3
Sie war hundemüde. Katrin Bleichert war auch im zweiten Durchgang bei ihrer Aussage geblieben – lediglich Hannahs erneute und vehement vorgebrachte Ankündigung, dass die Beamten mit zahlreichen Menschen aus ihrem Umfeld über die neuesten Entwicklungen sprechen würden, hatte sie nun deutlich verunsichert und erschreckt, verständlicherweise. Die Leute würden sich das Maul zerreißen, sobald klar wurde, worum es ging, und sei es hinter vorgehaltener Hand. Aber das musste Bleichert wohl oder übel aushalten. Die als gesichert geltenden Tatsachen mussten zumindest angedeutet, womöglich in aller Offenheit dargelegt werden, sofern es für die Aufklärung der Fälle nötig war – in Verbindung mit der Bitte um Diskretion, doch daran hielt sich erfahrungsgemäß kaum jemand.
Sam Windhoff, den zwei Kollegen wenig später zur Vernehmung brachten, hatte sich kaum irritiert gezeigt. Er war zwar nicht ganz so locker und souverän aufgetreten wie bei ihrer ersten Begegnung, aber insgesamt hatte ihn die Nachricht über Corinna Mirbachs Tod und den Fund des Videomaterials nur mäßig aus dem Tritt gebracht. Wie Hannah es befürchtet hatte, war ihm der Hinweis auf die Sektflasche kaum ein müdes Lächeln wert gewesen. »Was hat das alles mit mir zu tun, Frau Kommissarin? Wenn Sie mich verdächtigen – nehmen Sie meine Clubs auseinander. Aber die Mühe können Sie sich sparen. Sie werden nichts finden. Und was immer Corinna und Bleichert so getrieben haben mögen – ich weiß nichts davon.«
Hannah setzte anschließend die Einsatzbesprechung für den nächsten Morgen auf acht Uhr fest und schickte das Team nach Hause. Alle brauchten ein paar Stunden Abstand und Schlaf. Mark wartete am Auto auf sie. »Nimmst du mich ein Stück mit und lässt mich an der Hermannstraße raus?«
Der junge Kollege wirkte ebenfalls erschöpft.
»Bist du zufrieden mit dem Verlauf? Im Sinne der polizeilichen Aktivitäten?«, fragte Hannah.
»Doch, ja.«
»Aber?«
Er wiegte den Kopf. »Trotz aller Betriebsamkeit: Entscheidende Schritte sind wir noch nicht weitergekommen.«
»Wir können bislang noch niemanden festnehmen, nein. Das kann ein paar Tage dauern.«
»Wir haben mehrere Verdachtsmomente in völlig unterschiedlichen Richtungen.«
»Wir werden sie einkreisen.«
»Das hoffe ich …« Er zögerte. »Im Milieu haben wir keine Chance, erst recht nicht, wenn es um spezielle Freierswünsche geht. Die halten alle dicht.«
»Das werden wir sehen.«
»Kein Chance«, beharrte er. »Dort packt niemand aus. Man müsste in die Szene einsteigen.«
Hannah warf ihm einen Seitenblick zu.
»Wenn es um junge Mädchen geht und um Gewalt kriegen wir nur verdeckt was raus.«
»Solche Einsätze sind brandgefährlich.«
»Das weiß ich doch, aber …«
»Wir reden morgen weiter, okay?«
»Na klar.« Mark stieg am Hermannplatz aus, und Hannah fuhr in nordöstlicher Richtung weiter.
Auf den nächtlichen Straßen herrschte trotz herbstlichen Nieselregens Trubel und Gedränge wie mitten am Tag. Zehn Minuten später traf sie zu Hause ein, stellte den Wagen auf dem rückwärtigen Parkplatz ab und drehte noch eine kleine Runde mit Kotti. Als sie zurückkehrte, bemerkte sie eine Gestalt am Hintereingang. Sie zögerte, ein Mann löste sich aus dem Schatten und kam direkt auf sie zu. Sie atmete langsam und tief aus. Achim.
»Du rufst nicht zurück«, sagte er leise, als er vor ihr stand. Er suchte ihren Blick und strich behutsam über ihr Haar. Vertraute Geste. »Ich vermisse dich.«
Und nun? Hannah suchte nach einem Lächeln, das sie auf ihr Gesicht zaubern könnte. Ich dich auch, schön, dass du da bist – ist es das wirklich? Sie blickte kurz zur Seite, Kotti saß neben ihr und gähnte ungeniert.
»Was ist? Komme ich ungelegen?«
»Ich stecke in einer neuen Ermittlung«, erwiderte sie.
»Du steckst immer in einer Ermittlung.« Er lächelte. »Wir könnten ein Glas Wein trinken. Du zeigst mir deine Wohnung. Und falls du Hunger hast, koche ich dir etwas.«
Nein, dachte sie. Ich will mich ausstrecken, und zwar allein, schweigen, für mich sein, mich nicht von dir verführen lassen, obwohl Sex an sich keine schlechte Idee ist; ein gutes Essen wäre auch schön, aber … Meine Wohnung, mein Leben, mein Ich für mich allein, zumindest im Moment.
»Keine Chance?«, fragte er leise. »Hätte ich erst anrufen sollen?«
»Ja. Du weißt, wie das ist, wenn …«
»Ja, ich weiß, wie das ist, wenn du immer woanders bist, um zu suchen, was auch immer. Ein andermal vielleicht?« Er sah sie an, wartete auf ihre Antwort, auf ein Zeichen, ein Lächeln, ein zärtliches Versprechen. Sie ließ die Leere zu. Er wandte sich um und ging.
Nach einer halben Stunde Fahrt landeten sie kurz nach der südlichen Stadtgrenze in einem Kaff namens Birkholz. Sven war ein ganzes Stück auf einer um diese Zeit wenig benutzten Landstraße ohne Scheinwerferlicht gefahren und hatte angehalten, kaum dass der Lieferwagen im Ort abbremste und in einen Seitenweg einbog, an dessen Ende ein freistehendes Haus zu erkennen war. Er stieg aus und schlich hinter ein Gebüsch. Das Geräusch von zuklappenden Fahrzeugtüren drang an sein Ohr, leise Stimmen. Es roch nach Stall und Dung. Er spähte durch die Zweige – im Erdgeschoss des Bauernhauses flammte Licht auf; im Hintergrund waren eine Garage und ein Schuppen zu erkennen.
Auch dieses Gelände wird wahrscheinlich gut gesichert sein, überlegte Sven, während er zum Auto zurückging. Wahrscheinlich reicht nicht. Wenn schnelles Reagieren angesichts einer riskanten Situation nötig gewesen war und hier normalerweise keine Mädchen untergebracht beziehungsweise versteckt wurden, handelte es sich vielleicht um ein ganz normales privates Anwesen. Sven duckte sich, als plötzlich Scheinwerferlicht die Zufahrt erhellte und der Motor des Lieferwagens ansprang. Einer wird zur Bewachung hierbleiben, der andere fährt zurück. Sven wartete zehn Minuten, dann packte er einen kleinen Rucksack mit der notwendigsten Ausrüstung – dunkle Strumpfmaske, Kleinwerkzeug, Skalpell und ein paar andere Kleinigkeiten.
Ich hoffe, du bist es wert, Eva, dachte er, als er langsam am Grundstück entlangging. Der Zaun war gerade mal einen Meter hoch. Das Haus lag zumindest auf der Vorderseite wieder in tiefer Dunkelheit. Lediglich einige Bodenleuchten flankierten einen Kiesweg und sorgten für dämmriges Licht. Sven schlich auf die Rückseite des Hauses, das direkt an den Wald grenzte. An eine großzügige Terrasse hinter einer bodentiefen Fensterfront schloss sich der Garten mit vereinzelten Bäumen, dichtstehendem Buschwerk und einem Pool an. Nobel, nobel. Im Wohnzimmer brannte Licht, die Gardinen waren zurückgezogen, die Terrassentür war einen Spalt geöffnet. Ein Mann wanderte mit dem Handy am Ohr durch den Raum und erstattete offensichtlich Bericht. Wo bist du, Eva?
Der rückwärtige Zaun war ein Witz, der Typ mit dem Handy schon eher ein Risiko. Er war bullig, wirkte selbst auf die Entfernung trainiert und war vermutlich bewaffnet – ihn würde man nur mit dem Überraschungsmoment und großem Schmerz überwältigen können. Sven überwand den Zaun an einer Stelle, wo zwei Bäume sehr dicht beieinanderstanden, und kroch auf allen vieren Richtung Terrasse, wo er sich hinter einer Pflanzenstaude tief auf den Boden kauerte. Der Typ telefonierte immer noch – engagiert und leise. Sven öffnete den Rucksack, streifte Handschuhe über, setzte den Schlagring auf, steckte Skalpell und Wurfmesser in die Gesäßtasche und zog sich die Maske übers Gesicht.
Ich werde nach all den Jahren zum ersten Mal mit meinen eigenen Händen und mittels purer Gewaltanwendung töten, ohne die tieferen Hintergründe zu kennen, dachte er verblüfft, ausgerechnet jetzt, nach meinem Abtauchen. Das Schicksal stellte manchmal seltsame Aufgaben bereit. Doch darüber hinaus: War es nötig? Sinnvoll? Unabänderlich im Gefüge des Geschehens und damit gerecht? Ja. Er nahm zwei Kieselsteine auf und ließ den Mann nicht aus den Augen. In dem Moment, in dem der Kerl sein Handy beiseitelegte, warf Sven den ersten Stein mit sanftem Schwung, so dass er auf dem Terrassenboden aufschlug. Das leise, aber eindringliche Klacken rief den Mann sofort auf den Plan. Er zog eine Pistole und lugte durch den Türspalt. Behutsam schob er sie ein Stück auf und starrte in die Dunkelheit. Sven warf den zweiten Stein, als er sich abwandte, weil er offensichtlich entschieden hatte, dass alles in Ordnung und ein nächtliches Geräusch im Wald völlig harmloser Natur war.
Nun trat er mit zwei Schritten auf die Terrasse und entsicherte seine Waffe. Sven spürte, dass sein Puls ruhig und gleichmäßig schlug – wie immer, wenn er eine Entscheidung getroffen hatte und die Handlung sich wie ein Film in ihm abspulte, der er Szene für Szene folgte. Er atmete tief durch, griff nach seinem Messer, beugte sich vor und schleuderte es mit einer lockeren und kraftvollen Bewegung aus dem Gelenk in Richtung der rechten Hand des Mannes. Der Wurf war nicht hundertprozentig gelungen, aber immerhin landete das Messer auf dem Unterarm, wo die Klinge etliche Zentimeter tief ins Fleisch eindrang und steckenblieb. Der Typ schrie überrascht auf und ließ seine Waffe fallen.
Sven war mit drei Schritten auf der Terrasse und setzte den Mann mit einem wuchtigen Schlag außer Gefecht, bevor der überhaupt begriff, was geschehen war. Er fesselte Hände und Füße des Mannes eilig mit Kabelbinder, verklebte dessen Mund und hastete dann durch die unteren Räume, lauschte angespannt in die Stille, bevor er zu dem Bewacher zurückkehrte und ihn ins Wohnzimmer schleifte.
Der Mann war beeindruckend hart im Nehmen, denn nach wenigen Minuten öffnete er die Augen und starrte Sven alles andere als ängstlich an.
»Wo ist die Kleine? Unten oder oben?«
Der Kerl deutete ein Kopfschütteln an.
»Es ist besser, wenn du gleich redest.«
Keine Reaktion.
»O Mann – musst du es uns tatsächlich schwermachen? Soll ich dir wirklich weh tun? Glaub mir, das willst du nicht. Ich kenne ziemlich fiese Tricks, die du dein Leben lang nicht wieder vergisst.« Garantiert nicht, denn die Uhr des Mannes lief bereits in hektischem Tempo ab, ohne dass er irgendwas daran ändern konnte. Wenn es hochkam, blieb ihm noch eine Viertelstunde.
Achselzucken. Das gehörte wohl zur Berufsehre. Freiwillig würde der ihm nicht einmal den Vornamen seiner Mutter sagen – falls er ihn kannte.
Sven brauchte zehn Minuten. Die Nadeln brachten den gewünschten Erfolg. Sie entlockten dem schwitzenden Mann den Hinweis, dass Eva in einem Zimmer im Dachgeschoss eingesperrt war und wo die Schlüssel versteckt waren. Sven vergewisserte sich eilig, dass die Angaben der Wahrheit entsprachen, bevor er zu dem Bewacher zurückkehrte. »Hab ich es dir nicht gesagt? Ich kriege jede Information.«
Achselzucken.
Sven umfasste sein Skalpell und starrte ihm zwei Sekunden in die Augen, bevor er ihm die Kehle mit einem Schnitt durchtrennte. Als er sich das Mädchen kurz darauf näher ansah, bereute er, dass er dem Typen einen vergleichsweisen schnellen Tod geschenkt hatte.
Beate Pohl war knapp vierzig, klein, drall, lebhaft, und ihr Berliner Charme trat zwischenzeitlich unbekümmert zutage. Im Gegensatz zu anderen Zeugen hatte sie überhaupt nichts dagegen einzuwenden gehabt, am Samstag einen Abstecher ins LKA zu machen, um Fragen zu den Bleicherts zu beantworten, für die sie seit einigen Jahren zweimal die Woche putzte. Hannah erhoffte sich endlich aufschlussreichere Hinweise.
Die bisherige Ausbeute der Befragungen musste eher als bescheiden eingestuft werden, und das war noch geschönt, wie Mark angemerkt hatte. Lusche hatte vier Kollegen in Zweierteams losgeschickt, um Leute abzuklappern, von denen man sich einen Hinweis zum Familien- und Eheleben der Bleicherts oder vielmehr einen Blick hinter die angeblich so intakte Kulisse erhoffte, aber die Ergebnisse waren ernüchternd. Viele waren ausschließlich bereit, quasi zwischen Tür und Angel Nichtssagendes beizusteuern, oder wiesen darauf hin, dass sie bereits alles gesagt hätten; einige wenige zierten sich zunächst, ins Präsidium zu kommen, um sich dann aber doch überreden zu lassen, was den Gehalt ihrer Aussage allerdings nicht erhöhte.
Bei dem einen oder anderen beschlich Hannah das Gefühl, dass die freundlich-oberflächliche Beschreibung der Bleicherts vorgeschoben war, aber niemand ließ sich aus der Reserve locken, obwohl der Hinweis auf Aktivitäten im Rotlichtmilieu sowie sexuelle Gewalt und die Frage nach Eheproblemen durchaus dazu geeignet waren, die Zunge zu lockern – normalerweise.
Bleichert war überaus vorsichtig, resümierte Hannah, ein Blender, dem die Leute entweder nichts Verwerfliches zutrauen oder keinesfalls nachsagen mochten. Selbst Wochen nach seinem Verschwinden. Warum auch immer. Sie nahm sich vor, nach der Befragung der Putzfrau eine Pause einzulegen und das weitere Vorgehen im Team zu besprechen.
»Sie sind der Familie sehr nahe«, leitete sie das Gespräch ein, nachdem sie Frau Pohl eine Tasse Kaffee serviert hatte. »Man bekommt so einiges mit, wenn man den Dreck der Leute wegräumt.«
»Tja …« Pohl wiegte den Kopf. »Es geht so. Ich habe genau festgelegte Aufgaben – staubsaugen, wischen, Bäder am Freitag, am Dienstag Wäsche, Garten, Einkäufe, Fenster putzen … Da bleibt, ehrlich gesagt, nicht viel Zeit, um sich mit anderen Dingen zu beschäftigen.«
»Sie kennen die Abläufe und Gewohnheiten der Familie. Besondere Ereignisse kündigen sich manchmal an, und sei es durch auf den ersten Blick nebensächlich wirkende Details.«
Pohl blies die Wangen auf. »Ja? Nun, wenn Sie damit meinen, dass ich mitbekommen habe, wie Herr Bleichert seine Koffer gepackt hat – nein, habe ich nicht. Und andere Geschichten auch nicht. Det hab ick der Polizei aber schon alles jesagt.« Sie lächelte entschuldigend.
Hannah lächelte zurück. »Die Ehe der Bleichert wird allgemein als gut beschrieben. Was sagen Sie dazu?«
Pohl zuckte mit den Achseln. »Nischt. Was soll ich denn davon mitbekommen haben? Ich bin in der Regel im Haus, wenn alle ausgeflogen sind. Ob die beiden sich gut verstanden oder ständig gezofft haben, kann ich beim besten Willen nicht sagen. Mäuschen spiele ich übrigens grundsätzlich nicht, aber das nur so nebenbei. Das sind übrigens Leute, die ihre Beziehungsgeschichten, wenn sie welche haben, nicht vor Dritten auswalzen, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Ich denke schon. Diskretion ist selbstverständlich für Sie?«
Pohl lachte laut auf. »Ja, unbedingt. Ich rede nicht darüber, wie viel die Leute trinken, wie dreckig die Unterwäsche ist, ob die tatsächlich wissen, wie man eine Klobürste benutzt oder ob ich Kondome gefunden habe, obwohl die Ehefrau die Pille nimmt …«
»Ich verstehe. Frau Pohl, ich würde gerne sehr offen mit Ihnen sprechen und verlasse mich auf Ihre Diskretion.«
»Wir haben im Rahmen einer Todesfallermittlung ein Video sichergestellt, in dem Herr Bleichert ein sehr junges Mädchen brutal vergewaltigt.«
Pohl riss die Augen auf. »Ich nehme meine Worte zurück – das klingt alles andere als gut.«
»Ich stimme Ihnen zu. Das Ganze liegt gut zwei Jahre zurück. Das Mädchen wurde sehr wahrscheinlich zur Prostitution gezwungen«, erklärte Hannah weiter. »Entsprechende Ermittlungen in verschiedenen Erotik-Clubs, die aufgrund anonymer Hinweise erfolgten, verliefen im Sande – Bleichert höchstpersönlich hat damals dafür gesorgt. Das Opfer lebt seit einigen Tagen nicht mehr, ein weiteres Mädchen, um das es seinerzeit ging, ist verschwunden.«
»Ach du Scheiße.«
»Wir gehen davon aus, dass Bleichert häufig als Freier und juristischer Berater im Rotlichtmilieu unterwegs war. Der Zusammenhang mit seinem Verschwinden drängt sich natürlich zwangsläufig auf.« Hannah unterbrach für einen Moment. Die Frau war sichtlich erschüttert. »Angesichts dieses Hintergrunds frage ich Sie nun noch einmal, Frau Pohl – welchen Eindruck hatten Sie vom Eheleben der Bleicherts?«
Die Frau überlegte lange. Dann atmete sie tief durch. »Det haut mich echt vom Hocker, det können Se globen … Nie im Leben wäre ich auf so was gekommen.« Sie schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung, wie das zusammengehen soll. Nein, mir ist nichts aufgefallen an den beiden, sofern ich die überhaupt mal gemeinsam zu Gesicht bekommen habe. Da schien alles in Butter – hört sich nach Ihren Schilderungen vielleicht absurd an, aber es war so. Der Mann, von dem Sie diese Scheußlichkeiten berichten, passt da überhaupt nicht rein. Und deren Alltag war bestens geregelt, alles ging immer seinen gewohnten Gang – er fuhr in die Kanzlei, sie ins Büro, einer von beiden nahm den Kleinen mit.«
»Apropos der Kleine. Können Sie zu dem Jungen etwas sagen?«
»Ging mit ihm auch immer alles seinen gewohnten Gang?«
»Ja, würde ich schon sagen. Nico ist auch eher ein Stiller, wie seine Mutter, ein bisschen scheu, aber ein lieber Kerl … Ich weiß beim besten Willen nicht, was ich Ihnen sonst noch erzählen könnte.«
So kommen wir einfach nicht weiter, seufzte Hannah innerlich. Der Typ hat sich perfekt getarnt. Vielleicht liebte er genau dieses perfide Rollenspiel. Außerdem wusste er, worauf er zu achten hatte, und seine Frau hat das Spiel geduldet und die Ausmaße unter Umständen höchstens geahnt oder die Augen davor verschlossen. Dass sie rein gar nichts wusste, hielt Hannah allerdings für ausgeschlossen.
»Nun gut, da kann man nichts machen«, bemerkte Hannah abschließend. »Eine Frage noch, die ich häufig in solchen Zusammenhängen stelle. Welchen Eindruck hatten Sie von Frau Bleichert unmittelbar in den Tagen nach dem Verschwinden Ihres Mannes? Können Sie sich an Besonderheiten erinnern, Dinge, die ganz anders waren als sonst? Merkwürdige Verhaltensweisen, die lange bei Ihnen nachhallten?«
»Na ja, die ganze Situation war logischerweise ungewöhnlich«, entgegnete Pohl mit leicht hochgezogenen Brauen.
»Beschreiben Sie sie einfach mal – frei weg von der Leber.«
»Frei weg von der Leber ist sozusagen mein Spezialgebiet«, Pohl lächelte kurz. »Nun, Frau Bleichert wirkte abwesend, still – konnte man ihr ja kaum verdenken. Sie ist ja noch nie so der Gefühlsmensch jewesen, aber ick würde sagen, dass sie janz schön geschockt war und durcheinander.«
Etwas Ähnliches hatte Mark berichtet – ›verhuscht‹ hatte er sie genannt.
»Wissen Sie, die Frau ist immer sehr höflich – zurückhaltend, aber höflich und auf ihre Art freundlich. An einem Morgen hat sie allerdings merkwürdig reagiert, aber okay, die Frau zeigt eben auch Nerven, wie wir alle. Beruhigt mich irgendwie.« Pohl hob die Achseln. »Dabei war es nur um so einen blöden Wisch gegangen, der im Briefkasten gelegen hatte. Die Leute lassen manchmal an den merkwürdigsten Stellen ihre Gefühle raus …«
Hannah runzelte die Stirn. »Was für ein Wisch?«
»Unwichtig …«
»Was für ein Wisch?«
Pohl blies die Wangen auf. »Ist das Ihr Ernst? Schon gut, ich ziehe die Frage zurück«, sie hob die Hände, »wie Sie meinen. Ich hab erst angenommen, das wäre so ein Reklamezettel – Werbung für Handwerkerdienste oder Ähnliches –, aber es stand nur ein einziges Wort darauf, in Großbuchstaben, das weiß ich auch noch. Ich dachte bei mir, es wäre nicht verkehrt, ihn Frau Bleichert zu zeigen. Ich meine, besser ick zeig ihr so einen Wisch überflüssigerweise, als dass ich etwas wegwerfe, das vielleicht irgendwie wichtig jewesen wäre, oder?«
»Genau.« Hannah nickte. »Ein Zettel mit einem Wort also. Und wie lautete es?«
Pohl atmete lang aus. »Keines, das ich kenne jedenfalls. Ein Fremdwort. Warten Sie – irgendwas mit Carni am Anfang … Ich konnte nicht das Geringste damit anfangen, und Bleichert hat den Zettel erst eine Weile angestarrt und ihn dann, zack-zack, zerrissen. Sie war plötzlich, ja, irgendwie wütend oder zumindest aufgebracht und hat mich aus dem Zimmer geschickt, na ja, eher rausgeschmissen, kann man fast schon sagen. So kenne ich die Frau nicht.«
Fleisch, dachte Hannah verblüfft. Wenn sie sich richtig entsann, war Carni das lateinische Wort für Fleisch. »Geht es vielleicht etwas genauer?«
»Na, Sie sind jut …«
»Bitte.«
»Tja, Carni und noch was«, grübelte Pohl. »Und der zweite Teil klang wie ein Werkzeug, eine Maschine, nein: ein Schleifgerät … ja, warten Sie, genau, jetzt habe ich es: Flex!«
»Flex?«
»Carniflex«, wiederholte Pohl triumphierend. »Das stand auf dem Zettel.«
Hannah hielt inne. Carnifex lautete die lateinische Bezeichnung für Henker, Scharfrichter, Vollstrecker. Plötzlich war sie elektrisiert. Das ist die Spur, nach der wir gesucht haben. Bleichert ist hingerichtet worden, und die – neben dem Video – einzige wichtige Spur existiert nur noch in der Erinnerung der Putzfrau.