Ein Loch im Himmel
2.9.
Gebratenes Hühnchen, Kartoffelbrei mit Bratensoße, grüne Bohnen und Brötchen – alles wartete vorwurfsvoll und kalt und zusammengefallen auf dem Herd, wo Amma es hatte stehen lassen. Für gewöhnlich hielt sie mein Essen warm, bis ich vom Training zurückkam, aber heute nicht. Ich musste mich auf jede Menge Ärger gefasst machen. Amma war wütend, sie saß am Tisch, lutschte ihre geliebten Zimtpastillen und kritzelte Buchstaben in das Kreuzworträtsel der New York Times. Mein Vater hatte insgeheim die Sonntagsausgabe abonniert, denn das Rätsel in den Stars and Stripes hatte zu viele Rechtschreibfehler und mit den Kreuzworträtseln im Reader’s Digest war sie zu schnell fertig. Keine Ahnung, wie er es schaffte, dass Carlton Eaton nicht Wind davon bekam, denn der hätte schnurstracks in der ganzen Stadt verbreitet, dass wir uns für etwas Besseres hielten und die Stars and Stripes nicht lasen. Aber es gab eben nichts, was mein Dad nicht für Amma getan hätte.
Sie schob den Teller zu mir her und blickte mich an, ohne mich dabei anzublicken. Ich schaufelte kalten Kartoffelbrei und Hühnchen in den Mund. Es gab nichts, was Amma so sehr hasste, als wenn man seinen Teller nicht leer aß. Ich versuchte, ihrem speziellen schwarzen Bleistift der Härte 2 nicht zu nahe zu kommen, den sie nur benutzte, um ihre Kreuzworträtsel auszufüllen, und der immer so scharf gespitzt war, dass man damit jemanden hätte verletzen können. Und heute Abend bestand diese Gefahr.
Ich hörte auf das gleichförmige Trommeln des Regens auf dem Dach. Amma klopfte mit dem Bleistift auf die Tischplatte.
»Elf Buchstaben. Haft oder körperliche Bestrafung wegen Fehlverhaltens.« Sie sah mich scharf an. Ich schaufelte mir einen Löffel Kartoffelbrei in den Mund. Ich wusste, was jetzt kam. Neun waagrecht.
»Z.U.E.C.H.T.I.G.U.N.G. Sprich: Strafe. Sprich: Wenn du’s nicht schaffst, rechtzeitig zur Schule zu kommen, dann wirst du keinen Fuß mehr vor die Tür setzen.«
Ich fragte mich, wer sie wohl angerufen haben mochte, um ihr zu sagen, dass ich zu spät gekommen war, oder, was vermutlich einfacher war, wer sie nicht angerufen hatte. Sie drehte ihren Bleistift knirschend in der alten Spitzmaschine, die auf der Anrichte stand, obwohl er noch spitz war.
Immer noch sah sie betont an mir vorbei, was schlimmer war, als wenn sie mir geradewegs in die Augen geblickt hätte.
Ich ging zu ihr hinüber – sie spitzte weiter ihren Bleistift –, legte den Arm um sie und drückte sie ganz fest. »Komm schon, Amma. Sei nicht böse. Es hat geschüttet heute Morgen. Du hättest doch auch nicht gewollt, dass wir bei diesem Wetter zu schnell fahren, oder?«
Sie zog eine Augenbraue hoch, aber ihre Miene wurde freundlicher. »Wie’s aussieht, regnet es so lange, bis du dir die Haare schneiden lässt. Also überleg dir lieber, wie du rechtzeitig zur Schule kommst.«
»Zu Befehl, Ma’am.« Ich drückte sie noch einmal, dann kehrte ich zu meinen kalten Kartoffeln zurück. »Du wirst nicht glauben, was heute passiert ist. In unserer Klasse ist eine Neue.« Keine Ahnung, weshalb ich das sagte. Ich glaube, es war mir den ganzen Tag nicht aus dem Kopf gegangen.
»Meinst du etwa, ich wüsste nicht von der Sache mit Lena Duchannes?« Bei ihren Worten blieb mir fast der Bissen im Hals stecken. Lena Duchannes. Hier im Süden wird der Nachname so ausgesprochen, dass er sich auf »rain« reimt. Und so wie Amma das Wort auswalzte, hätte man meinen können, dass es noch eine zusätzliche Silbe hatte. Du-kay-yane.
»Heißt sie so? Lena?«
Amma schob mir ein Glas Schokoladenmilch hin. »Ja und nein, das geht dich nichts an. Du solltest deine Nase nicht in Dinge stecken, von denen du rein gar nichts verstehst, Ethan Wate.«
Amma sprach immer in Rätseln, und sie gab nie mehr preis, als man unbedingt wissen musste. Seit meiner Kindheit hatte ich ihr Haus in Waders Creek nicht mehr betreten, aber ich wusste, die meisten Leute in der Stadt gingen dorthin. Amma war die angesehenste Tarot-Kartenleserin im Umkreis von hundert Meilen, so wie zuvor schon ihre Mutter und davor ihre Großmutter. Ihre Familie, das waren sechs Generationen von Kartenlegern. Gatlin war voll von gottesfürchtigen Baptisten, Methodisten und Pfingstlern, aber der Verlockung, die die Karten ausübten, der Möglichkeit, mit ihrer Hilfe den Lauf des eigenen Schicksals zu verändern, konnte keiner widerstehen. Denn in den Augen der Leute war eine mächtige Kartenleserin genau dazu fähig. Und wenn Amma etwas hatte, dann war es Macht.
Manchmal stieß ich in meiner Sockenschublade auf eines ihrer selbst gemachten Amulette, manchmal hing eines über der Tür, die ins Arbeitszimmer meines Vaters führte. Anfangs hatte ich einmal gefragt, wozu sie gut seien. Mein Vater neckte Amma jedes Mal, wenn er eines fand, aber ich bemerkte, dass er es niemals abnahm. »Vorsicht ist besser als Nachsicht.« Ich glaube, er meinte vorsichtig gegenüber Amma, bei der man schnell mal das Nachsehen hatte.
»Was weißt du sonst noch von ihr?«
»Pass bloß auf und kümmere dich um deine eigenen Sachen. Eines Tages starrst du noch ein Loch in den Himmel und dann fällt uns das ganze Weltall auf den Kopf. Dann sitzen wir erst richtig in der Patsche.«
Mein Vater kam im Schlafanzug in die Küche geschlurft. Er schenkte sich eine Tasse Kaffee ein und holte eine Schachtel Weizenflocken aus der Speisekammer. Ich sah, dass er die gelben Wachsstöpsel noch in den Ohren hatte. Die Packung Weizenflocken bedeutete, dass sein Tag jetzt gleich anfing. Die Ohrenstöpsel bedeuteten, dass er noch nicht richtig angefangen hatte.
Ich beugte mich zu Amma hinüber und raunte: »Was genau hast du gehört?«
Sie riss mir den Teller aus der Hand und trug ihn zur Spüle. Dann ließ sie Wasser über ein paar Knochen laufen, die nach Schweineschulter aussahen, was komisch war, denn es hatte heute ja Hühnchen gegeben, und legte sie auf einen Teller. »Das geht dich nichts an. Und überhaupt, ich möchte wissen, warum dich das so interessiert.«
Ich zuckte die Schultern. »Ich bin einfach neugierig, das ist alles.«
»Du weißt doch, was man über neugierige Menschen sagt.« Sie steckte eine Gabel in mein Stück Buttermilchpastete, dann funkelte sie mich an und weg war sie.
Sogar meinem Vater entging es nicht, dass die Küchentür hinter Amma ins Schloss krachte, und er zog einen Stöpsel aus dem Ohr. »Wie war’s in der Schule?«
»Gut.«
»Was hast du Amma getan?«
»Ich bin zu spät zur Schule gekommen.«
Er sah mich wissend an und ich erwiderte seinen Blick.
»Härte 2?«
Ich nickte.
»Gespitzt?«
»War schon gespitzt, aber dann hat sie ihn noch mal gespitzt«, seufzte ich. Dad lächelte beinahe, was selten vorkam. Ich war froh, ja fast ein bisschen stolz darauf, das geschafft zu haben.
»Weißt du, wie oft ich als Kind an diesem alten Tisch gesessen habe, während sie mit dem Bleistift auf mich zeigte?«, fragte er, aber es war eigentlich gar keine Frage. Dieser Tisch, schartig und fleckig von Farbe, Leim und Filzstiftspuren, die all die Wates bis hin zu mir auf ihm hinterlassen hatten, war einer der ältesten Gegenstände im ganzen Haus.
Ich schmunzelte. Mein Vater nahm seine Müslischale und fuchtelte mit dem Löffel in meine Richtung. Amma hatte schon meinen Vater großgezogen, ein Umstand, an den ich in meiner Kindheit immer dann mahnend erinnert worden war, wenn ich auch nur versucht hatte, ihr eine freche Antwort zu geben.
»M.Y.R.I.A.D.E.N.« Er buchstabierte das Wort, während er seine Schüssel in die Spüle stellte. »Oder: U.N.Z.A.E.H.L.I.G. Sprich: viel öfter als du, Ethan Wate.«
Als er unter das Licht der Küchenlampe trat, wich sein halbes Lächeln bereits einem Viertel Lächeln, und dann war es auch schon ganz verschwunden. Er sah sogar noch schlimmer aus als sonst. Die Schatten unter den Augen waren dunkler und man sah die Knochen unter der Haut hervortreten.
Seine Gesichtsfarbe war grünlich, weil er das Haus so gut wie nie verließ. Er sah aus wie eine lebende Leiche und das nun schon seit Monaten. Kaum vorstellbar, dass dies dieselbe Person war, die stundenlang mit mir am Ufer von Lake Moultrie gesessen hatte, um Sandwiches mit Hühnchensalat zu verdrücken und mir beizubringen, wie man eine Angelleine auswirft. »Zurück und los. Zehn und zwei. Zehn und zwei. Wie die Zeiger einer Uhr.« Die vergangenen fünf Monate waren schwer für ihn gewesen. Er hatte meine Mutter wirklich geliebt. Aber ich auch.
Dad nahm seinen Kaffee und schlurfte in sein Arbeitszimmer zurück. Es war an der Zeit, der Wahrheit ins Auge zu blicken. Wie es aussah, war Macon Ravenwood nicht der einzige Sonderling bei uns. Dabei war unsere Stadt eigentlich gar nicht groß genug für zwei Boo Radleys. Aber das eben war das längste Gespräch gewesen, das mein Dad und ich seit vielen Monaten geführt hatten, und ich wollte nicht, dass es vorüber war.
»Wie geht’s mit dem Buch voran?«, platzte ich heraus. Bleib und rede mit mir!, sollte das heißen.
Dad blickte überrascht hoch, dann zuckte er die Schultern. »Es geht so. Hab noch viel zu tun.« Ich kann einfach nicht, sollte das heißen.
»Die Nichte von Macon Ravenwood ist in die Stadt gezogen.« Ich sagte das gerade in dem Augenblick, in dem er sich die Stöpsel wieder in die Ohren steckte. Falsches Timing, wie immer zwischen uns. Wenn ich so darüber nachdachte, schien mir das in letzter Zeit allerdings bei den meisten Menschen so zu gehen.
Dad zog einen Ohrstöpsel raus, seufzte, dann zog er auch den anderen raus. »Wie?« Er war schon wieder auf dem Weg zurück ins Arbeitszimmer. Die Zeit, die für unsere Unterhaltung blieb, lief ab.
»Macon Ravenwood. Was weißt du über ihn?«
»Nicht mehr als alle anderen, nehme ich an. Er ist ein Einsiedler. Soweit ich weiß, hat er Ravenwood Manor seit Jahren nicht mehr verlassen.« Er stieß die Tür zum Arbeitszimmer auf und ging hinein, aber ich ging nicht mit. Ich blieb einfach vor der Tür stehen.
Ich setzte nie einen Fuß in das Zimmer. Einmal, ein einziges Mal, als ich sieben Jahre alt gewesen war, hatte mich mein Vater dabei erwischt, wie ich seinen Roman las, ehe er ihn noch einmal überarbeitet hatte. Sein Arbeitszimmer war ein dunkler, Furcht einflößender Raum. Über dem verschlissenen viktorianischen Sofa hing ein Gemälde, das Dad stets mit einem Tuch verdeckte. Und ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich je zu fragen gewagt hätte, was sich unter dem Tuch befand. Neben dem Sofa, am Fenster, stand der geschnitzte Mahagonischreibtisch meines Vaters, ein weiteres Erbstück, das mit dem Haus von einer Generation auf die andere gekommen war. Und Bücher stapelten sich überall, alte, in Leder gebundene Bücher, die so schwer waren, dass sie, wenn sie aufgeschlagen waren, auf einem riesigen Holzpult lagen. Das waren die Sachen, die uns mit Gatlin verbanden und mit Wates Landing, so wie sie meine Vorfahren seit über hundert Jahren an diesen Ort gebunden hatten.
Damals war auf dem Schreibtisch das Manuskript gelegen, in einer offenen Schuhschachtel, und ich musste einfach wissen, was darin stand. Mein Vater schrieb Gothic Horror, also eigentlich nichts, was ein Siebenjähriger lesen sollte. Aber jedes Haus in Gatlin steckte voller Geheimnisse, so wie der ganze Süden auch, und unser Haus bildete da keine Ausnahme, schon damals nicht.
Mein Dad fand mich, wie ich zusammengerollt auf dem Sofa in seinem Arbeitszimmer lag, die Blätter um mich herum verstreut, als wäre ein Feuerwerkskörper explodiert. Ich wusste damals noch nicht, wie man etwas verheimlicht, aber danach habe ich es ganz schnell gelernt. Ich erinnere mich nur noch, wie er mich anschrie und wie meine Mutter später in den Garten kam und mich weinend in der alten Magnolie entdeckte. »Es gibt ein paar Dinge, die gehen niemanden etwas an, Ethan, nicht einmal die Erwachsenen.«
Dabei war ich doch nur neugierig. Aber das war schon immer mein Problem gewesen und war es auch jetzt noch. Ich wollte wissen, weshalb mein Dad sein Arbeitszimmer nie verließ. Ich wollte wissen, warum wir für immer in diesem alten, heruntergekommenen Haus leben mussten, nur weil vor uns eine Million Wates hier gelebt hatten, ganz besonders jetzt, wo meine Mutter gestorben war.
Aber nicht heute Abend. Heute Abend wollte ich mich nur an Sandwiches mit Hühnchensalat erinnern, an zehn und zwei und an die Zeit, als mein Dad noch in der Küche gefrühstückt und dabei mit mir herumgealbert hatte. Und während ich mich daran erinnerte, schlief ich ein.
Noch ehe es am nächsten Morgen zur ersten Stunde läutete, gab es in der Jackson High nur ein Thema – Lena Duchannes. Irgendwie hatten es Loretta Snow und Eugenie Asher, die Mütter von Savannah und Emily, geschafft, zwischen zwei Stürmen und diversen Stromausfällen sowohl das Essen auf den Tisch zu bekommen als auch jeden in der Stadt anzurufen und ihm zu erzählen, dass die »Verwandtschaft« des verrückten Ravenwood mit dessen schwarzer Limousine in Gatlin herumkutschierte, mit der er sicher Leichen transportierte, wenn es niemand sah. Von da an wurde alles nur noch verrückter.
Es gibt zwei Dinge, auf die man sich in Gatlin hundertprozentig verlassen kann. Erstens: Du darfst anders sein als alle anderen, du darfst sogar durchgeknallt sein, solange du ab und zu das Haus verlässt, damit die Leute nicht denken, du seist ein Axtmörder. Zweitens: Wenn es etwas zu erzählen gibt, dann kannst du sicher sein, dass irgendwer es auch erzählt. Und eine Neue in der Stadt, die noch dazu in das Spukhaus einzog, in dem der schrullige Alte wohnte, das war ja wohl eine Geschichte, wahrscheinlich sogar die aufregendste Geschichte seit dem Unfall meiner Mutter. Ich hatte also eigentlich gar keinen Grund, überrascht zu sein, dass alle von ihr sprachen – alle, nur nicht die Jungs. Sie hatten Wichtigeres zu tun.
»Also, was haben wir denn da, Em?« Link knallte die Tür seines Garderobenschranks zu.
»Ich zähl die Neuen, die für die Cheerleader infrage kommen. Sieht aus, als hätten wir vier Achter, drei Siebener und eine Handvoll Vierer.« Emory machte sich nicht die Mühe, die Anfängerinnen aufzulisten, die er mit weniger als einer Vier bewertete.
Ich knallte die Spindtür ebenfalls zu. »Was soll das? Es sind dieselben Mädchen, die wir jeden Samstag beim Dar-ee Keen treffen.«
Emory lächelte und versetzte mir einen Schlag auf den Rücken. »Aber jetzt sind sie mit von der Partie, Wate.« Er betrachtete die Mädchen in der Aula. »Und ich bin bereit zum Spielen.« Emory hatte eine große Klappe, mehr aber auch nicht. Letztes Jahr, als wir selbst noch die Neulinge waren, hatte er sich ständig damit gebrüstet, mit welchen der coolen Älteren er sich anlegen würde, wenn er erst einmal in der Ligamannschaft war. Em war genauso durchgeknallt wie Link, aber nicht so harmlos. Er hatte etwas Fieses an sich, so wie alle aus der Watkins-Sippe.
Shawn schüttelte den Kopf. »Das ist wie Pfirsiche von den Stöcken pflücken.«
»Pfirsiche wachsen auf Bäumen.« Kaum war ich da, gingen sie mir schon wieder auf die Nerven, vielleicht weil ich die Typen schon am Zeitungsstand von Stop & Steal getroffen hatte und mir die gleiche Unterhaltung hatte anhören müssen, während Earl die paar Zeitschriften durchblätterte, die er überhaupt las – Hochglanzmagazine, in denen Mädchen in Bikinis abgebildet waren, die auf Motorhauben posierten.
Shawn blickte mich verdutzt an. »Wovon redest du überhaupt?«
Ich weiß selbst nicht, warum ich mich aufregte. Es war ein dämliches Gespräch, genauso dämlich wie der Umstand, dass sich alle Jungs am Mittwochmorgen vor der Schule versammelten. Ich nannte das insgeheim den Zählappell. Es gab einige Dinge, die musste man einfach mitmachen, wenn man im Team sein wollte. Man saß beim Mittagessen zusammen. Man ging auf die Partys von Savannah Snow, man lud eine von den Cheerleadern zum Winterball ein, hing am letzten Schultag am Lake Moultrie herum. Man konnte sich vor fast allem anderen drücken, wenn man nur zu diesem Appell erschien. Aber mir fiel es immer schwerer, dort zu erscheinen, und ich wusste nicht einmal, weshalb.
Ich wusste die Antwort darauf auch dann noch nicht, als ich sie sah.
Selbst wenn ich sie nicht gesehen hätte, hätte ich gewusst, dass sie da war, denn die Aula, in der es sonst vor Schülern wimmelte, die zu den Garderobenschränken eilten und rechtzeitig wieder in den Klassenzimmern sein wollten, bevor es zum zweiten Mal klingelte, war innerhalb von Sekunden menschenleer. Alle machten ihr Platz, als sie durch die Halle ging. So wie einem Rockstar.
Oder einer Aussätzigen.
Ich sah nur ein hübsches Mädchen in einem langen grauen Kleid. Darüber trug sie eine weiße Sportjacke mit dem Aufdruck Munich und unten schauten abgetragene schwarze Converse hervor. Ich sah ein Mädchen mit einer langen Kette um den Hals, von der alles Mögliche baumelte – ein Plastikring aus einem Kaugummiautomaten, eine Sicherheitsnadel und eine Menge anderes Zeug, das ich nicht erkennen konnte, weil ich zu weit weg war. Ich sah jemanden, der nicht so aussah, als gehörte er nach Gatlin. Und ich konnte einfach nicht aufhören, sie anzustarren.
Macon Ravenwoods Nichte. Was war mit mir los?
Sie strich sich die schwarzen Locken hinters Ohr, das Neonlicht spiegelte sich auf ihrem schwarzen Nagellack. Ihre Hände waren mit schwarzer Tinte verschmiert, als ob sie etwas darauf geschrieben hätte, und sie ging durch die Aula, als wären wir anderen gar nicht da. So grüne Augen wie ihre hatte ich noch nie gesehen, so unglaublich grün, es war fast eine völlig neue Farbe.
»Ja, die ist wirklich scharf«, sagte Billy.
Ich wusste genau, was ihnen jetzt durch den Kopf ging. Einen Augenblick lang dachten sie darüber nach, ihre Freundin sitzen zu lassen, wenn sie dafür bei ihr landen könnten. Für einen Augenblick kam sie für sie in Betracht.
Earl musterte sie von oben bis unten, dann knallte er seine Spindtür zu. »Abgesehen davon, dass sie eine Irre ist.«
Es schwang ein Unterton mit, so wie er es sagte, oder vielmehr, weshalb er es sagte. Sie war eine Irre, weil sie nicht aus Gatlin kam, weil sie nicht um jeden Preis bei den Cheerleadern mitmachen wollte, weil sie ihm keinen zweiten Blick zugeworfen hatte, nicht einmal einen ersten. An jedem anderen Tag hätte ich ihn einfach nicht beachtet und meinen Mund gehalten, aber heute war mir nicht danach.
»Also ist sie automatisch eine Irre für dich? Weil sie keine Cheerleader-Uniform hat, keine blonden Haare und keinen Minirock?«
Es war nicht schwer, Earls Miene zu lesen. Dies war eine jener Gelegenheiten, bei denen ich mich eigentlich seiner Meinung hätte anschließen müssen, aber ich hielt mich nicht an unsere stillschweigende Vereinbarung. »Weil sie eine Ravenwood ist«, sagte er knapp.
Die Botschaft war klar: Sie ist scharf, aber lass die Finger von ihr. Sie kam nicht länger in Betracht. Aber sie gafften sie trotzdem an, alle gafften sie an. Die ganze Aula, alle, die da waren, verfolgten sie mit Blicken, als wäre sie ein Reh, das sich in einer Schlinge verfangen hatte.
Aber sie ging einfach weiter, die Kette baumelte an ihrem Hals.
Ein paar Minuten später stand ich in der Tür zu meiner Englischklasse. Da war sie. Lena Duchannes. Die Neue, die auch noch in fünfzig Jahren die Neue sein würde, wenn man sie nicht einfach die Nichte des alten Ravenwood nannte; sie reichte gerade Mrs English ein rosafarbenes Formular, und die kniff die Augen zusammen, um es lesen zu können.
»Die haben meinen ganzen Stundenplan durcheinandergebracht, ich habe keine einzige Stunde Englisch«, sagte die Neue gerade. »Aber zwei Stunden Amerikanische Geschichte, dabei hatte ich die schon an meiner alten Schule belegt.« Sie klang frustriert und ich musste ein Grinsen unterdrücken. Jede Wette, sie hatte noch nie Amerikanische Geschichte gehabt, nicht wie Mr Lee sie unterrichtete.
»Natürlich. Setzen Sie sich auf irgendeinen freien Platz.« Mrs English drückte ihr ein Exemplar von Wer die Nachtigall stört in die Hand. Das Buch sah aus, als hätte es noch nie jemand aufgeschlagen, was vermutlich auch der Fall war, seit man es verfilmt hatte.
Die Neue sah auf und bemerkte, dass ich sie beobachtete. Ich schaute weg, aber es war schon zu spät. Ich versuchte, nicht zu grinsen, aber ich war verlegen, also grinste ich umso mehr. Sie schien es nicht zu bemerken.
»Danke, aber ich habe mein eigenes.« Sie zog ihr Buch heraus, es hatte einen festen Einband, auf dem ein Baum eingeprägt war. Es sah schon ziemlich alt und mitgenommen aus, so als hätte sie es mehr als nur einmal gelesen. »Es ist eines meiner Lieblingsbücher.« Sie sagte es einfach so, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt. Nun war ich es, der staunte.
Von hinten rammte mich eine Dampfwalze, und dann drängte Emily sich durch die Tür, als stünde ich gar nicht da. Das war ihre Art, mich zu begrüßen und mich aufzufordern, mit ihr in den hinteren Teil des Klassenzimmers zu gehen, wo unsere Freunde saßen.
Die Neue setzte sich auf einen freien Platz in der ersten Reihe, in das Niemandsland direkt vor dem Lehrerpult. Ganz falsch. Jeder wusste, dass man sich da nicht hinsetzte. Mrs English hatte ein Glasauge, und außerdem hörte sie furchtbar schlecht, was daher kam, dass ihre Familie den einzigen Schießplatz im Landkreis betrieb. Wenn man sich überallhin, nur nicht genau vor ihr Pult setzte, sah sie einen nicht und rief einen auch nicht auf. Lena würde für die ganze Klasse antworten müssen.
Emily grinste und machte extra einen Umweg, um zu ihrem Platz zu kommen, dabei trat sie gegen Lenas Tasche, sodass die Bücher über den Gang schlitterten.
»Hoppla!« Emily bückte sich und hob einen zerfledderten Spiralblock auf, dessen Einband schon fast auseinanderfiel. Sie hielt ihn in die Höhe wie eine tote Maus. »Lena Duchannes? Heißt du so? Ich dachte, du heißt Ravenwood.«
Lena hob langsam den Kopf. »Kann ich meinen Block wiederhaben?«
Emily blätterte durch die Seiten, als hätte sie nichts gehört. »Ist das dein Tagebuch? Bist du eine Schriftstellerin? Das ist ja so toll.«
Lena streckte die Hand aus. »Bitte.«
Emily klappte den Block zu und hielt ihn in die andere Richtung. »Kann ich ihn mir mal kurz ausleihen? Ich würde so gerne was von dir lesen.«
»Ich möchte ihn gleich zurückhaben. Bitte.«
Lena stand auf. Jetzt wurde es spannend. Die Nichte des alten Ravenwood war dabei, sich selbst eine Grube zu graben, aus der sie nie mehr herauskommen würde; niemand hatte ein solches Elefantengedächtnis wie Emily.
»Dazu müsstest du erst mal lesen können.« Ich nahm Emily das Tagebuch aus der Hand und gab es Lena zurück.
Dann setzte ich mich an den Tisch neben sie, mitten ins Niemandsland. Auf die Seite mit dem guten Lehrerauge. Emily sah mich ungläubig an. Ich weiß nicht, weshalb ich das tat. Ich war genauso verblüfft wie sie. In meinem ganzen Leben hatte ich nie in der ersten Reihe gesessen. Ehe Emily noch etwas sagen konnte, läutete es, aber das spielte keine Rolle; ich wusste, ich würde später dafür büßen. Lena schlug ihren Block auf und beachtete uns beide nicht.
»Können wir jetzt anfangen, Leute?« Mrs English schaute von ihrem Pult hoch.
Emily huschte zu ihrem üblichen Platz ganz hinten im Klassenzimmer, weit genug weg von der ersten Reihe, dass ihr Mrs English das Schuljahr über keine Fragen stellen würde, und für heute weit genug weg von der Nichte des alten Ravenwood. Und auch weit genug weg von mir. Was mich irgendwie erleichterte, selbst wenn ich dafür fünfzig Minuten lang die Beziehung zwischen Jem und Scout analysieren musste, ohne das Kapitel gelesen zu haben.
Als die Schulglocke wieder läutete, drehte ich mich zu Lena. Ich hatte keine Ahnung, was ich ihr sagen wollte. Vielleicht erwartete ich, dass sie sich bei mir bedanken würde. Aber sie sagte kein Wort, während sie ihre Bücher in den Rucksack packte.
156. Das war es, was sie auf ihren Handrücken geschrieben hatte.
Eine Zahl und sonst nichts.
Lena Duchannes sprach kein Wort mit mir, nicht an diesem Tag, nicht in dieser Woche. Was aber nicht bedeutete, dass ich nicht an sie dachte oder sie nicht überall sah, wo ich nicht hinschauen wollte. Da war aber noch etwas anderes, was mich umtrieb. Es war nicht die Art und Weise, wie sie aussah – ziemlich hübsch, wie ich fand, auch wenn sie immer die falschen Klamotten trug und diese ausgelatschten Turnschuhe. Es war auch nicht das, was sie im Unterricht sagte – gewöhnlich Dinge, auf die ein anderer niemals gekommen wäre, und wenn doch, hätte er niemals gewagt, sie laut auszusprechen. Es war auch nicht, weil sie ganz anders war als alle anderen Mädchen in Jackson. Das sah man ja auf den ersten Blick.
Es war, weil ich durch sie erkannte, dass ich um keinen Deut besser war als die anderen, selbst wenn ich gerne so getan hätte, als wäre es nicht so.
Den ganzen Tag über hatte es geregnet, und ich saß in Töpfern, auch EG, »Eins garantiert«, genannt, weil in diesem Kurs die Mühe allein belohnt wurde. Ich hatte mich im vergangenen Frühjahr dafür eingetragen, weil ich noch ein paar Kunststunden brauchte und auf keinen Fall bei der Band mitspielen wollte, die einen Stock tiefer geräuschvoll übte, unter Anleitung der wahnsinnig dürren und vor Begeisterung ausflippenden Miss Spider. Savannah setzte sich neben mich. Ich war der einzige Junge im Kurs, und weil ich ein Junge war, hatte ich keine Ahnung, was ich als Nächstes tun sollte.
»Heute experimentieren wir nur. Ihr bekommt keine Noten darauf. Spürt den Ton. Lasst euren Gedanken freien Lauf. Und hört nicht auf die Musik von unten.« Mrs Abernathy stöhnte auf, als die Band ein Stück, das vermutlich ein Dixie sein sollte, gnadenlos niedermachte.
»Greift tief hinein. Spürt den Weg zu eurer Seele.«
Seufzend klatschte ich den Ton auf die Töpferscheibe. Das war beinahe genauso schlimm wie der Orchesterkurs. Dann, als es im Raum stiller wurde und das Summen der Töpferscheiben das Schwätzen aus den hinteren Reihen übertönte, war auch von unten eine andere Musik zu hören. Ich hörte eine Violine spielen, vielleicht war es auch eine von diesen größeren Violinen, eine Bratsche oder so. Es hörte sich wunderschön und traurig zugleich an und es war sehr verwirrend. Diese tiefen Tönen, die einfache Melodie, das alles verriet mehr Begabung und einen besseren Musiker, als Miss Spider je das Vergnügen hatte zu dirigieren. Ich sah mich um. Niemand sonst schien die Musik zu hören.
Die Melodie ging mir unter die Haut. Ich erkannte sie wieder, und sofort hörte ich in Gedanken den Text, so klar und deutlich wie auf meinem iPod. Aber diesmal war er ein wenig verändert.
Sixteen moons, sixteen years
Sounds of thunder in your ears
Sixteen miles before she nears
Sixteen seeks what sixteen fears …
Ich starrte auf den Lehm, der vor mir im Kreis wirbelte, und der Klumpen verschwamm vor meinen Augen. Je mehr ich versuchte, mich auf ihn zu konzentrieren, desto mehr löste sich alles um ihn herum auf, bis das ganze Klassenzimmer sich mitdrehte und mein Tisch, mein Stuhl dazu. Als wäre alles eins, gefangen in einem unaufhörlichen Wirbel, der sich zum Rhythmus der Melodie drehte, die von unten aus dem Musiksaal heraufdrang. Langsam streckte ich die Hand aus und berührte den Lehm mit der Fingerspitze.
Dann gab es einen Blitz und der wirbelnde Raum löste sich auf und ich sah ein anderes Bild vor mir …
Ich stürzte.
Wir stürzten.
Ich war wieder in meinem Traum. Ich sah ihre Hand. Ich sah, wie meine Hand nach der ihren griff, meine Finger gruben sich in ihre Haut, in ihr Handgelenk, in dem verzweifelten Bemühen, sie festzuhalten. Aber sie entglitt mir, ich spürte es, ihre Finger rutschten aus meiner Hand.
»Lass nicht los!«
Ich wollte ihr helfen, ich wollte sie festhalten. Mehr als alles andere wollte ich das. Und dann glitten ihre Finger weg …
»Ethan, was machst du da?«, fragte Mrs Abernathy beunruhigt.
Ich schlug die Augen auf, versuchte, mich zu konzentrieren, versuchte, wieder in die Klasse zurückzufinden. Seit meine Mutter gestorben war, hatte ich nun schon diesen Traum, aber zum ersten Mal hatte ich ihn am helllichten Tag geträumt. Ich starrte auf meine grau verschmierte Hand, wo der trocknende Lehm schon eine Kruste bildete. In dem Lehm, der auf der Töpferscheibe lag, befand sich der deutliche Abdruck einer Hand, so als hätte ich den Gegenstand, den ich gerade bearbeitete, wieder glatt geklopft. Ich betrachtete den Abdruck genauer. Es war nicht meine Hand, dazu war sie viel zu klein. Es war die Hand eines Mädchens.
Es war ihre Hand.
Ich untersuchte meine Fingernägel, unter denen der Lehm hing, den ich von ihrem Handgelenk gekratzt hatte.
»Ethan, du könntest dich wenigstens ein bisschen anstrengen«, sagte Mrs Abernathy und legte mir die Hand auf die Schulter. Ich zuckte zusammen. Draußen hörte ich es donnern.
»Aber Mrs Abernathy, ich glaube, Ethans Seele spricht mit ihm«, kicherte Savannah und beugte sich zu mir. »Ich glaube, sie sagt ihm gerade, dass er sich die Fingernägel schneiden soll.«
Die Mädchen in meiner Nähe fingen an zu lachen. Ich zerstörte den Handabdruck mit der Faust und machte wieder ein klumpiges graues Etwas daraus. Als es klingelte, stand ich auf und wischte die Hände an meiner Jeans ab. Ich schnappte meinen Rucksack und rannte aus dem Klassenzimmer, rutschte in meinen nassen Chucks beinahe aus, als ich um die Ecke bog, und wäre um ein Haar über meine offenen Schnürsenkel gestolpert, als ich die zwei Treppen hinunterrannte, die zwischen mir und dem Musiksaal lagen. Ich musste wissen, ob ich mir das nur eingebildet hatte.
Mit beiden Händen stieß ich die Flügeltür des Musiksaals auf. Die Bühne war leer. Die Klasse drängelte an mir vorbei nach draußen. Ich lief in die verkehrte Richtung, lief gegen den Strom, wo doch alle anderen mit dem Strom schwammen. Ich atmete tief ein, aber ich wusste, was ich riechen würde, noch ehe ich es wirklich roch: Zitronen und Rosmarin.
Unten auf der Bühne sammelte Miss Spider die Notenblätter ein, die zwischen den Klappstühlen verstreut lagen, auf denen eben noch das unsägliche Orchester geprobt hatte. Ich rief zu ihr hinunter: »Entschuldigen Sie, Ma’am. Wer hat gerade dieses … dieses Lied gespielt?«
Sie lächelte mich an. »Wir haben einen wunderbaren Neuzugang bei unseren Streichern. Eine Bratsche. Sie ist erst vor Kurzem in die Stadt gezogen …«
Nein. Das konnte nicht sein. Nicht sie.
Ich drehte mich um und rannte davon, noch ehe Miss Spider den Namen sagen konnte.
Als nach der achten Stunde die Schulglocke läutete, wartete Link bereits vor den Garderobenschränken auf mich. Er fuhr sich mit der Hand durch das stachelige Haar und strich sein ausgewaschenes Black-Sabbath-T-Shirt glatt.
»Link. Ich brauche deine Autoschlüssel, Mann.«
»Und was ist mit dem Training?«
»Schaff ich nicht. Ich muss was erledigen.«
»Kumpel, wovon redest du?«
»Gib mir einfach deine Schlüssel.«
Ich musste hier raus. Ich hatte ständig diesen Traum, ich hörte das Lied, und nun war ich auch noch mitten im Unterricht weggedriftet, wenn man das überhaupt so nennen konnte. Ich wusste nicht, was mit mir los war, aber ich wusste, dass es nichts Gutes zu bedeuten hatte.
Meiner Mutter hätte ich wahrscheinlich alles erzählt. Sie war jemand, dem man alles erzählen konnte. Aber sie war tot, und mein Vater verkroch sich den ganzen Tag in seinem Arbeitszimmer, und Amma würde einen Monat lang Salz in meinem Zimmer verstreuen, wenn ich ihr davon erzählte.
Ich war ganz allein auf mich gestellt.
Link hielt mir die Schlüssel hin. »Der Trainer wird dich umbringen.«
»Ich weiß.«
»Amma wird es rauskriegen.«
»Ich weiß.«
»Sie wird dich mit Arschtritten zur Stadt hinausjagen.« Er fuchtelte herum, als ich hastig nach den Schlüsseln griff. »Mach keine Dummheiten.«
Ich drehte mich um und rannte los. Zu spät.