun sie ahnt vielleicht was oder hat sogar einen handfesten Verdacht, dass er in Schwierigkeiten steckte, aber ich tippe eher auf eine interne Club-Geschichte. Er hat das Mädchen übel zugerichtet.«

»Das liegt zwei Jahre zurück«, wandte Hannah ein.

»Ich denke nicht, dass er dieses Hobby inzwischen aufgegeben hat. Vielleicht hat es irgendwem gereicht, dem die Mädchen am Herzen lagen. Das klingt fast ein bisschen zu romantisch fürs Milieu, aber ausschließen würde ich so was nicht. Unter Umständen hat er schlicht Regeln verletzt und musste dafür büßen.«

»Und wie passt der Mord an Corinna zu dieser These?«

»Vielleicht gar nicht, vielleicht spielt sie lediglich eine untergeordnete Rolle – Windhoff könnte beschlossen haben, auf seine Art reinen Tisch zu machen und das Thema ein für alle Mal zu beenden.«

Hannah atmete kraftvoll aus. »Ich möchte, dass ihr ihn auftreibt.« Sie sah auf die Uhr. »Es ist schon spät, aber ich will ihm das Video vorspielen, heute noch.«

»Wir sind längst dabei. Zwei Kollegen klappern die Clubs ab.« Lusches Handy summte leise. »Moment. Ja, was gibt’s, Mark?« Er lauschte konzentriert. »Gut. Über die Einzelheiten reden wir noch. Halt die Augen offen.«

Er kappte die Verbindung. »Mark hat schon mal eine Liste von Kontaktdaten zusammengestellt – Angehörige, Freunde, Bekannte, Kollegen und so weiter. Ein Großteil hat zwar bereits vor Wochen eine Aussage gemacht, aber Mark ist der Meinung, dass man bei einigen nachhaken sollte. Wenn klar wird, worum es hier geht, könnte die Mitteilungsbereitschaft deutlich zunehmen. Das takten wir später ein, oder?«

»Morgen früh, um genau zu sein.« Hannah stellte ihre Tasse beiseite und ging zurück in den Vernehmungsraum. Kotti folgte ihr auf dem Fuß. »Wir fangen einfach noch mal von vorne an, Frau Bleichert.«

Sie sah aus wie ein kleines verschrecktes Kind – übergroße dunkle Augen in einem bleichen Gesicht, dünne Arme, strähniges Haar. Eva? Ist sie das?

Berg hatte mehrere widerliche Filme auf seinem Rechner, dazu Fotomaterial und Mailkorrespondenz mit ähnlich kranken Typen. Sven hatte sich lediglich oberflächlich mit dem Material beschäftigt, um es zu sichten, und Dateien, Chatverläufe, Mails und Videos auf eine externe Festplatte kopiert, kaum dass der Trojaner aktiv geworden war.

Berg ist wirklich keine Leuchte, dachte er fast verwundert. Bis er nach Svens Besuch auf die Idee gekommen war, seinen Rechner aufzuräumen – noch dazu mittels einfachen Löschens, so dass jeder halbwegs intelligente PC-Nutzer die Dinger wiederherstellen konnte –, waren eine Nacht und ein ganzer Tag vergangen, und Sven hatte schon befürchtet, dass irgendwas schiefgegangen war.

Am Freitag stand er früh auf, packte zusätzlich zu seiner üblichen Ausrüstung seinen Laptop ein, um Bergs PC-Aktivitäten im Auge zu behalten, und heftete sich einige Stunden an ihre Fersen; schließlich fuhr er in die Gottlieb-Dunkel-Straße. Berg hatte eine Mail geschrieben, die vermuten ließ, dass er auf die Idee gekommen war, Alarm zu schlagen. Wenn Sven nicht alles täuschte, würden sie das Mädchen irgendwann wegschaffen. Das Schild am Eingangstor wies auf eine Firma hin, die Lagerraum in allen Größen vermietete, doch es herrschte kein Publikumsverkehr.

Als der Lieferwagen vorfuhr, war es bereits dunkel. Sven duckte sich tief in den Fahrersitz. Sie würden mindestens zu zweit sein und vorsichtig agieren, schätzte er. Sie würden Eva einladen, alle Spuren auf professionelle Weise beseitigen und anschließend das Mädchen entsorgen, auch professionell. Wer bist du, Eva? Ein vermisstes Mädchen? Eines der Wesen, nach denen sie ständig mit ganzer Hingabe sucht, seitdem ihre Schwester vor über zwanzig Jahren spurlos verschwand? Spurlos gibt es nicht, fügte er stumm hinzu. Das weißt du auch, Hannah. Man braucht nur in Erfahrung zu bringen, wo man suchen muss. Doch davon abgesehen: Lohnte es sich, wegen dieser Geschichte, die womöglich nur ein Aspekt der Aufgabe darstellte, mit der sie sich beschäftigte, aus der Deckung zu kommen und eine direkte Konfrontation zu wagen? Wegen eines verschreckten, bleichen Kindes, vielfach missbraucht, unvorhersehbare Risiken zu wagen? Vielleicht ersehnt sie den Tod, aus gutem Grund. Vielleicht lebt sie schon längst nicht mehr. Oder man bringt sie schlicht an einen anderen, sicheren Ort und wartet ab, wie sich die Dinge entwickeln, weil die Kleine eine Goldgrube war. Und Hannah würde nie erfahren, was geschehen war. Hannah, die sich für jedes Detail interessierte und immer alles sehr genau wissen wollte. Ihr Name schmolz in seinem Mund.

Eine Stunde später verließ der Lieferwagen das Gelände und fuhr auf der 96 stadtauswärts Richtung Süden. Sven nahm die Verfolgung mit großem Abstand auf.