Die Zeichen an der Wand
1.11.
Am nächsten Morgen wusste ich nicht, wo ich war. Dann sah ich die Worte überall an der Wand und auf dem alten Eisenbett und an den Fenstern und den Spiegeln, alles war mit einem Textmarker in Lenas Handschrift vollgeschrieben; da fiel es mir wieder ein.
Ich hob den Kopf und wischte mir den Speichel von der Wange. Lena schlief offenbar immer noch wie eine Tote, ich sah nur ihre Zehenspitzen über den Bettrand ragen. Ich setzte mich ganz auf, mein Rücken war steif, weil ich auf dem Fußboden geschlafen hatte. Ich fragte mich, wer uns vom Dachboden hierhergebracht hatte und wie.
Mein Handy klingelte; es war der Wecker, den ich eingestellt hatte, damit mich Amma morgens nur dreimal rufen musste. Nur heute plärrte es nicht Bohemian Rhapsody, heute spielte es das Lied. Lena setzte sich auf, erstaunt und noch ganz verschlafen.
»Was ist …«
»Psst! Hör mal.«
Der Text war anders als sonst.
Sixteen moons, sixteen years,
Sixteen times you dreamed my fears,
Sixteen will try to bind the spheres,
Sixteen screams but just one hears …
»Stell das ab!« Sie nahm mein Handy und schaltete es aus, aber das Lied spielte weiter.
»Es geht um dich, glaube ich. Aber was genau bedeutet es?«
»Ich bin in der letzten Nacht fast gestorben. Ich hab die Nase voll von allem, was mich angeht. Ich hab die Nase voll von den verrückten Dingen, die mir zustoßen. Vielleicht handelt dieses blöde Lied ja zur Abwechslung mal von dir. Du bist schließlich derjenige, der sechzehn Jahre alt ist.« Frustriert ballte Lena die Hand zur Faust und schlug damit auf den Boden, als wolle sie eine Spinne totschlagen.
Die Musik hörte auf. Lena war heute nicht zu Scherzen aufgelegt. Ehrlich gesagt konnte ich es ihr nicht verdenken. Sie war grün im Gesicht und unsicher auf den Beinen, und sie sah irgendwie noch schlimmer aus als Link an jenem Morgen am letzten Schultag vor den Winterferien, als Savannah ihn herausgefordert hatte, die alte Flasche Pfefferminzschnaps aus der Speisekammer ihrer Mutter zu trinken. Noch drei Jahre später konnte er keine Pfefferminzstange essen.
Lenas Haar stand in allen Richtungen ab und ihre Augen waren noch klein und verquollen vom vielen Weinen. So also sahen Mädchen am Morgen vor dem Aufstehen aus. Ich hatte noch nie eins gesehen, jedenfalls nicht aus der Nähe. Ich versuchte, nicht an Amma zu denken und daran, dass die Hölle los sein würde, wenn ich nach Hause käme.
Ich kroch aufs Bett und zog Lena an mich. Mit der Hand strich ich über ihr widerspenstiges Haar. »Geht’s dir wieder besser?«
Sie schloss die Augen und vergrub ihr Gesicht in meinem Sweatshirt. Ich roch inzwischen sicherlich wie eine Beutelratte. »Ich glaube schon.«
»Ich habe dich den ganzen Weg von zu Hause bis hierher schreien gehört.«
»Wer hätte gedacht, dass Kelting mir einmal das Leben retten würde?«
Wie üblich stand ich auf der Leitung. »Was ist Kelting?«
»Die Art und Weise, wie wir uns untereinander verständigen, egal wo wir gerade sind, nennen wir Kelting. Manche Caster beherrschen es, manche nicht. Ridley und ich haben uns in der Schule immer auf diese Weise unterhalten …«
»Aber du hast doch gesagt, du hättest so etwas noch nie zuvor erlebt.«
»Ich habe es noch nie zuvor mit einem Sterblichen erlebt. Onkel Macon sagt, das geschieht äußerst selten.«
Das höre ich gern.
Lena knuffte mich. »Diese Fähigkeit kommt aus der keltischen Linie meiner Familie. Auf diese Weise haben die Caster während der Hexenprozesse untereinander Botschaften ausgetauscht. In Amerika nannte man es das ›Raunen‹.«
»Aber ich bin kein Caster.«
»Ich weiß. Das ist ja das Verrückte daran. Kelting ist eigentlich nicht dafür gedacht, sich mit Sterblichen zu unterhalten.« Natürlich nicht.
»Findest du nicht, dass es ein bisschen mehr als nur verrückt ist? Wir beide können uns mit Kelting unterhalten, Ridley kam durch meine Hilfe nach Ravenwood, sogar dein Onkel sagt, ich könne dich irgendwie beschützen. Wie ist das möglich? Ich bin kein Caster, so viel steht fest. Meine Eltern sind zwar anders als die meisten Leute hier, aber auch nicht so anders.«
Sie lehnte sich an meine Schulter. »Vielleicht muss man ja gar kein Caster sein, um übersinnliche Kräfte zu haben.«
Ich strich ihr die Haare aus dem Gesicht. »Vielleicht muss man sich nur in ein Caster-Mädchen verlieben.«
Ich hatte das einfach so gesagt. Keine albernen Witzchen danach, kein rascher Themenwechsel. Und ich war nicht einmal verlegen, denn es war die Wahrheit. Ich hatte mich verliebt. Ich glaube, ich war schon immer in sie verliebt gewesen. Sie durfte es ruhig wissen – wahrscheinlich wusste sie es ohnehin schon längst –, denn es gab kein Zurück mehr. Jedenfalls nicht für mich.
Sie sah zu mir hoch und die ganze Welt um uns herum versank. Es gab nur noch uns beide, es würde immer nur uns beide geben und wir brauchten keine übernatürlichen Kräfte dazu. Es war wunderschön und traurig zugleich. Ich konnte nicht in ihrer Nähe sein, ohne etwas, ohne alles zu fühlen.
Woran denkst du gerade?
Sie lächelte.
Das wirst du schon herausfinden. Du musst es nur lesen.
Noch während sie das sagte, erschien die Schrift an der Wand. Langsam, ein Wort nach dem anderen.
Du bist
nicht
der
Einzige,
der sich
verliebt hat.
Es schrieb sich von selbst, in der gleichen schwungvollen Schrift, mit der auch die anderen Wände beschrieben waren. Lena wurde ein bisschen rot und sie verbarg das Gesicht in den Händen. »Das kann ja ziemlich peinlich werden, wenn alles, was mir durch den Kopf geht, sofort an der Wand erscheint.«
»Du wolltest das gar nicht?«
»Nein.«
Es braucht dir nicht peinlich zu sein, L.
Ich zog ihre Hände vom Gesicht weg.
Ich empfinde nämlich das Gleiche für dich.
Sie hatte die Augen geschlossen, und ich beugte mich vor, um sie zu küssen. Es war ein hauchzarter Kuss, ein Nichts von einem Kuss. Aber mein Herz fing an zu rasen.
Sie schlug die Augen auf und lächelte. »Ich will den Rest auch noch hören. Ich will wissen, wie du mir das Leben gerettet hast.«
»Ich weiß nicht mal genau, wie ich hierhergekommen bin. Und dann habe ich dich nirgends gefunden, und das Haus war voll von diesen unheimlichen Leuten, die aussahen, als wären sie auf einer Kostümparty.«
»Das waren sie nicht.«
»Das dachte ich mir schon.«
»Und dann hast du mich gefunden?« Sie legte den Kopf in meinen Schoß und schaute lächelnd zu mir hoch. »Du kamst auf einem weißen Hengst in den Raum geprescht und hast mich aus den Händen eines Dunklen Casters vor dem sicheren Tod gerettet?«
»Mach keine Witze. Das war total unheimlich. Und da war auch kein Hengst, sondern ein Hund.«
»Das Letzte, an was ich mich erinnern kann, war, dass Onkel Macon von dem Bann, der bindet, gesprochen hat.« Lena spielte mit ihren Haaren und überlegte.
»Und was war mit diesem Kreis?«
»Der Sanguinis-Kreis. Der Kreis des Blutes.«
Ich bemühte mich, mein Entsetzen zu verbergen. Bei dem Gedanken an Amma und die Hühnerknochen wurde mir immer noch ganz mulmig. Beim Anblick von Hühnerblut würde mir bestimmt schlecht, doch ich hoffte stark, dass hier wirklich nur von Hühnerblut die Rede war. »Ich habe kein Blut gesehen.«
»Kein wirkliches Blut, du Dummkopf. Blut im Sinne von Blutsverwandtschaft, von Familie. Meine gesamte Familie ist doch an diesem Feiertag hierhergekommen, weißt du das nicht mehr?«
»Stimmt. Entschuldige.«
»Wie ich schon sagte, Halloween ist die perfekte Nacht für Caster-Magie.«
»Das also habt ihr alle hier oben getrieben? Deshalb standen alle in einem Kreis?«
»Macon wollte Ravenwood binden. Es ist zwar immer gebunden, aber er erneuert den Bann an jedem Halloween für das kommende Jahr.«
»Aber diesmal ist etwas schiefgegangen.«
»Anscheinend, denn wir waren in dem Kreis, und dann hörte ich, wie Onkel Macon etwas zu Tante Del sagte, und dann schrien alle durcheinander und redeten etwas von einer Frau, die Sara oder so ähnlich hieß.«
»Sarafine. Das hab ich auch gehört.«
»Sarafine. Was ist das für ein Name?«
»Sie muss eine Dunkle Caster sein. Vor ihr schienen alle irgendwie Angst zu haben. Ich habe deinen Onkel noch nie so erlebt. Was genau ist mit dir passiert? Wollte sie dich wirklich töten?« Ich wusste nicht, ob ich die Antwort hören wollte.
»Keine Ahnung. Ich kann mich nur an sehr wenig erinnern. Da war diese Stimme, jemand, der sehr weit weg war, sprach zu mir. Aber ich weiß nicht mehr, was er gesagt hat.« Sie zappelte auf meinem Schoß herum, um noch etwas näher heranzurutschen, und lehnte sich an meine Brust. Ich spürte ihr Herz, das wie ein kleiner Vogel in seinem Käfig flatterte, über meinem eigenen schlagen. Wir hatten uns so dicht aneinander geschmiegt, wie sich zwei Menschen nur aneinander schmiegen können, keiner schaute dabei den anderen an. Ich glaube, genau das war es, was wir beide an diesem Morgen brauchten.
»Ethan, die Zeit läuft uns davon. Es hat keinen Sinn. Was immer es auch gewesen sein mag, was immer sie auch sein mag, glaubst du nicht auch, dass sie meinetwegen gekommen ist, weil ich mich in vier Monaten wandle?«
»Nein.«
»Nein? Mehr hast du nicht zu sagen zu der schlimmsten Nacht meines Lebens, in der ich fast gestorben wäre?« Lena stieß mich weg.
»Denk doch mal nach. Würde diese Sarafine dich verfolgen, wenn du zu den Bösen gehören würdest? Nein, dann würden dich die Guten verfolgen. Schau dir Ridley an. Keiner in deiner Familie hat einen roten Teppich zu ihrer Begrüßung ausgerollt.«
»Nur du, du Dummkopf.« Sie versetzte mir scherzhaft einen Stoß in die Rippen.
»Genau. Weil ich kein Caster bin, sondern nur ein mickriger Sterblicher. Du hast doch selbst gesagt: Wenn sie mir befehlen würde, von einer Klippe zu springen, würde ich es tun.«
Lena warf ihr Haar zurück. »Ethan Wate, hat dich deine Mutter nicht irgendwann mal gewarnt, hinterherzuspringen, wenn deine Freunde von einer Klippe springen?«
Ich schlang die Arme um sie, und ich war glücklicher, als ich es hätte sein dürfen nach allem, was in der letzten Nacht geschehen war. Vielleicht lag es ja auch nur daran, dass es Lena besser ging. In diesen Tagen floss ein so mächtiger Strom zwischen uns beiden, dass man kaum sagen konnte, was von mir und was von ihr kam.
Ich wusste nur, dass ich sie küssen wollte.
Du wirst zu den Lichten gehören.
Und dann tat ich es. Ich küsste sie.
Ganz bestimmt.
Ich küsste sie noch einmal und zog sie in meine Arme. Sie zu küssen war wie atmen. Ich musste es einfach tun. Ich konnte mich nicht dagegen wehren. Ich drückte mich an sie. Ich hörte ihren Atem, spürte ihren Herzschlag an meiner Brust. Alle meine Nerven waren auf einmal wie elektrisiert. Meine Haare standen zu Berge. Ihre schwarzen Locken fielen auf meine Hände und sie ließ sich ganz in meine Umarmung fallen. Jede Berührung ihres Haars spürte ich wie einen elektrischen Schlag. Auf diesen Moment hatte ich gewartet, seit ich ihr zum ersten Mal begegnet war, seit ich zum ersten Mal von ihr geträumt hatte.
Es war, als würde der Blitz einschlagen. Wir waren eins.
Ethan.
Ich hörte das Verlangen, das in diesem Wort mitschwang. Ich spürte es auch, ich konnte ihr gar nicht nahe genug kommen. Ihre Haut fühlte sich weich und warm an. Ich spürte Tausende kleine Nadelstiche, mein ganzer Körper stand unter Hochspannung. Unsere Lippen waren schon ganz rau, so leidenschaftlich küssten wir uns. Das Bett begann zu beben und dann hob es ab. Ich spürte, wie es unter uns schwankte. Ich hatte das Gefühl, als fielen meine Lungen in sich zusammen. Es überlief mich eiskalt. Die Lichter gingen flackernd an und aus, alles drehte sich, vielleicht wurde es auch dunkel um uns; ich konnte nicht genau sagen, ob mir die Sinne schwanden oder ob es im Zimmer finster geworden war.
Ethan!
Das Bett krachte auf den Fußboden. Von Ferne hörte ich das Geräusch von splitterndem Glas, als wäre ein Fenster zu Bruch gegangen. Ich hörte, wie Lena aufschluchzte.
Dann hörte ich die Stimme eines Kindes. »Was ist los, Lena Longina? Warum bist du so traurig?«
Ich spürte, wie sich eine kleine, warme Hand auf meine Brust legte. Die Wärme strahlte von der Hand in meinen Körper, und sofort hörte das Zimmer auf, sich zu drehen. Ich konnte wieder atmen und schlug die Augen auf.
Vor mir stand Ryan.
Ich setzte mich auf, mein Kopf dröhnte. Lena saß neben mir und hatte den Kopf an meine Brust gedrückt, genau wie sie es vor einer Stunde getan hatte. Nur waren inzwischen alle Fensterscheiben zersprungen, ihr Bett war zusammengebrochen, und ein kleines blondes Mädchen von zehn Jahren stand vor mir und hatte ihre Hand auf meine Brust gelegt. Lena, die immer noch schniefte, schob ein Stück eines zerbrochenen Spiegels von mir weg.
»Ich glaube, jetzt wissen wir, was Ryan ist.«
Lena lächelte und wischte sich die Augen trocken. Dann drückte sie Ryan an sich. »Ein Thaumaturg. So einen hatten wir noch nie in unserer Familie.«
»Ich vermute, das ist einer dieser ulkigen Caster-Namen für eine Heilerin«, sagte ich und rieb mir den Kopf.
Lena nickte und küsste Ryan auf die Wange.
»So was Ähnliches.«