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Pohls Aussage rief ein gemischtes Echo in der Einsatzbesprechung am frühen Samstagabend hervor. Die meisten Kollegen reagierten verblüfft, als Hannah die Befragung erläuterte, einige lachten und hielten das Ganze für einen ziemlich schlechten Scherz, andere gaben der Spur so oder so keine Chance, weil die Beweiskraft gegen null ging und sie längst, nämlich vor vielen Wochen, erkaltet war. Katrin Bleicherts Aussage, kurz vor der Teamsitzung erneut befragt, untermauerte diese Ansicht – sie konnte sich angeblich nur mit Mühe an die Situation erinnern, die ihre Putzfrau so anschaulich beschrieben hatte, geschweige denn irgendetwas mit der Bezeichnung Carnifex anfangen. Und eine aufgebrachte Reaktion – so sie tatsächlich stattgefunden hatte – schrieb sie schlicht der nervlichen Überforderung zu. Ansonsten hielt sie den Zettel für völlig bedeutungslos, ein dummer Streich, der ihrer Ansicht nach nicht das Geringste mit den Geschehnissen zu tun hatte. Dass die Polizei sich mit derlei Nebensächlichkeiten aufhielt, schien ihr nahezu absurd.
Die Frau lügt, dachte Mark und nahm Blickkontakt mit Hannah auf, während er sich einen zweiten Kaffee eingoss. Und die Chefin teilt meine Ansicht. Das ist ja schon mal was.
»Wie dem auch sei«, fuhr Hannah fort. »Ich bin davon überzeugt, dass wir gut daran tun, diesem Stichwort nachzugehen.«
»Das bedeutet weitere Befragungen?«, fragte Lusche.
»Ja. Ich habe bereits mit der Staatsanwältin gesprochen. Vielleicht ist der Begriff schon einmal aufgetaucht – womöglich ebenso beiläufig. Oder jemand wollte sich sehr wichtig tun und weiß tatsächlich etwas über die Hintergründe.«
»Lateinische Redewendungen zählen aber nicht unbedingt zum gewöhnlichen Umgangston in Bordellen und Clubs.«
Unterdrücktes Lachen. Jemand fragte in leisem Tonfall, was eigentlich Vögeln auf Lateinisch hieße. Gelächter schwoll an.
»Incestus heißt Geschlechtsverkehr«, nahm Hannah das Stichwort mit ungerührter Miene auf und nickte einem jungen Kollegen zu. »Wobei für den außerehelichen Verkehr das Nomen Concubinatus verwendet wird. Konjugieren müssen Sie selbst. Und bitte jetzt keine weiterführenden Wortspiele.«
Mark grinste, der Sprücheklopfer ebenfalls.
»Wir müssen in die Clubs und uns auf die Suche machen, dazu gehört auch eine umfangreiche Datenrecherche einschließlich Internet, die üblichen Chats und so weiter. Vielleicht gibt es eine Gruppe mit speziellen Ritualen – fragt die Kollegen aus anderen Abteilungen, die sich bei diesem Thema besser auskennen.« Hannah hielt nach Lone Ausschau. »Kümmerst du dich darum und weist sie ein?«
»Ja.«
»Und fordere Unterstützung an, damit es schneller geht.«
Lone nickte.
»Ich werde an der Familie dranbleiben und mit der Exfrau sprechen. Wann sind die geschieden worden?«
»Vor zehn Jahren«, sagte Lone.
»Das waren drei Worte in einem Satz«, flachste Mark. »Du wirst noch zur Vielrednerin.«
Lone hob eine Braue – und schwieg.
»Hast du sonst noch was beizutragen, Mark?«, mischte Lusche sich ein. »Dass du bis drei zählen kannst, ist ja schon mal ein ganz guter Anfang, wobei Lones Antwort übrigens kein kompletter Satz war – soweit ich das mal gelernt habe.«
Mark winkte ab und schluckte den Seitenhieb. »Ja, hab ich«, erklärte er dann lässig. »Ich denke, wir liegen richtig, wenn wir an Windhoff und Co. dranbleiben. Doch wir kommen nicht weiter, wenn wir durch die Clublandschaft wandern, den Dienstausweis zücken und uns höflich nach Freiern erkundigen, die auf gewalttätigem Sex mit sehr jungen Mädchen stehen, Schwerpunkt: römischer Stil.« Er behielt Hannah im Auge, die wohl längst ahnte, worauf sein Beitrag hinauslief. »Wir kommen auch nicht weiter, wenn wir im Hintergrund lediglich auf dem Beobachtungsposten sitzen bleiben und hoffen, irgendwann etwas mitzukriegen, das zu unseren Ermittlungen passt, am besten einen Typen, der lateinisch faselt und zum Ausdruck bringt, dass er seine Mädels schützen oder rächen will.«
»Ich denke, wir haben verstanden, was du sagen möchtest. Worauf willst du hinaus?«, fragte Lusche.
»Wir brauchen jemanden, der verdeckt reingeht. Ich würde das machen.«
»Windhoff ist nicht blöd, der kennt uns inzwischen alle und wird seine Leute längst vorbereitet haben.«
»Äußerlichkeiten lassen sich bekanntlich verändern – dazu braucht’s nicht viel.«
Einen Moment blieb es still. Lusche strich sich durch den Bart. »Nun ja, da ist schon was dran.«
»Du hast keine Erfahrungen im V-Einsatz«, bemerkte Hannah.
»Das stimmt so nicht. Ich habe vor etlichen Jahren mal im Bereich der Jugendbanden ermittelt, auch verdeckt. Inzwischen bin ich zu alt für den Job.« Er lächelte. »Ich könnte mit einem Kontaktmann zusammenarbeiten, der immer in meiner Nähe ist. Ich schätze, dass wir keine zwei Nächte brauchen, um an die richtigen Leute zu kommen. Immerhin geht es dabei wohl auch um eine Menge Geld, und das macht bekanntlich gierig und unvorsichtig. Wenn ich mit einem Fünfhundert-Euro-Schein winke und auf ein ganz spezielles Bedürfnis hinweise, dürften sich verschiedene Türen öffnen.«
»Keine schlechte Idee«, meinte Lusche und blickte Hannah achselzuckend an. »Wenn er Windhoff unbedingt an die Eier will … Wir bereiten ihn gründlich vor, und morgen Abend steigt er ins Nachtleben ein, flankiert von zwei Kontaktleuten, die die Milieugepflogenheiten kennen, sowie einem Zweierteam als zusätzliche Rückendeckung in mittlerer Distanz.«
Mark verdrehte die Augen. »Wenn wir da mit dem Mannschaftsbus vorfahren, können wir glatt noch ein RTL-2-Team dazu einladen. Das ist dann so richtig unauffällig.«
»Dein letzter V-Einsatz muss schon sehr lange zurückliegen«, parierte Lusche kühl. »Wir machen es gründlich, professionell und so abgesichert wie möglich oder gar nicht. Irgendeine wilde Undercover-Nummer läuft mit mir nicht.«
Hannah nickte. »Mit mir auch nicht.«
»Ein bisschen viel Aufwand für meinen Geschmack, aber gut, ich bin dabei«, lenkte Mark ein.
Hannah sah auf die Uhr. »Lasst uns noch zwei Stunden Vorbereitung ranhängen und dann Feierabend machen.«
Das Mädchen war leicht wie eine Feder gewesen. Sie hatte ihn aus großen verschatteten Augen angestarrt und den Kopf an seine Schulter gelehnt, als er mit ihr auf dem Arm das Haus verlassen hatte. Sie war nicht in der Lage gewesen, über den Zaun zu klettern, und so musste er sie auf seinem Rücken festbinden, bevor er sich hinüberhangelte – ihr Gewicht war kaum zu spüren.
Sie war im Auto gestorben, noch bevor er losgefahren war. Ihre Augen leuchteten auf, hielten seinen Blick fest, für Momente glomm Wärme in ihnen auf und ein tiefes, fast zärtliches Verstehen. Sven atmete aus, er umschloss ihre kleinen Kinderhände, und plötzlich vereiste ihr Blick.
Er brauchte lange, um sich aus der Erstarrung zu lösen. Damit hatte er nicht gerechnet, das hätte nicht geschehen dürfen. Sein Herz flatterte. Schließlich fuhr er los – Richtung Süden, auf der Suche nach einem Platz für das Mädchen mit den Kinderhänden. Gut eine Stunde später begrub er sie hinter Zossen in einem Waldstück in der Nähe des Mellensees. Er suchte einen Platz aus, an dem sie für immer ihre Ruhe haben würde. Das zierliche herzförmige Medaillon aus Silber, das sie um den Hals trug, hatte er behutsam in ihre Hände gelegt. Die Nacht war kühl und still.
Während der Rückfahrt sortierte er die Geschehnisse dieser Nacht – nicht nur um in der beruhigenden Routine des Ordnens seine Balance zurückzugewinnen, sondern in der Zuversicht, dass ihm der ungetrübte Blick auf das Gesamtbild seine weitere Vorgehensweise verdeutlichen würde. Das Mädchen, nach dem Hannah suchte – wahrscheinlich suchte –, war tot, aber er durfte sich auf keinen Fall näher an die Ermittlungen heranwagen und mit der Offenbarung seiner Kenntnisse auf sich aufmerksam machen. Der ermordete Aufpasser würde in keiner Zeitungsmeldung auftauchen oder gar Gegenstand einer polizeilichen Ermittlung werden, dessen war Sven sich hundertprozentig sicher. Der Mann und die Spuren seines Todes waren längst beseitigt worden und natürlich auch jegliche Hinweise auf Eva und das, was ihr widerfahren war. Blieb noch Berg. Die Szene würde sich wahrscheinlich im Moment nicht mit ihm beschäftigen, um keinerlei Aufmerksamkeit zu erregen oder Zusammenhänge überhaupt erst herzustellen. Er hat einen grausamen Tod verdient, dachte Sven, und der Gedanke begann erschreckend heftig in ihm zu brodeln. Zu nah, flüsterte die Vorsicht in ihm, viel zu nah. Liefere ihn ans Messer – wer auch immer die Waffe führen mag.
Es wurde gerade hell, als er nach Hause kam. Er duschte, wechselte seine Klamotten, warf die Kleidungsstücke einschließlich der Schuhe in die Waschmaschine und frühstückte ausgiebig; im Radio nuschelte Udo Lindenberg selbstvergessen vor sich hin, nachdem die Meldung über eine Schlägerei in der U-Bahn-Linie 1 verklungen war – Jugendliche waren im Streit um ein Handy aneinandergeraten. Später fuhr er mit dem Wagen in die Waschanlage, reinigte den Innenraum bis in den kleinsten Winkel, erledigte Einkäufe und legte sich schlafen. Als er aufwachte, war der Nachmittag längst angebrochen. Weder im Radio noch online gab es Nachrichten zu einem Verbrechen in Birkholz. Sven aß zwei Koteletts mit Kartoffelsalat und trank eine Kanne starken Kaffee, bevor er nach Tempelhof aufbrach. Berg ging nicht ans Telefon und saß auch nicht an seinem PC, wie ihm sein kleiner Helfer verriet. Stellst du dich tot, du Scheißkerl? Oder bist du es längst?
In dem Moment, in dem Sven beschloss, nach Hause zu fahren und den Tag ruhig ausklingen zu lassen, meldete sich der GPS-Tracker: Hannah machte sich auf den Weg, und sie war alleine unterwegs, wie er wenig später feststellen konnte – nur sie und der Hund.
Bleicherts Exfrau Bernadette hieß inzwischen Siegel mit Nachnamen, wohnte im Schöneberger Kiez und betrieb gemeinsam mit ihrem Mann ein Sachverständigenbüro für Baugutachten. Hannah hatte um ein Gespräch gebeten und nicht zu hoffen gewagt, dass die Frau ohne Zögern zusagen und auch noch spontan an einem Samstagabend zur Verfügung stehen würde.
»Wir waren gerade in den Urlaub gefahren, als Robert verschwand und die Ermittlungen aufgenommen wurden«, erklärte sie, während sie Hanna in die Küche führte, wo es nach Eintopf duftete – eine schlanke Frau Anfang vierzig in Jeans und Baumwollhemd, deren langes dunkles Haar von grauen Strähnen durchzogen war.
Ein Kinderwagen stand mitten im Raum, und Kotti spitzte die Ohren, als leises Brabbeln erklang. Siegel lächelte. »Darf ich vorstellen? Mein Sohn Milan, sechs Monate alt. Mit ihm hat niemand mehr gerechnet, ich am allerwenigsten.«
Sie sieht sehr glücklich aus, dachte Hannah. Mein Sohn geht längst eigene Wege, und die Zeit, als er noch im Kinderwagen lag, scheint ewig zurückzuliegen. Sie behielt den Gedanken für sich. Kein Platz für Wehmut.
»Setzen wir uns? Mögen Sie einen Kaffee oder Tee oder etwas Kaltes? Eine Bionade vielleicht?«
Hannah beschloss, auf weiteres Koffein zu verzichten, und entschied sich für die Limonade. »Sie waren verreist und haben später eine Aussage gemacht?«, nahm sie den Faden wieder auf.
»Ja, aber was heißt Aussage?« Siegel zuckte mit den Achseln und setzte sich zu ihr, nachdem sie sich einen Tee eingegossen und einen prüfenden Blick in den Kinderwagen geworfen hatte. »Ich habe Robert seit unserer Scheidung nur noch zwei-, dreimal gesehen und einige Male mit ihm telefoniert – dabei ging es um Steuerkram und Ähnliches. Wir haben keinen Kontakt, und genau das habe ich der Polizei gesagt. Dass er immer noch verschwunden ist, war mir gar nicht klar …« Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe mich allerdings, um ehrlich zu sein, auch nicht weiter mit dem Thema befasst.«
Sie nickte in Richtung ihres Sohnes. »Der Kleine hält uns ganz schön auf Trab, dazu das Büro. Mein Mann ist häufig auf Messen oder besucht auch am Wochenende oder spätabends Kunden. Kurzum: Unser Alltag ist ziemlich anstrengend.«
»Ich verstehe. Umso mehr weiß ich Ihre spontane Gesprächsbereitschaft zu schätzen, noch dazu am Wochenende«, bemerkte Hannah.
Siegel nickte. »Das ist doch selbstverständlich. Außerdem interessiert es mich natürlich, was geschehen ist. Es gab in all den Wochen gar kein Lebenszeichen von ihm?«
»Leider nein.«
»Und wie kann ausgerechnet ich Ihnen weiterhelfen?«
»Indem Sie sehr indiskret sind und mir von Ihrer Ehe erzählen, insbesondere warum sie gescheitert ist«, erwiderte Hannah unverblümt.
Die Frau machte große Augen. »Ist das Ihr Ernst?«
»Ja.«
»Aber warum? Was hat unsere Ehe, die viele Jahre zurückliegt, mit den aktuellen Ereignissen zu tun?«
»Möglicherweise hat Ihr Exmann bereits seinerzeit Verhaltensweisen an den Tag gelegt, die ihm jetzt zum Verhängnis wurden, und Sie bringen mich auf eine neue Idee, die die Ermittlungen voranbringen oder ihnen eine neue Wendung geben könnte.«
Siegel runzelte die Stirn und zog die Hände vom Tisch. »Um ehrlich zu sein … Sie sprechen in Rätseln.«
»Ja. Worauf wollen Sie hinaus?«
Hannah trank einen Schluck Limonade und wartete einen Moment. »Wir hegen den starken Verdacht, dass Ihr Exmann im Zusammenhang mit seinen Aktivitäten im Rotlichtmilieu verschwunden ist und womöglich einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen ist.«
Siegel atmete scharf ein. »Sie scherzen?«
»Die Beweise sind inzwischen eindeutig und außerdem eng verknüpft mit einer Todesfallermittlung.«
Während Hannah die Ermittlungsergebnisse in den folgenden Minuten in groben Zügen zusammenfasste, erbleichte Siegel zusehends. Außerdem hatte sie Mühe, ruhig sitzen zu bleiben.
»Das ist ja scheußlich«, erklärte sie schließlich. »Um Gottes willen! Allerdings ist es mir nach wie vor schleierhaft, wie ich Ihnen weiterhelfen kann.«
»Katrin Bleichert behauptet, sie habe nicht gewusst, dass ihr Mann im Rotlichtmilieu unterwegs war. Sie erklärt außerdem, dass es sexuelle Gewalt in ihrer Ehe nicht gegeben habe. Das Paar hätte sich gut verstanden, das gemeinsame Leben lief problemlos, was von vielen Menschen aus ihrem Umfeld bestätigt wird …« Hannah brach ab und suchte Siegels Blick.
»Aber dieser Darstellung glauben Sie nicht?«
»Sagen wir so: Ich misstraue ihr ganz erheblich.«
»Und nun wollen Sie wissen, wie Robert sich in unserer Ehe verhalten hat?«
»So ist es.«
»Aber das ist zehn Jahre her«, wehrte Siegel ab. »Selbst wenn er damals …«
Hannah nickte rasch. »Womöglich haben Sie recht, und es ist völlig nebensächlich, was vor zehn oder fünfzehn Jahren geschah oder üblich war zwischen Ihnen«, stimmte sie zu. »Doch unter Umständen fällt ein Stichwort, das schon mal aufgetaucht ist, ein Muster, das sich in den laufenden Ermittlungen wiederholt.« Sie beugte sich vor. »Wissen Sie, das Mädchen aus dem erwähnten Video lebt nicht mehr, ein anderes ist seit Monaten verschwunden – dieser Fall zieht Kreise, erschreckende Kreise. Ich bin davon überzeugt, dass Bleicherts Neigung alles andere als einmalig war, sondern sich über einen langen Zeitraum entwickelt hat, und zwar in eine ausgesprochen bedenkliche Richtung.«
Siegel erhob sich abrupt und trat an den Kinderwagen. Sie umklammerte den Griff und warf ihrem Sohn ein maskenhaft starres Lächeln zu, während sie den Wagen schaukelte. Schließlich hob sie den Kopf. »Meinen Sie, dass er das war – dass Robert diese Mädchen getötet hat und anschließend selbst ermordet wurde?«
Interessanter Gedanke oder besser gesagt: interessant, welche Überlegungen der Frau durch den Kopf gingen, dachte Hannah. »Ich denke, nicht. Wir wissen viel zu wenig, um einem solchen Verdacht nachzugehen – außerdem passt diese Annahme nicht in den zeitlichen Rahmen, soweit er uns bislang bekannt ist. Wir vermuten einen anderen Hintergrund, was das Schicksal der Mädchen angeht. Fakt ist jedoch, dass er beide kannte und eines von ihnen vergewaltigte, womöglich mehrfach. Unter Umständen ist er Opfer einer Erpressung oder Racheaktion geworden, und die Ereignisse nahmen in diesem Zusammenhang ihren Lauf. Frau Siegel …«
Die Frau ließ den Kinderwagen abrupt los und setzte sich wieder zu Hannah. »Schon gut, ich habe Sie verstanden. Na schön – ja, er war manchmal jähzornig – aus dem Nichts heraus.«
»Hat er sie …«
»Er hat mich zweimal geschlagen, beim dritten Mal habe ich mich gewehrt und zurückgeschlagen«, fiel sie Hannah ins Wort. »Danach hat er sich therapeutisch behandeln lassen und relativ schnell gute Fortschritte gemacht, aber …« Sie sah einen Augenblick ins Leere. »Wie soll ich es ausdrücken? Ich denke, mein Vertrauen war dahin. Ich habe mich einige Zeit später in einen anderen Mann verliebt und sehr schnell Nägel mit Köpfen gemacht.«
»Wie hat er reagiert?«
»Anfangs ziemlich entsetzt. Er hat Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt und um mich gekämpft, aber dann wurde ihm klar, dass er mich nicht umstimmen konnte.«
»Sexuelle Gewalt?«
Siegel schüttelte rasch den Kopf. »Nein, das nicht. Er flippte bei Konflikten im Alltag aus – von null auf hundert verlor er die Selbstbeherrschung, er war ein Choleriker, der auf scheinbar nebensächliche Streitereien reagierte und hinterher seinem eigenen Verhalten völlig fassungslos gegenüberstand. Doch unsere Sexualität war in Ordnung.«
Vielleicht hat er ein Ventil für seine Aggressionen gesucht und seine Wut ausgelagert, überlegte Hannah, um seine Frau zu schonen. Doch die ausgelagerte Wut hat sich vermehrt und sexualisiert … »Sagt Ihnen der Ausdruck Carnifex etwas?«
Siegel runzelte die Stirn. »Nein.«
»Sicher?«
»Absolut.«
»Wissen Sie, wie Bleichert aufgewachsen ist?«
»Sie meinen: schlimme Kindheit und so weiter?« Siegel hob die Hände, als Hannah zustimmend nickte. »Keine Ahnung. Das war zumindest kein Thema zwischen uns. Sein Vater ist früh verstorben, den kannte ich gar nicht, seine Mutter lebt irgendwo im Schwarzwald, sofern sie nicht zwischenzeitlich verstorben ist, und besuchte uns selten, aber regelmäßig. Mir schien das Verhältnis freundschaftlich, unkompliziert, unbelastet. Geschwister gibt es nicht.«
Hannah ließ die Befragung wenig später ausklingen. Siegel wirkte erschöpft. »Ich danke Ihnen. Wenn Ihnen noch etwas einfällt, kontaktieren Sie mich bitte.«
»Natürlich.«
Hannah hatte alte Geschichten aufgewühlt, und sie hoffte, dass Siegel ihr das nicht übelnehmen würde. Bleichert schien ihr eine zunehmend fragwürdigere Persönlichkeit, ein Mann mit vielen, höchst unterschiedlichen Seiten und Gesichtern – Familienanwalt und Berater im Rotlichtmilieu, gewissenhafter Verteidiger und oberflächlich-abweisend, wenn er einen Fall verlor, Vergewaltiger und verantwortungsvoller Ehemann sowie liebevoller Vater. Wie passte das alles zusammen?
Jemand hat ihn durchschaut, dachte Hannah, als sie nach Hause fuhr, und kurzen Prozess mit ihm gemacht. Plötzlich war sie fest davon überzeugt, dass der Mann entführt und wenig später ermordet worden war. Der Täter hatte eine Erklärung für die Ehefrau hinterlassen. Warum? Um sie mit der Wahrheit zu konfrontieren? Weil er wusste, dass sie keineswegs ahnungslos war? Weil Katrin Bleichert genau wie Bernadette Siegel Gewalt erfahren hatte und sich nun frei fühlen durfte?