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Robert Bleichert, Anfang fünfzig, Familienanwalt, in zweiter Ehe verheiratet, Vater eines achtjährigen Sohnes, war vor anderthalb Monaten Ende Juli spurlos verschwunden. Erste Ermittlungen hatten keine verwertbaren Anhaltspunkte zutage gefördert; seine zeitweisen Aktivitäten als Berater im Rotlichtmilieu hatten zwar zahlreiche Fragen aufgeworfen, die jedoch hauptsächlich LKA-Kommissar Mark Springer nachhaltig bewegten – als die Nachforschungen weitgehend eingestellt wurden, weil die Anzeichen für ein Verbrechen zu vage waren und sich die Aussage eines angeblichen Zeugen einer Entführung als haltlos erwiesen hatte, blieb er am Ball und erreichte schließlich die Unterstützung von BKA-Kriminalpsychologin Hannah Jakob.

Oberstaatsanwältin Gesine Hilt löste für den Bruchteil einer Sekunde den Blick aus der Akte und fasste die beiden Beamten vor ihrem Schreibtisch nacheinander ins Auge. Seltsam ungleiches Paar, dachte sie. Jakob war normalerweise überregional unterwegs, und im Mittelpunkt ihrer Tätigkeit standen vermisste Kinder und Frauen; sie galt als umsichtig, souverän und zielstrebig, bewährte sich im kollegialen Umgang mit anderen Dienststellen und bewies ein feines Händchen bei Verhören. Ihr lückenloses Gedächtnis war legendär. Bei ihrem kürzlichen Einsatz in Lübeck hatte sie, wie man munkelte, in ein Wespennest gestochen und hochbrisante Zusammenhänge aufgedeckt, was weitreichende Konsequenzen nach sich gezogen hatte. Wenn sie davon überzeugt war, dass Ermittlungsbedarf bestand, dann durfte man sich getrost darauf verlassen.

Mark Springer hingegen war ein ganz anderes Kaliber – Typ: Rabauke, teamunfähig, rotzfrech, aufbrausend, aber, so hörte man, mit Herzblut dabei und mit einem guten Riecher ausgestattet, Bauchgefühl, Intuition, wie auch immer. Die Polizei brauchte solche Leute, aber die Zusammenarbeit gestaltete sich in der Regel stressig – für alle Beteiligten. Vielleicht musste der junge Mann sich einfach nur die Hörner abstoßen – Jakob erweckte keineswegs den Eindruck, dass sie sich von ihm oder wem auch immer auf der Nase herumtanzen lassen würde.

Die Beamten hatten mehrere Befragungen durchgeführt, eine davon vor drei Tagen mit Corinna Mirbach, die zwei Jahre zuvor im Zusammenhang mit anonymen Hinweisen auf Vergewaltigungen minderjähriger Mädchen im Rotlichtmilieu neben Clubbetreiber Sam Windhoff und einem weiteren Mädchen namens Eva Grohn in den Fokus geraten war. Bleichert hatte Windhoff seinerzeit in aller Stille beraten und eine Einstellung des Verfahrens erwirkt. Erhellende Hinweise waren von der jungen Frau weder zu den damaligen noch aktuellen Geschehnissen zu erfahren. Eva Grohn, die ebenfalls erneut befragt werden sollte, galt seit einiger Zeit als verschwunden.

Am Vortag war die achtzehnjährige Corinna Mirbach in den frühen Morgenstunden tot im Volkspark Hasenheide aufgefunden worden. Bislang galt als rechtsmedizinisch gesichert, dass sie an einer Überdosis verschiedener Drogen gestorben war – ein Suizid war genauso möglich wie eine vorgetäuschte Selbsttötung. Die Ermittler gingen allerdings davon aus, dass die junge Frau im Zusammenhang mit den Nachforschungen zum Schweigen gebracht worden war. Bei der vorsorglich durchgeführten Überprüfung von Mirbachs Wohnung hatte Springer einen USB-Stick mit einer Videoaufnahme entdeckt. Der Film zeigte, wie Robert Bleichert Corinna Mirbach brutal vergewaltigte.

Gesine Hilt ließ die Akte mit dem in jeder Hinsicht unerfreulichen Vorbericht des zuständigen Staatsanwalts sinken und stützte das Kinn in die Hand. »Liegen schon Erkenntnisse dazu vor, wann dieses abscheuliche Video entstanden ist?«

»Vor ungefähr zwei Jahren«, ergriff Springer nach einem raschen Blickwechsel mit Jakob das Wort. »Corinna war gerade mal sechzehn.«

Gesine lehnte sich zurück. »Sie vermuten, dass …«

»Natürlich – das Video beweist, dass die Geschichte Hand und Fuß hatte, und nun …«

Sie hob das Kinn. »Unterbrechen Sie mich nicht«, fuhr sie ihn eisig an. Sie wusste, dass ihre Stimme Gefrierbrandqualitäten entwickeln konnte, und sie nutzte diese Fähigkeit, wo immer sie es für angemessen hielt. »Ich bin durchaus in der Lage und willens, eins und eins zusammenzuzählen, meine Gedanken anschließend zu sortieren und in ganzen Sätzen eigenständig auszuformulieren.«

»Selbstverständlich. Entschuldigung.«

»Und entschuldigen Sie sich nur, wenn Sie es auch ernst meinen. Alles andere macht es nur schlimmer.«

Jakob blickte mit tiefernstem Gesicht zur Seite, während Springer düster nickte. »Gut, verstanden.«

»Umso besser. Die damaligen Verdachtsmomente bestätigen sich also mit diesem Video, daran würde auch ich kaum zweifeln, und es ist zu befürchten, dass es weitere Opfer gibt – junge Mädchen, die für Gewaltszenarien zur Verfügung stehen müssen. Von Eva Grohn gibt es nach wie vor keine Spur und keine Idee, was passiert sein könnte?« Gesine sah Jakob an.

»Nein.«

»Schildern Sie bitte Ihre Einschätzung.«

Jakob nickte. »Ich denke, wir müssen zum einen davon ausgehen, dass die beiden Mädchen seit Jahren für spezielle Freierswünsche missbraucht wurden, und Bleichert zum zweiten in der Szene sowohl als juristischer Berater als auch als Freier unterwegs war, beides wahrscheinlich regelmäßig. Ob Eva Grohns und sein Verschwinden in direktem und kausalem Zusammenhang stehen, werden wir eingehend untersuchen, ebenso die Hintergründe für Corinnas Tod. Obwohl wir den Ansatz natürlich nicht vernachlässigen dürfen, glaube ich weder an einen Zufall oder einen tragischen Unfall noch an Suizid, mein Kollege schon mal gar nicht.« Sie blickte kurz in Springers Richtung.

»Ich auch nicht.« Gesine winkte ab. »Das Ergebnis der Obduktion wird eventuell für mehr Klarheit sorgen. Vielleicht hat jemand seine Spuren hinterlassen, den wir in der Kartei haben.«

»Das würde die Ermittlungen vereinfachen. Fakt ist: Wenn sie bereit gewesen wäre, offen auszusagen, hätte uns das sehr wahrscheinlich entscheidend weitergebracht.«

»Machte Corinna Mirbach einen ängstlichen, eingeschüchterten Eindruck auf Sie?«

»Sie gab sich schnoddrig und abweisend, aber es wurde deutlich, dass ihr das Thema ganz und gar nicht behagte und sie keineswegs ein weiteres Gespräch führen wollte. Angst? Ja, durchaus.«

»Sie hätte nicht geredet, ganz sicher nicht, aber Windhoff hielt es für sicherer, sie vergleichsweise unauffällig zum Schweigen zu bringen«, warf Springer ein.

»Oder wer auch immer«, betonte Gesine und wandte sich erneut an Jakob. »Wie sehen Ihre nächsten Schritte aus?«

»Die Techniker werden jedes Detail des Videos minuziös untersuchen, und sobald feststeht, dass die Aufnahmen in Räumlichkeiten entstanden sind, die Sam Windhoff zugeordnet werden können, verfügen wir über einen hinreichenden Grund, den Mann offiziell zu vernehmen und uns seine Geschäfte genauer anzusehen. Ich bin dafür, offensiv vorzugehen, um klarzumachen, dass wir uns nicht hinhalten lassen werden. Unter Umständen zeigt er sich kooperativ. Polizeieinsätze schaden dem Geschäft.«

Gesine nickte. »Das ist die eine Seite des Falls. Gibt es Anhaltspunkte, die darauf hindeuten, dass Windhoff vom Verschwinden des Anwalts profitieren könnte?«

»Nein. Dazu wissen wir noch viel zu wenig über das Verhältnis der beiden. Womöglich hat Bleichert seine sexuellen Vorlieben mit Beraterdiensten bezahlt, vielleicht war der Übergriff auf Corinna auch eine Einzeltat, das können wir noch nicht ausklammern, obwohl es unwahrscheinlich scheint … Davon abgesehen handelte er ja auch in seinem ureigensten Interesse, als die Polizei seinerzeit ermittelte.« Jakob hob eine Braue. »Die Geschichte hätte böse für ihn enden können.«

»Vielleicht haben sich Windhoff und Bleichert kennengelernt, als der Anwalt als Freier unterwegs war«, bemerkte Gesine. »Als Freier mit speziellen Wünschen.«

»Denkbar, doch wer steckt hinter dem ominösen Video?«, fuhr Jakob fort. »Dass es in Corinnas Wohnung versteckt war, kann alles Mögliche bedeuten. Hat das Mädchen selbst oder jemand aus dem Milieu den Anwalt damit erpresst, womöglich bereits über längere Zeit? Musste Corinna deswegen sterben? Und ist Bleichert deshalb verschwunden, also untergetaucht?«

Springer setzte eine zweifelnde Miene auf, enthielt sich aber eines Kommentars.

»Oder wollte sich jemand an ihm rächen, und der Mann lebt gar nicht mehr, während Windhoff gerade nichts anderes übrigbleibt, als die auf unerfreuliche Weise erneut hochkochende Vergewaltigungsgeschichte auf seine Art aus der Welt zu schaffen? Daran schließt sich die Frage an, wer noch von Bleicherts Umtrieben gewusst haben könnte und auf welche Weise er davon erfahren hat. Unter Umständen jemand aus der Kanzlei?« Jakob unterbrach sich kurz. »Und was ist mit der Familie? Weiß Frau Bleichert wirklich so wenig von den Geschäften und Umtrieben ihres Mannes, wie sie vorgibt? Sie wirkt mehr als gefasst – hat ihr Verhalten damit zu tun, dass ihr die Neigungen ihres Mannes bekannt waren und sie ihn aus diesem Grund nicht sonderlich vermisst?«

Gesine sah sie einen Moment durchdringend an. »Stellen Sie ein Team zusammen und fangen Sie an, in alle Richtungen zu ermitteln. Ich möchte täglich auf dem Laufenden gehalten werden.«

Hannah nickte.

»Puh, was für ein Eiszahn!«, stöhnte Mark, als sie das Büro der Oberstaatsanwältin verlassen hatten und zum Wagen gingen.

»Sie ist gut.«

»Kennst du sie?«

»Nur flüchtig – ich habe allerdings gehört, dass sie in Richter- und Anwaltskreisen nicht sonderlich beliebt ist. Ein gutes Zeichen, wenn du mich fragst. Außerdem hat sie keine Angst, sich mit sogenannten Rotlichtgrößen, Clan- oder OK-Leuten anzulegen.«

Mark nickte anerkennend. »Okay, das ist ein Argument.« Er blickte auf die Uhr. »Ich schlage vor, dass ich die Techniker besuche und den IT-Leuten über die Schultern gucke. Könnte deren Arbeitseifer erhöhen.«

Hannah schloss den Wagen auf, wo Kotti sie schwanzwedelnd begrüßte. »Wir brauchen so schnell wie möglich ein Team …«

»Die Zusammenstellung sollte ich übernehmen, schließlich kenne ich meine Kollegen und ihre Stärken und Schwächen«, erklärte Mark eifrig, während er einstieg. »Der Fall bleibt ja wohl beim LKA, oder?«

»Du wirst dich zurückhalten.«

»Bitte?«

»Deine letzte Nominierung zur Wahl des beliebtesten Kollegen dürfte schon eine Weile zurückliegen, wenn ich richtig vermute.« Hannah schnallte sich an.

»Worauf willst du hinaus?«

Sie startete den Motor und fuhr vom Parkplatz. Marks entrüstete Blicke nahm sie ungerührt zur Kenntnis. »Darf ich es erklären, ohne dass du mich unterbrichst?«

»Nur zu.«

»Deiner Hartnäckigkeit ist es zu verdanken, dass dieser Fall nicht zu den Akten gelegt wurde – das steht außer Frage.«

»Aber?«

»Du wolltest mich nicht unterbrechen.«

»Ach ja.«

»In deinem bisherigen Team hattest du bislang keinen guten Stand, schon mal gar nicht in der Bleichert-Geschichte«, setzte Hannah neu an. »Es wäre alles andere als hilfreich, wenn du jetzt als der große »Ich-hab-es-ja-von-Anfang-gewusst-Auftrumpfer« zurückkehrst und dir, wohlgemerkt: in den Augen deiner Kollegen, Sonderrechte herausnimmst und mit breiter Brust durch die Gegend läufst. Die Stimmung wäre vergiftet – zumindest würde es sehr viel Zeit in Anspruch nehmen, immer wieder die Wogen zu glätten und Rivalitäten zu unterbinden. Dabei werden Fehler gemacht, man tritt sich gegenseitig auf die Füße, und Energie geht verloren, die wir woanders viel besser nutzen könnten. Außerdem bin ich überhaupt kein Fan von Hahnenkämpfen.«

Mark verschränkte die Arme vor der Brust und starrte zum Fenster hinaus.

»Darüber hinaus ist es wenig hilfreich, Leute ins Team zu nehmen, die bezüglich des Falls vorbelastet, womöglich verbrannt sind«, fuhr sie fort, während sie einen prüfenden Blick in den Rückspiegel warf. Ein Audi hatte gerade die Fahrspur gewechselt. »Was wir brauchen, sind hellwache Kollegen, die einen unvoreingenommenen Blick auf die Fakten werfen und sich nicht scheuen, sie von Grund auf zu hinterfragen. Deswegen werde ich in Absprache mit meinem Chef zwei Leute aus meiner Dienststelle zu uns bitten und deinen Vorgesetzten fragen, ob er uns zunächst zwei, drei ›frische‹ Ermittler zur Verfügung stellen kann. Sollte sich das Ganze ausweiten, sehen wir weiter.« Die Argumentation hat Hand und Fuß, dachte sie, daran gibt es nichts zu rütteln.

Mark schwieg bis zur nächsten Ampel. Dann wandte er den Kopf. »Wen willst du eigentlich schützen – mich oder meine ehemaligen Team-Kollegen?«

»Den Fall.«

Mark atmete scharf ein, sagte jedoch nichts.

»Außerdem bin ich nicht deine Mutti.«

Auch dazu schwieg er.

»Ihr habt vor einigen Jahren ein totes Mädchen aus dem Teltowkanal gezogen, das über Jahre Schlimmstes erleiden musste – das ist dir verdammt nahegegangen, wenn ich deine Schilderung richtig in Erinnerung habe …«

»Hast du«, erwiderte Mark.

»Corinna, mit der wir vor wenigen Tagen gesprochen haben, lebt nicht mehr, Eva ist schon seit einiger Zeit verschwunden, Bleichert, der Windhoff zur Seite stand und nun als Vergewaltiger auf sich aufmerksam macht, ebenfalls. Um all das werden wir uns kümmern und um nichts anderes.« So hoffe ich zumindest, fügte sie im Stillen hinzu. Dazu gehört auch, dass ich keine Beziehungskisten umräumen werde.

»Okay. Setzt du mich bei den Technikern ab?«

»Klar.«

Hannah nahm sich nach ihrer Rückkehr ins BKA für die personellen und organisatorischen Vorbereitungen zwei Stunden Zeit und richtete sich anschließend ein kleines Büro in der LKA-Dienststelle in Tempelhof ein, wo ohnehin die Fäden zusammenlaufen würden. Die zentrale Regelung der internen Abläufe übergab sie Lone Geising, einer achtundzwanzigjährigen Kollegin aus dem BKA-Innendienst, die für ihre schweigsame Art ebenso bekannt war wie für ihre emsig-unaufgeregte Arbeitsweise. Paul Luschinsky, genannt Lusche, ein älterer erfahrener Kollege, der viele Jahre als Zielfahnder für verschiedene Dienststellen auf dem Buckel hatte, würde alle Einsätze und Außenaktivitäten koordinieren und notfalls weitere Leute anfordern und einbinden, drei zusätzliche Kommissare standen auf Abruf bereit.

Die erste gemeinsame Maßnahme bestand in einer Einsatzbesprechung am späten Nachmittag; die zweite ordnete Hannah während der Teamsitzung an, als die Kriminaltechnik das vorläufige Zwischenergebnis der Videoanalyse vorlegte und den Raum, in dem Bleichert Corinna vergewaltigte, mit neunzigprozentiger Sicherheit einem von Windhoffs Clubs zuordnete. Eine Flasche Sekt war mit dem Logo des Clubs verziert. Kein grandioser Beweis, aber ausreichend, um aktiv zu werden, dachte Hannah.

»Wir fangen mit Sam Windhoff und Katrin Bleichert an«, erklärte Hannah in die Runde. »Ich möchte die beiden nach Möglichkeit noch heute und hier vernehmen.«

Mark, der am Fenster stand, rieb sich die Hände.

»Darüber hinaus will ich mit jedem sprechen, der zum näheren Umfeld der Bleicherts gezählt werden kann – dazu gehören nicht nur Freunde und Kollegen, sondern, nur um ein Beispiel zu nennen, auch die Putzfrau.«

»Sollen die alle hier angekarrt werden?«, fragte Lusche. Seinem entgeisterten Blick war unschwer zu entnehmen, was er davon hielt.

»Nein, über die weiteren Maßnahmen entscheiden wir nach Bleicherts Vernehmung – und mit ihr beginnen wir den Reigen. Eine Durchsuchung des häuslichen Arbeitszimmers sollten wir auch schnellstmöglich in Angriff nehmen. Um den Beschluss wird sich die Oberstaatsanwältin kümmern, sofern Frau Bleichert darauf besteht. Davon gehe ich allerdings stark aus. Die Kooperation mit den Polizeibehörden dürfte meiner Einschätzung nach nicht unbedingt zu ihrer Lieblingsbeschäftigung gehören.«

»Und falls die Dame sich ziert, mitzukommen?«

»Die Umstände haben sich geändert. Du weist höflich darauf hin, dass ein Video aufgetaucht ist und wir prüfen müssen, ob ihr Mann etwas mit dem Verschwinden einer jungen Frau zu tun hat, bevor er selbst … na, du weißt schon.«

»Okay, höflich ist mein Spezialgebiet.« Lusche schob sich ein Kaugummi in den Mund. »Eine ähnliche Argumentation gilt wahrscheinlich für Windhoff.«

»Genau.« Sie winkte Mark zu. »Kümmert euch bitte gemeinsam um die Einzelheiten.«

Lusche verzog keine Miene und nickte in Marks Richtung, während er Hannah ansah. »Kann er auch höflich?«

»Natürlich.«

Hannah kannte und schätzte Lusche, seit sie vor vielen Jahren ihre Karriere beim LKA begonnen hatte. Sie hatte dem erfahrenen und mit allen Wassern gewaschenen Beamten nicht grundlos den vergleichsweise harmlos und dröge anmutenden Auftrag erteilt, Zeugen bzw. Verdächtige abzuholen, noch dazu in Begleitung von Mark. Lusche war groß und breit wie ein Schrank, hatte selten Zeit, zum Friseur zu gehen, und sein Bart wirkte ungepflegt. Irgendjemand hatte ihn mal Trucker genannt, und das traf es bezüglich seiner Ausstrahlung ziemlich gut, auch wenn sich als Spitzname Lusche durchgesetzt hatte. Dass er in der Lage war, auf Feinheiten und Zwischentöne zu achten und mit einem einzigen Blick kleinste Auffälligkeiten in seiner Umgebung wahrnahm, vermutete kaum jemand. Insgesamt machte er den Eindruck eines ruppigen Polizisten, der nicht lange fackelte – und genau das sollte er in dieser Situation vermitteln.

Hannah war sicher, dass Windhoff sich in gewohnter Manier herausreden würde, doch bei aller Abgebrühtheit: Das mehrfache Auftauchen der Polizei in relativ kurzer Zeit dürfte ihm allmählich zu denken geben, und sie hoffte, dass Katrin Bleichert ebenfalls ins Grübeln geriet oder ihre Haltung, sollte sie mehr über die Geschehnisse wissen, Risse bekam.

Hannah zog sich in ihr Büro zurück, um noch einmal mit der Rechtsmedizinerin zu telefonieren. Es waren keine äußeren Anzeichen von Gewalt festzustellen, die unmittelbar mit dem Tod der jungen Frau zusammenhingen, aber wie war der körperliche Gesamtzustand zu bewerten?

»Wie schon dargelegt: Das Opfer hat häufig Gewalt erfahren«, erläuterte Karola Steinfeld zwei Minuten später. »Zahlreiche Stellen ihres Körpers weisen vernarbtes Gewebe auf, aber keine davon hängt ursächlich mit ihrem Tod zusammen.«

»Können wir auch von sexueller Gewalt ausgehen?«

»Ja – die in dem Fall typischerweise betroffenen Regionen wie Oberschenkel, Hüften, Brust- und Schambereich lassen diesen Schluss ohne Weiteres zu, aber als Beweis für eine Straftat taugt diese Bewertung kaum.«

»Das ist mir klar. Trotzdem danke.«

Müde, abgeranzt, mager, deutlich älter als achtzehn wirkend – so hatte Corinna ausgesehen, als sie im Café mit ihr sprachen. Auf der Videoaufnahme waren die Gesichter im Halbdunkel nicht besonders gut zu erkennen, dennoch fiel sofort ins Auge, wie jung Corinna im Vergleich zur Gegenwart ausgesehen hatte, fast kindlich, unglaublich, dass lediglich zwei Jahre dazwischenliegen sollten … Sie griff zum Telefon und bat Lone, ein Bild von Eva Grohn aufzutreiben.