Die Ahnen
9.10.
Die haarsträubende Geschichte hatte mir eingeleuchtet, als ein hübsches Mädchen sie erzählt hatte. Aber als ich wieder allein zu Hause war und in meinem eigenen Bett lag, drehte ich fast durch. Nicht einmal Link würde mir ein Wort davon glauben. Ich versuchte, mir vorzustellen, wie die Unterhaltung verlaufen würde. Ach übrigens, Kumpel, das Mädchen, das ich mag und dessen richtigen Namen ich nicht kenne, ist eine Hexe, Entschuldigung, eine Caster, und sie kommt aus einer Familie, in der alle Magier oder so was Ähnliches sind, und in fünf Monaten wird sie herausfinden, ob sie gut oder böse ist. Sie kann Hurrikans durchs Haus jagen und Fensterscheiben zum Bersten bringen. Und ich kann in die Vergangenheit schauen, wenn ich das komische Medaillon berühre, das Amma und Macon Ravenwood, der überhaupt kein Sonderling ist, am liebsten tief in der Erde vergraben wollen. Jenes Medaillon, das plötzlich am Hals einer Frau in einem Porträt aufgetaucht ist, obwohl es vorher nicht da war, und dieses Porträt hängt in Ravenwood, was nebenbei gesagt auch kein Spukhaus ist, sondern ein perfekt erhaltenes Herrenhaus, das jedes Mal völlig anders aussieht, wenn ich dorthin gehe, um ein Mädchen zu besuchen, das mich zum Glühen bringt, das mich zum Zittern und zum Beben bringt, sobald es mich nur berührt.
Und ich habe sie geküsst. Und sie hat meinen Kuss erwidert.
Es war völlig unglaubwürdig, sogar für mich selbst. Seufzend drehte ich mich auf die andere Seite.
Hin und her.
Der Wind riss mich hin und her.
Ich hielt mich an einem Baum fest, als mich eine besonders heftige Böe erfasste und das Brüllen des Sturms mir fast das Trommelfell zerriss. Um mich herum peitschten die Winde, kämpften gegeneinander, mit jeder Sekunde wurden sie schneller und kräftiger. Der Hagel prasselte nieder, als hätte der Himmel sämtliche Schleusen geöffnet. Ich musste weg von hier.
Aber nirgends war ein Weg.
Lass mich Ethan. Rette dein eigenes Leben.
Ich konnte sie nicht sehen, der Wind war zu heftig. Aber ich spürte sie. Ich hielt sie so fest am Handgelenk, dass ich fürchtete, es würde brechen. Ich kümmerte mich nicht darum, ich wollte nicht loslassen. Der Wind änderte seine Richtung und riss mich in die Höhe. Ich klammerte mich noch fester an den Baum, hielt ihren Arm noch fester. Aber ich merkte, wie uns die Sturmgewalt auseinanderriss.
Ich wurde weggezerrt, weg vom Baum, weg von ihr. Ich spürte, wie sie mir entglitt …
Ich wachte auf und hustete. Der Wind brannte noch in meinem Gesicht. Als wäre meine Nahtoderfahrung in Ravenwood nicht genug gewesen, kamen jetzt auch noch die Träume wieder. Es war zu viel für eine Nacht, sogar für mich. Die Tür zu meinem Schlafzimmer stand weit offen, was merkwürdig war, da ich sie am Abend fest verschlossen hatte. Das Letzte, was ich jetzt brauchte, war Amma, die irgendeinen Voodoozauber vollführte, während ich schlief.
Ich starrte an die Decke. An Schlafen war nicht zu denken. Ich seufzte und tastete suchend mein Bett ab. Ich knipste die alte Sturmlampe an, die neben meinem Bett stand, zog das Lesezeichen aus Snow Crash, dort wo ich mit dem Lesen aufgehört hatte, als ich plötzlich etwas hörte. Schritte? Das Geräusch kam aus der Küche, leise, aber unverkennbar. Vielleicht war es Dad, der eine Pause vom Schreiben machte. Vielleicht war dies ja eine Gelegenheit, mit ihm zu reden. Vielleicht.
Aber als ich am Fußende der Treppe stand, wusste ich, dass es nicht Dad war. Die Tür zu seinem Arbeitszimmer war zu und unter dem Türschlitz fiel ein Lichtstrahl hindurch. Es musste also Amma sein. Gerade als ich mich zur Küchentür schlich, sah ich, wie sie durch die Diele in ihr Zimmer rannte, soweit man bei Amma von rennen sprechen konnte. Dann hörte ich, wie die hintere Tür mit dem Fliegengitter quietschend zufiel. Jemand kam oder ging. Nach allem, was sich heute Abend schon ereignet hatte, war das ein wichtiger Unterschied.
Ich ging auf die Vorderseite des Hauses. Ein alter, verbeulter Lieferwagen, ein Studebaker aus den Fünfzigern, stand mit laufendem Motor am Straßenrand. Amma lehnte an der Seitentür und unterhielt sich mit dem Fahrer. Dann gab sie dem Fahrer eine Tüte und stieg ein. Wo wollte sie hin, mitten in der Nacht?
Ich musste ihr folgen. Aber es war schwierig, der Frau, die wie eine Mutter zu mir war, zu folgen, wenn man selbst kein Auto hatte. Mir blieb nichts anderes übrig, ich musste den Volvo nehmen. Das war das Auto, mit dem meine Mutter gefahren war, als der Unfall passierte; jedes Mal wenn ich das Auto sah, musste ich als Erstes daran denken.
Ich rutschte hinters Lenkrad. Wie früher schon roch es nach altem Papier und Reinigungsmitteln.
Ohne Licht zu fahren, war schwieriger, als ich es mir vorgestellt hatte, aber ich vermutete, dass der Lieferwagen Richtung Wader’s Creek fuhr. Amma wollte bestimmt nach Hause. Der Wagen bog von der Route 9 ab und fuhr ins Hinterland. Als er schließlich am Straßenrand stehen blieb, machte ich den Motor aus und stellte den Volvo am Seitenstreifen ab.
Amma öffnete die Tür und die Innenbeleuchtung ging an. Ich spähte in die Dunkelheit. Ich erkannte den Fahrer; es war Carlton Eaton, unser Postbote. Weshalb bat Amma ausgerechnet Carlton Eaton, sie mitten in der Nacht zu fahren? Ich hatte die beiden noch nie zuvor zusammen gesehen.
Amma sagte etwas zu Carlton und machte die Tür zu. Der Lieferwagen fuhr ohne sie auf die Straße zurück. Ich stieg aus und folgte Amma.
Amma war ein Gewohnheitstier. Wenn etwas sie so aus der Ruhe brachte, dass sie sich mitten in der Nacht heimlich ins Sumpfland aufmachte, dann konnte man sicher sein, dass mehr als nur einer ihrer üblichen Kunden dahintersteckte.
Sie verschwand im Dickicht, an einer Stelle, an der jemand mit viel Mühe einen Weg angelegt hatte. Sie ging im Dunklen weiter, der Kies knirschte unter ihren Schritten. Ich lief auf dem Grasstreifen neben dem Weg, damit ich mich nicht verriet. Ich redete mir ein, ich machte das nur, weil ich wissen wollte, weshalb Amma mitten in der Nacht zu sich nach Hause schlich, aber hauptsächlich hatte ich Angst, sie würde mich dabei ertappen, dass ich ihr nachspionierte.
Es war unschwer zu erkennen, woher Wader’s Creek seinen Namen hatte, man musste tatsächlich durch Tümpel mit schwarzem Wasser waten, um zu dem Sumpf zu gelangen, jedenfalls auf dem Weg, auf dem Amma mir voranging. Wäre nicht Vollmond gewesen, hätte ich mir wahrscheinlich das Genick gebrochen, als ich versuchte, ihr durch das Labyrinth aus moosbewachsenen Eichen und dichtem Gestrüpp zu folgen. Das Wasser war nicht mehr weit entfernt. Ich spürte die feuchte Luft, sie fühlte sich heiß und klebrig auf der Haut an.
Am Rand des Sumpfs lagen Holzflöße, eines neben dem anderen, sie bestanden aus Zypressenstämmen, die mit Seilen zusammengebunden waren. Es waren Arme-Leute-Fähren. Sie lagen am Ufer wie Taxis, die darauf warteten, die Menschen über den Fluss zu setzen. Im Mondlicht sah ich Amma, die gekonnt auf einem Floß balancierte, sich dann mit einer langen Stange vom Ufer abstieß und sie wie ein Ruder verwendete, um auf die andere Seite zu staken.
Ich war zwar seit Jahren nicht mehr in der Nähe von Ammas Haus gewesen, aber an diesen Ort konnte ich mich überhaupt nicht erinnern. Damals hatten wir wahrscheinlich einen anderen Weg genommen, aber in der Dunkelheit war das schwer zu sagen. Was ich aber erkennen konnte, war, wie verrottet die Stämme waren, ein Floß sah so wackelig aus wie das andere. Also suchte ich irgendeines aus.
Es war viel schwieriger, das Floß zu steuern, als es bei Amma den Anschein erweckt hatte. Alle paar Minuten hörte man ein Klatschen, wenn ein Alligator sich in den Sumpf gleiten ließ und mit dem Schwanz aufs Wasser schlug. Ich war froh, dass ich nicht auf die Idee gekommen war, durchs Wasser zu waten.
Ich stieß mich mit meinem langen Stecken ein letztes Mal vom Grund ab, dann landete das Floß am gegenüberliegenden Ufer. Als ich auf den Sand trat, sah ich Ammas Haus, das klein und bescheiden dalag; ein einzelnes Fenster war erleuchtet. Die Fensterrahmen waren in dem gleichen Himmelblau gestrichen wie die in Wate’s Landing. Das Haus war aus Zypressenholz und war so selbst ein Teil der Sumpflandschaft.
Aber da war noch etwas. Etwas lag in der Luft. Stark und penetrant wie der Duft nach Zitronen und Rosmarin und genauso unerklärlich. Zum einen blühte der Sternjasmin nicht im Herbst, sondern nur im Frühling, zum anderen wuchs er nicht im Sumpf. Dennoch war er da. Der Geruch war unverkennbar. Er hatte etwas Unwirkliches an sich, so wie überhaupt diese Nacht seltsam unwirklich war.
Ich beobachtete das Haus. Nichts rührte sich. Vielleicht hatte Amma beschlossen, in ihr Haus zurückzukehren. Vielleicht wusste mein Vater ja, warum sie weggehen wollte, und ich lief sinnlos durch die Nacht und riskierte, wegen nichts und wieder nichts von einem Alligator gefressen zu werden.
Ich wollte gerade wieder durch den Sumpf zurückgehen und wünschte mir insgeheim, ich hätte Brotkrumen auf meinem Weg hierher gestreut, als die Tür aufging. Amma stand im Lichtschein der geöffneten Tür. Sie stopfte Dinge, die ich nicht genau erkennen konnte, in ihre gute weiße Lackledertasche. Sie hatte ihr bestes lavendelfarbenes Sonntagskleid an, dazu trug sie weiße Handschuhe und einen passenden schicken Hut, der ringsherum mit Blumen geschmückt war.
Sie machte sich auf in den Sumpf. Wollte sie wirklich in diesem Aufzug dorthin gehen? Sosehr mir dieser Abstecher zu Ammas Haus zuwider war, in meinen durchweichten Jeans durch den Sumpf zu stapfen, war noch schlimmer. Der Schlamm war so zäh, dass ich das Gefühl hatte, als müsste ich bei jedem Schritt meine Füße aus einer Zementmasse ziehen. Ich hatte keine Ahnung, wie Amma das in ihrem Alter und diesem Aufzug schaffte.
Amma schien ganz genau zu wissen, wo sie hinwollte; sie blieb auf einer Lichtung stehen, die mit hohem Gras und Sumpfpflanzen bewachsen war. Die Äste der Zypressen und der Trauerweiden hatten sich ineinander verschlungen und bildeten einen Baldachin über ihrem Kopf. Mir lief es kalt über den Rücken, obwohl es hier draußen über zwanzig Grad warm war. Ich hatte heute Abend schon so viel gesehen, trotzdem kam mir dieser Ort besonders unheimlich vor. Vom Wasser her stieg leichter Nebel auf, sickerte über das Ufer wie Dampf, der unter dem Deckel eines kochenden Topfs quillt. Ich ging näher heran. Sie zog etwas aus ihrer Tasche hervor, das weiße Lackleder glänzte im Mondlicht.
Knochen. Es sah aus wie Hühnerknochen.
Amma beugte sich darüber und murmelte etwas, dann steckte sie die Knochen in ein Säckchen, das so ähnlich aussah wie der Beutel, den sie mir gegeben hatte, um die Kraft des Medaillons zu bannen. Wieder kramte sie in ihrer Tasche und holte ein kleines Handtuch heraus, von der Art, die man in Damentoiletten findet, damit wischte sie sich den Schlamm vom Kleid. In der Ferne erkannte ich blasse weiße Lichter, die in der Schwärze der Nacht wie Glühwürmchen blinkten, und ich hörte Musik, langsame, sinnliche Melodien, und dann Gelächter. Irgendwo, gar nicht weit weg, tranken und tanzten ein paar Leute hier draußen im Sumpf.
Amma hob den Kopf. Irgendetwas hatte ihre Aufmerksamkeit erregt, aber ich hatte nichts gehört.
»Du kannst aus deinem Versteck kommen. Ich weiß, dass du hier bist.«
Ich erstarrte. Sie hatte mich entdeckt.
Aber sie hatte nicht mich gemeint. Aus dem wabernden Nebel trat, eine Zigarre in der Hand, Macon Ravenwood hervor. Er wirkte ganz entspannt, als hätte ihn gerade sein Chauffeur hier abgesetzt, und ganz bestimmt nicht so, als wäre er durch das schmutzig schwarze Wasser gewatet. Er sah wie immer elegant aus in seinem blütenweißen Hemd.
Und auch der Rest von ihm war makellos. Amma und ich waren bis zu den Knien voller Schlamm und Gras, im Gegensatz zu Macon Ravenwood, auf dessen Kleidung sich nicht der kleinste Fleck befand.
»Na endlich. Du weißt, dass ich nicht die ganze Nacht Zeit habe, Melchizedek. Ich muss wieder zurück. Außerdem macht es mir nicht gerade Spaß, hier rausbestellt zu werden, so weit weg von der Stadt. Das gehört sich nicht. Ganz zu schweigen davon, dass es unpraktisch ist.« Sie schnaubte. »Man könnte auch sagen beschwerlich.«
B.E.S.C.H.W.E.R.L.I.C.H. Zwölf senkrecht. Ich buchstabierte das Wort im Geiste.
»Ich habe selbst einen ziemlich ereignisreichen Abend hinter mir, Amarie, aber diese Angelegenheit erfordert es, dass wir uns unverzüglich ihrer annehmen.« Macon ging ein paar Schritte auf sie zu.
Amma erschrak und zeigte mit ihrem knochigen Finger auf ihn. »Bleib, wo du bist. Mir ist es ohnehin unangenehm, mit jemandem von deiner Sorte in einer Nacht wie dieser hier draußen zu sein. Ausgesprochen unangenehm. Du bleibst, wo du bist, und ich bleibe, wo ich bin.«
Er ging lässig ein paar Schritte zurück und blies Rauchkringel in die Luft. »Wie ich schon sagte, gewisse Angelegenheiten entwickeln sich in eine Richtung, die unser rasches Eingreifen erfordert.« Er seufzte mit rauchiger Stimme. »Wenn der Mond am größten ist, ist er am weitesten von der Sonne weg, wie unsere guten Freunde von der Geistlichkeit zu sagen pflegen.«
»Red nicht so geschwollen daher, Melchizedek. Was gibt es denn so Wichtiges, dass du mich mitten in der Nacht aus dem Bett holen musst?«
»Genevieves Medaillon, unter anderem.«
Amma heulte auf und hielt sich ihr Schultertuch vors Gesicht. Offenbar konnte sie kaum ertragen, das Wort Medaillon auch nur zu hören. »Was ist mit dem Ding? Ich habe dir doch gesagt, dass ich es gebannt habe, und ich habe dem Jungen aufgetragen, es nach Greenbrier zurückzubringen und dort zu vergraben. Wenn es wieder unter der Erde liegt, kann es keinen Schaden anrichten.«
»Annahme Nummer eins ist falsch und Annahme Nummer zwei ebenfalls. Er hat das Medaillon noch. Er hat es mir sogar in meinen geheiligten vier Wänden gezeigt. Davon abgesehen weiß ich nicht, ob man einen so bösen Talisman überhaupt bannen kann.«
»In deinem Haus … wann war er in deinem Haus? Ich habe ihm doch gesagt, er soll einen Bogen um Ravenwood machen.« Jetzt war sie wirklich erschüttert. Na großartig. Ich würde es früher oder später büßen müssen, Amma würde sich schon etwas einfallen lassen.
»Nun, vielleicht solltest du in Erwägung ziehen, ihn eine Weile an die kurze Leine zu nehmen. Natürlich hört er nicht immer auf dich. Und ich habe dich gewarnt, dass diese Freundschaft gefährlich werden könnte, dass mehr als nur Freundschaft daraus werden könnte. Aber eine gemeinsame Zukunft der beiden ist ein Ding der Unmöglichkeit.«
Amma murmelte leise etwas vor sich hin. So machte sie es immer, wenn ich ihr nicht gehorchte. »Er hat immer auf mich gehört, bis er deine Nichte kennengelernt hat. Und gib mir nicht die Schuld daran. Wir säßen jetzt gar nicht in dieser Patsche, wenn du sie nicht hierhergebracht hättest. Ich kümmere mich um die Angelegenheit. Ich werde ihm sagen, dass er sie nicht mehr sehen kann.«
»Sei nicht albern. Sie sind Teenager. Je mehr wir versuchen, sie auseinanderzubringen, desto mehr werden sie versuchen, zusammen zu sein. Sobald sie berufen wurde, wird das ohnehin kein Thema mehr sein – falls wir es überhaupt bis dahin schaffen. In der Zwischenzeit musst du auf den Jungen aufpassen, Amarie. Es sind nur noch wenige Monate. Die Gefahr ist schon groß genug, ohne dass er noch mehr Unheil anrichtet.«
»Sprich mir nicht von Unheil, Melchizedek Ravenwood. Meine Familie hat das Unheil, das deine Familie angerichtet hat, mehr als hundert Jahre lang wieder in Ordnung gebracht. Ich habe eure Geheimnisse bewahrt, so wie ihr die meinen bewahrt habt.«
»Und ich bin nicht die Seherin, die nicht vorhergesehen hat, dass sie das Medaillon finden. Wie erklärst du dir das? Wie konnte dies deinen Geisterfreunden entgehen?« Er schnippte verächtlich die Asche seiner Zigarre in die Luft.
Sie fuhr herum, ihr Blick war zornig. »Beleidige die Ahnen nicht. Nicht hier, nicht an diesem Ort. Sie werden ihre Gründe haben, warum sie es mir nicht offenbarten. Ganz gewiss haben sie die.«
Sie wandte sich ab von Macon. »Hört nicht auf ihn. Ich habe euch Krabben mit Grütze und Zitronentörtchen mitgebracht.« Jetzt sprach sie ganz sicher nicht mehr mit Macon. »Eure Lieblingsspeise«, sagte sie und nahm das Essen aus kleinen Tupperschüsseln und legte es auf einen Teller. Dann stellte sie den Teller auf den Boden. Neben dem Teller befand sich ein kleiner Gedenkstein und in der Nähe standen noch einige andere.
»Das hier ist die Wohnung der Ahnen, der Vorfahren meiner Familie, hörst du? Meine Großtante Sissy. Mein Urgroßonkel Abner. Meine Ururururgroßmuter Sulla. Beschimpfe die Ahnen nicht in ihrem eigenen Haus. Du willst Antworten von ihnen, also erweise ihnen Respekt.«
»Es tut mir leid.«
Sie wartete.
»Ich meine es aufrichtig.«
Sie schnaubte. »Und gib auf deine Asche acht. Hier gibt es keine Aschenbecher. Überhaupt ist es eine ekelhafte Angewohnheit.«
Er schnippte seine Zigarre ins Moos. »Also, fangen wir an. Uns bleibt nicht viel Zeit. Wir müssen herausfinden, wo Sarafi …«
»Psst!«, zischte sie. »Sprich ihren Namen nicht aus – nicht heute Nacht. Wir dürften gar nicht hier sein. Bei Halbmond ist die Zeit für Weiße Magie, bei Vollmond die Zeit für Schwarze Magie. Wir sind in der falschen Nacht hier draußen.«
»Wir haben keine andere Wahl. Heute Abend hat sich ein sehr unerfreulicher Vorfall ereignet. Meine Nichte, die sich am Tag ihrer Berufung gewandelt hat, ist zum Familientreffen erschienen.«
»Dels Tochter? Dieser Satansbraten?«
»Ja, Ridley. Niemand hatte sie eingeladen. Sie trat mit dem Jungen über meine Schwelle. Ich muss wissen, ob das ein Zufall war.«
»Nicht gut. Nicht gut. Das ist ganz und gar nicht gut.« Amma wippte wütend auf ihren Zehenspitzen.
»Und?«
»Es gibt keine Zufälle, das weißt du.«
»Wenigstens in diesem Punkt sind wir uns einig.«
Das alles war zu viel für mich. Macon Ravenwood, der nie einen Fuß vor sein Haus setzte, war hier mitten im Sumpf, und stritt sich mit Amma – wegen mir, wegen Lena und wegen des Medaillons.
Amma kramte wieder in ihrer Handtasche. »Hast du den Whiskey mitgebracht? Onkel Abner liebt einen Schluck Wild Turkey.«
Macon hielt ihr eine Flasche hin.
»Stell ihn hierher«, sagte sie und deutete auf den Boden. »Und dann tritt ein Stück zurück.«
»Wie ich sehe, hast du nach all den Jahren immer noch Angst, mich anzufassen.«
»Ich fürchte mich vor gar nichts. Kümmere du dich um deine Sachen. Ich mische mich nicht in deine Angelegenheiten und du mischst dich nicht in meine.«
Er stellte die Flasche auf den Boden, ein paar Schritte von Amma entfernt. Sie hob die Flasche auf, goss den Whiskey in ein Schnapsglas und trank es aus. In meinem ganzen Leben hatte ich nicht erlebt, dass Amma etwas Stärkeres als Eistee getrunken hätte. Dann kippte sie ein bisschen Whiskey in das Gras, das auf dem Grab wuchs. »Onkel Abner, wir brauchen deine Fürsprache. Ich rufe deinen Geist herbei.«
Macon hüstelte.
»Du stellst meine Geduld auf eine harte Probe, Melchizedek.« Amma schloss die Augen, warf den Kopf in den Nacken und breitete die Arme zum Himmel aus, als wollte sie Zwiesprache mit dem Mond halten. Dann beugte sie sich nieder und schüttelte das kleine Beutelchen, das sie aus ihrer Handtasche gezogen hatte. Der Inhalt fiel heraus und lag verstreut auf dem Grab. Winzige Hühnerknochen. Ich hoffte, dass es nicht die Knochen des Grillhähnchens waren, das ich am Nachmittag vernichtet hatte, aber ich wurde das Gefühl nicht los, dass sie es waren.
»Was sagen sie?«, fragte Macon.
Amma verteilte die Knochen mit den Fingern gleichmäßig im Gras. »Sie antworten mir nicht.«
Mit Macons Gelassenheit war es allmählich vorbei. »Dafür haben wir jetzt keine Zeit! Was nützt mir eine Seherin, die nichts sieht? Es sind nicht einmal mehr fünf Monate, dann wird sie sechzehn. Wenn sie sich wandelt, dann wird sie uns alle ins Verderben ziehen, Sterbliche und Caster gleichermaßen. Wir tragen eine Verantwortung – eine Verantwortung, die wir beide vor langer Zeit auf uns genommen haben, du für die Sterblichen, ich für die Caster.«
»Du brauchst mich nicht an meine Verantwortung zu erinnern. Und sprich leise, hörst du? Ich kann’s nicht brauchen, dass einer meiner Kunden uns hier draußen zusammen sieht. Welchen Eindruck würde das machen? Ein angesehenes, aufrechtes Mitglied der Gesellschaft wie ich. Verdirb mir nicht mein Geschäft, Melchizedek.«
»Wenn wir nicht herausfinden, wo Saraf …, wo sie ist, und was sie vorhat, dann werden wir größere Probleme haben als ein paar entgangene Geschäfte, Amarie.«
»Sie ist Dunkel, man weiß nie, woran man ist, wenn man es mit denen zu tun hat. Es ist, als wollte man vorhersagen, wo ein Wirbelsturm hinziehen wird.«
»Und wenn schon. Ich muss wissen, ob sie sich mit Lena in Verbindung setzen wird.«
»Die Frage ist nicht ob, sondern wann.« Amma schloss die Augen und strich mit der Hand über das Amulett, das an einer Kette hing, die sie niemals abnahm. Es war eine Scheibe mit einer Gravur wie ein Herz, aus dem oben ein Kreuz ragte. Das Amulett war abgegriffen, weil Amma schon Tausende Male so wie jetzt mit den Fingern darübergefahren war. Dazu murmelte sie eine Beschwörungsformel in einer Sprache, die ich nicht verstand, aber schon einmal gehört hatte.
Macon ging ungeduldig auf und ab. Ich streckte meine steifen Glieder aus und versuchte, kein Geräusch dabei zu machen.
»Ich kann gar nichts erkennen heute Nacht. Alles ist dunkel. Ich glaube, Onkel Abner ist schlecht gelaunt. Ich bin sicher, er hat sich über etwas geärgert, was du gesagt hast.«
Jetzt hatte Macon anscheinend endgültig genug, denn seine Miene veränderte sich, seine blasse Hautfarbe leuchtete gespenstisch im Dunkeln. Er trat einen Schritt vor und sein kantiges Gesicht nahm im Schein des Mondes furchterregende Züge an. »Schluss mit den Spielchen. Eine Dunkle ist heute Abend in mein Haus eingedrungen; das allein ist schon ein Ding der Unmöglichkeit. Sie ist zusammen mit Ethan, deinem Jungen, gekommen, und das kann nur eines heißen: Er verfügt ebenfalls über Kräfte und das hast du mir verschwiegen.«
»Unsinn. Der Junge hat so viele Kräfte, wie ich Schwänze habe.«
»Da irrst du dich, Amarie. Frage die Vorfahren. Befrage die Knochen. Es gibt keine andere Erklärung dafür. Es muss Ethan gewesen sein. Ravenwood ist geschützt. Ein Dunkler Caster könnte den Bann niemals brechen, nicht ohne die Hilfe eines anderen, der Macht hat.«
»Du hast den Verstand verloren. Er hat keine Kräfte. Ich habe dieses Kind großgezogen, ich müsste es ja schließlich wissen.«
»Du irrst dich. Du kennst ihn viel zu gut, das trübt deinen Blick. Aber es steht zu viel auf dem Spiel, als dass wir uns Irrtümer erlauben könnten. Wir beide haben unsere Fähigkeiten, aber ich warne dich, in dem Jungen steckt mehr, als wir ahnen.«
»Ich werde die Vorfahren fragen. Wenn jemand etwas weiß, dann sie. Und denk daran, Melchizedek, wir haben es mit den Lebenden und den Toten zu tun, und das ist keine einfache Sache.« Sie kramte wieder in ihrer Handtasche und zog eine schmuddelige Schnur mit winzigen Perlen hervor.
»Friedhofsknochen. Nimm sie. Die Ahnen wollen, dass du sie hast. Sie schützen den Geist vor den Geistern und die Toten vor den Toten. Uns Sterblichen nützen sie nichts. Gib sie deiner Nichte, Macon. Sie werden ihr nicht schaden, aber vielleicht halten sie die Dunklen von ihr fern.«
Macon fasste die Schnur vorsichtig mit zwei Fingern, dann ließ er sie in ein Taschentuch gleiten, als ob er ein besonders widerliches Gewürm einstecken wollte. »Ich bin zu Dank verpflichtet.«
Amma hüstelte.
»Bitte, sage den Ahnen, ich bin ihnen zu Dank verpflichtet. Zu großem Dank.« Macon Ravenwood sah kurz hinauf zum Mond, als würde er auf seine Armbanduhr schauen. Dann wandte er sich um und verschwand – tauchte ein in den Nebel, der sich über dem Sumpf erhoben hatte, als hätte ihn der Wind davongetragen.