Ein ganz normaler Feiertag in Amerika
27.11.
Nach Halloween herrschte die Ruhe nach dem Sturm. Wir gewöhnten uns an einen bestimmten Tagesablauf, obwohl wir wussten, dass die Uhr tickte. Ich ging bis an die Straßenecke, damit Amma nichts merkte, dann stieg ich in Lenas Leichenwagen, vor dem Stop & Steal holte uns Boo Radley ein und lief uns bis zur Schule nach. Der Einzige, der sich in der Cafeteria zu uns an den Tisch setzte, war Link, nur gelegentlich setzte sich auch Winnie Reid dazu, das einzige Mitglied im Debattierclub der Jackson High, das einem das Diskutieren schwer machen konnte, oder Robert Lester Tate, der zweimal hintereinander den Landes-Rechtschreibwettbewerb gewonnen hatte. Wenn wir nicht in der Schule waren und unser Mittagessen auf der Tribüne aßen oder uns Direktor Harper nachspionierte, dann waren wir in der Bibliothek, lasen in den Aufzeichnungen über das Medaillon und hofften, Marian würde vorbeischauen und uns etwas erzählen. Von verführerischen Sirenen in Gestalt einer Lollipop lutschenden Cousine mit eisernem Griff war weit und breit nichts zu sehen, und es gab auch keine unerklärlichen Stürme der dritten Kategorie oder rätselhafte schwarze Wolken, die am Himmel aufzogen, nicht einmal ein seltsames Essen mit Macon. Von Außergewöhnlichem keine Spur.
Mit einer Ausnahme. Und das war überhaupt das Allerwichtigste. Ich war verrückt nach einem Mädchen, das tatsächlich meine Gefühle erwiderte. Und wann passierte so etwas schon? Dass sie eine Caster war, war im Vergleich dazu fast leichter zu glauben.
Ich hatte Lena. Sie war stark und sie war schön. Jeder Tag war erschreckend und jeder Tag war wundervoll.
Bis plötzlich aus heiterem Himmel das Undenkbare geschah: Amma lud Lena zum Thanksgiving-Dinner ein.
»Ich weiß gar nicht, warum du überhaupt an Thanksgiving zu uns kommen willst. Es ist entsetzlich langweilig.« Ich war nervös, denn ganz offensichtlich führte Amma etwas im Schilde.
Lena lächelte und sofort fiel die Anspannung von mir ab. Es gab nichts Schöneres als ihr Lächeln. Es haute mich immer noch glatt um. »Ich glaube nicht, dass es langweilig wird.«
»Du warst an Thanksgiving noch nie bei mir zu Hause.«
»Ich war an Thanksgiving noch nie bei jemandem zu Hause. Caster feiern diesen Tag nicht. Es ist ein Festtag für die Sterblichen.«
»Willst du mich auf den Arm nehmen? Kein Truthahn? Keine Kürbispastete?«
»Nichts davon.«
»Du hast heute nicht viel gegessen, oder?«
»Eher wenig.«
»Dann wirst du es vielleicht überstehen.«
Ich hatte Lena rechtzeitig darauf vorbereitet, was sie erwarten würde, damit sie nicht überrascht war, wenn die Schwestern Brötchen in die Servietten einwickelten und sie in ihren Handtäschchen verschwinden ließen. Oder wenn Tante Caroline und Marian den halben Abend darüber diskutierten, wo sich die erste öffentliche Bibliothek in den Vereinigten Staaten befunden hatte (in Charleston) oder in welchem Verhältnis man die Farben mischen muss, damit man das berühmte Charleston-Grün erhält (zwei Teile Yankee-Schwarz und einen Teil Rebellen-Gelb). Tante Caroline leitete ein Museum in Savannah, sie kannte sich mit Architekturgeschichte und Antiquitäten ebenso gut aus, wie sich meine Mutter mit der Munition und den Schlachtstrategien im Bürgerkrieg ausgekannt hatte. Denn das war es, worauf Lena gefasst sein musste – auf Amma, meine verrückten Verwandten, auf Marian und, um das Maß vollzumachen, auf Harlon James.
Eine wichtige Kleinigkeit erwähnte ich allerdings nicht. Wenn alles so lief wie immer in letzter Zeit, dann hieß Thanksgiving wahrscheinlich auch, dass mein Vater diesmal im Schlafanzug beim Essen saß. Aber das war etwas, das ich ihr nicht erklären konnte.
Für Amma war Thanksgiving überaus wichtig, und das bedeutete zweierlei: Mein Dad würde endlich wieder einmal aus seinem Arbeitszimmer kommen, obwohl es ja nach Einbruch der Dunkelheit und daher genau genommen keine so große Ausnahme war, und er würde gemeinsam mit uns am Tisch essen. Allerdings ohne seine Weizenflocken. Das war das Mindeste, worauf Amma bestand. Und zu Ehren der Pilgerreise meines Vaters in jene Welt, die wir anderen tagtäglich bewohnten, legte sich Amma mit dem Abendessen mächtig ins Zeug. Truthahn, Kartoffelbrei mit Soße, Bohnen mit Butter, Mais in Sahne, Süßkartoffeln mit Marshmallows, Honigschinken, Kürbis und Zitronenbaiser, das sie aber, da war ich mir nach dem Abend im Sumpf ziemlich sicher, mehr für Onkel Abner als für uns zubereitete.
Ich blieb auf der Veranda stehen und dachte daran, wie mir zumute gewesen war, als ich an jenem Abend zum ersten Mal vor der Tür von Ravenwood aufgetaucht war. Nun erging es Lena so. Sie hatte ihr dunkles Haar aus dem Gesicht gestrichen, und ich berührte sie an der Stelle, wo es sich widerspenstig wieder hervorwagte und sich an ihr Kinn schmiegte.
Bist du bereit?
Sie zupfte ihr schwarzes Kleid zurecht. Sie war aufgeregt.
Nein.
Solltest du aber.
Ich grinste und stieß die Tür auf. »Los geht’s.«
Im Haus roch es wie in meiner Kindheit. Nach Kartoffelbrei und schwerer Arbeit.
»Ethan Wate, bist du das?«, rief Amma aus der Küche.
»Ja, Ma’am.«
»Hast du das Mädchen mitgebracht? Bring sie rein, damit wir sie in Augenschein nehmen können.«
In der Küche zischte und brutzelte es. Amma stand in ihrer Schürze vorm Herd, in jeder Hand einen Kochlöffel. Tante Prue hantierte ebenfalls in der Küche herum und steckte den Finger in die diversen Rührschüsseln, die auf der Anrichte standen. Tante Mercy und Tante Grace spielten in der Küche Scrabble, keiner von beiden schien es aufzufallen, dass das, was sie legten, gar keine Wörter waren.
»Steh nicht einfach so herum. Bring sie her.«
Meine Muskeln waren zum Zerreißen gespannt. Es war unmöglich vorherzusehen, was Amma oder die Schwestern sagen würden. Ich wusste immer noch nicht, weshalb Amma so scharf darauf gewesen war, dass ich Lena einlud.
Lena trat auf sie zu. »Es ist schön, Sie endlich kennenzulernen.«
Amma betrachtete Lena von Kopf bis Fuß, dabei wischte sie ihre Hände an der Schürze ab. »Du bist also die, die meinen Jungen so auf Trab hält. Der Postbote hatte schon recht. Bildhübsch.« Ich fragte mich, ob Carlton Eaton das gesagt hatte, als er Amma nach Wader’s Creek fuhr.
Lena wurde rot. »Danke.«
»Wie ich hörte, mischst du die Schule ordentlich auf.« Tante Grace lächelte. »Das ist gut. Ich weiß ohnehin nicht, was man euch jungen Leuten heutzutage dort beibringt.«
Tante Mercy legte ihre Buchstaben, einen nach dem anderen. J-U-K-T.
Tante Grace beugte sich tiefer über das Spielbrett und blinzelte. »Mercy Lynne, du mogelst schon wieder! Was soll denn das für ein Wort sein? Bilde mal einen Satz damit.«
»Mich juckt es in den Fingern, ein Stück von diesem hellen Kuchen zu nehmen.«
»So hast du es aber nicht geschrieben.« Wenigstens eine von ihnen kannte sich mit Orthografie aus. Tante Grace nahm einen Buchstaben vom Spielbrett. »Man schreibt es mit G und nicht mit K.« Oder auch nicht.
Du hast wirklich nicht übertrieben.
Hab ich dir doch gesagt.
»Höre ich da etwa Ethan?« Tante Caroline kam gerade zur rechten Zeit in die Küche. Sie breitete die Arme aus. »Komm her und gib deiner Tante einen Kuss.« Es verschlug mir stets einen Augenblick lang den Atem, wie sehr sie meiner Mutter ähnelte. Das gleiche lange braune Haar, das immer nach hinten gekämmt war, die gleichen dunkelbraunen Augen. Aber meine Mutter war am liebsten barfuß gegangen und hatte Jeans getragen, während Tante Caroline eher eine Südstaatenschönheit war, die gerne Sommerkleidchen und enge Pullover trug. Ich glaube, meine Tante amüsierte es, den Gesichtsausdruck anderer Menschen zu sehen, wenn sie herausfanden, dass sie die Leiterin des Historischen Museums von Savannah war und nicht eine in die Jahre gekommene Debütantin.
»Wie läuft’s hier bei euch im Norden?« Tante Caroline sprach stets von Norden, wenn sie Gatlin meinte, denn die Stadt liegt nördlich von Savannah.
»Gut. Hast du mir Pralinen mitgebracht?«
»Mach ich das nicht immer?«
Ich nahm Lenas Hand und zog sie näher heran. »Lena, das ist meine Tante Caroline und das sind meine Großtanten Prudence, Mercy und Grace.«
»Es freut mich, Sie alle kennenzulernen.« Lena streckte die Hand aus, aber Tante Caroline zog Lena an sich und umarmte sie.
Die Eingangstür fiel krachend ins Schloss.
»Fröhliches Thanksgiving.« Marian kam mit einer Auflaufform herein, auf der sie noch ein Kuchenblech balancierte. »Hab ich schon was versäumt?«
»Eichhörnchen.« Tante Prue schlurfte zu Marian und hakte sich bei ihr unter. »Was weißt du über sie?«
»Also, ihr alle, verschwindet aus meiner Küche. Ich brauche Platz hier, um meine Magie zu wirken. Mercy Stratham, ich sehe, du isst gerade meine Zimtpastillen.« Einen Augenblick lang hörte Tante Mercy zu mampfen auf. Lena sah mich an und versuchte, sich das Lachen zu verkneifen.
Ich könnte unsere Küche zu Hilfe rufen.
Glaub mir, wenn’s ums Kochen geht, braucht Amma keine Hilfe. Da hat sie ihre eigene Magie.
Alle drängten sich im Wohnzimmer. Tante Caroline und Tante Prue diskutierten, wie man Dattelpflaumen auf einer Veranda anbauen konnte, und Tante Grace und Tante Mercy stritten immer noch darüber, wie man »jucken« richtig schreibt; Marian spielte die Schiedsrichterin. Es hätte jeden in den Wahnsinn treiben können, aber Lena, die eingekeilt zwischen den Schwestern saß, machte einen fröhlichen, wenn nicht gar zufriedenen Eindruck.
Es ist nett hier.
Machst du Witze?
War es das, was sie sich unter einer Familienfeier vorstellte? Auflaufformen und Scrabble und alte Damen, die sich zankten? Ich war mir nicht sicher, aber auf alle Fälle war es so weit von den Zusammenkünften auf Ravenwood entfernt wie nur irgendwas.
Wenigstens versucht keiner, den anderen umzubringen.
Warte noch eine Viertelstunde, L.
Ich sah, wie Amma durch die Küchentür hereinspähte, aber sie beachtete mich nicht, sie musterte Lena.
Jede Wette, Amma hatte etwas vor.
Das Thanksgiving-Dinner lief so ab wie jedes Jahr. Nur dass nichts so war wie sonst. Mein Vater saß im Schlafanzug am Tisch, der Platz meiner Mutter war leer, und ich hielt unter dem Tisch Händchen mit einem Caster-Mädchen. Für einen Augenblick war es ein überwältigendes Gefühl – ich war glücklich und traurig zugleich, so als könnte eines der Gefühle nicht ohne das andere sein. Aber mir blieb nur dieser eine Augenblick, um darüber nachzudenken. Kaum hatten wir das Amen gesprochen, fingen die Schwestern schon an, Brötchen zu mopsen, Amma schaufelte Berge von Kartoffelbrei mit Soße auf unsere Teller, und Tante Caroline begann mit dem Small Talk.
Ich wusste, was hinter all dem steckte. Wenn jeder beschäftigt war, viel redete, genügend Pastete vor sich liegen hatte, dann würde vielleicht niemandem der leere Stuhl auffallen. Aber dazu reichte alle Pastete der Welt nicht aus, nicht einmal in Ammas Küche.
Wie auch immer, Tante Caroline war fest entschlossen, mich keine Minute schweigen zu lassen. »Ethan, brauchst du etwas, wenn die Bürgerkriegsschlachten nachgespielt werden? Ich habe Patronen auf meinem Dachboden liegen, die ungemein echt aussehen.«
»Erinnere mich nicht daran.« Ich hatte fast vergessen, dass ich mich, um den Geschichtskurs dieses Jahr zu bestehen, als Soldat der Konföderierten verkleiden musste, wenn wir die Schlacht von Honey Hill nachspielten. Immer im Februar stellten wir in Gatlin Szenen aus dem Bürgerkrieg nach; das war die einzige Zeit im Jahr, in der sich überhaupt Touristen in unserer Gegend blicken ließen.
Lena nahm ein Brötchen. »Ich versteh nicht, warum so viel Aufhebens um diese Kriegsspielerei gemacht wird. Es ist doch unnötig mühsam, eine Schlacht nachzustellen, die vor mehr als hundert Jahren geschlagen wurde, vor allem wenn man bedenkt, dass man alles genauso gut in den Geschichtsbüchern nachlesen kann.«
Oh nein.
Tante Prue schnappte nach Luft, bei ihr kam Lenas Bemerkung einer Gotteslästerung gleich. »Man sollte eure Schule bis auf die Grundmauern niederbrennen. Sie bringen euch offenbar rein gar nichts über Geschichte bei. Man kann in den Lehrbüchern nichts über den Freiheitskampf der Südstaaten lernen. Man muss ihn mit eigenen Augen sehen, und das sollte jeder von euch jungen Leuten, denn eben jene Nation, die in der Amerikanischen Revolution geschlossen für die Unabhängigkeit kämpfte, stand sich in diesem Krieg feindlich gegenüber.«
Ethan, sag etwas. Wechsle das Thema.
Zu spät. Sie wird jeden Augenblick anfangen, die Nationalhymne zu singen.
Marian brach ein Brötchen in zwei Hälften und steckte eine Scheibe Schinken dazwischen. »Mrs Statham hat recht. Im Bürgerkrieg hat dieses Land gegen sich selbst gekämpft, manchmal kämpfte Bruder gegen Bruder. Das war ein tragisches Kapitel in der amerikanischen Geschichte. Mehr als eine halbe Million Menschen kamen ums Leben, obwohl die meisten von ihnen an Krankheiten und nicht in der Schlacht starben.«
»Ein tragisches Kapitel, das war es«, nickte Tante Prue.
»Lass es dir nicht so zu Herzen gehen, Prudence Jane«, sagte Tante Grace und tätschelte ihre Schwester am Arm.
Tante Prue stieß ihre Hand weg. »Du musst mir nicht sagen, was ich mir zu Herzen nehmen soll oder nicht. Ich möchte ja nur, dass sie wissen, wo vorn und hinten ist. Ich bin die Einzige, die ihnen etwas über Geschichte beibringt. Die Schule sollte mich dafür bezahlen.«
Ich hätte dich warnen sollen, in ihrer Gegenwart mit diesem Thema anzufangen.
Das sagst du mir jetzt.
Lena rutschte verlegen auf ihrem Stuhl hin und her. »Es tut mir leid. Ich wollte nicht unhöflich sein. Ich habe nur noch niemanden getroffen, der so viel über den Krieg wusste.«
Nett von dir. Aber du verwechselst Wissen mit Besessenheit.
»Mach dir keine Sorgen, Kindchen. Prudence Jane streitet nur ab und zu gerne.« Tante Grace versetzte Tante Prue einen Stoß mit dem Ellenbogen.
Deshalb schütten wir immer Whiskey in ihren Tee.
»Das kommt von dem vielen Erdnusskrokant, den Carlton mitgebracht hat.« Tante Prue blickte Lena entschuldigend an. »So viel Zucker bekommt mir nicht.«
Es bekommt ihr nicht, so lange die Finger davon zu lassen.
Mein Dad hüstelte und verstreute geistesabwesend seinen Kartoffelbrei rings um den Teller. Lena erkannte, dass es eine gute Gelegenheit war, das Thema zu wechseln. »Ethan hat mir erzählt, dass Sie Schriftsteller sind, Mr Wate. Welche Art von Büchern schreiben Sie denn?«
Mein Dad schaute sie an, aber er sagte kein Wort. Wahrscheinlich hatte er nicht einmal bemerkt, dass Lena mit ihm gesprochen hatte.
»Mitchell schreibt gerade ein neues Buch. Es ist ein wichtiges Buch. Vielleicht sogar das wichtigste, das er je geschrieben hat. Und Mitchell hat viele Bücher geschrieben. Wie viele sind es denn nun schon, Mitchell?«, fragte Amma in einem Ton, als spräche sie mit einem Kind. Sie wusste genau, wie viele Bücher mein Vater geschrieben hatte.
»Dreizehn«, murmelte er.
Lena ließ sich von den abschreckenden Umgangsformen meines Vaters nicht entmutigen, wohl aber ich. Ich blickte ihn an, sein Haar war ungekämmt und er hatte Ringe unter den Augen. Seit wann sah er so furchtbar schlecht aus?
Lena ließ nicht locker. »Wovon handelt Ihr Buch?«
Das Leben kehrte in meinen Vater zurück, zum ersten Mal an diesem Abend. »Es ist eine Liebesgeschichte. Ich habe wirklich lange gebraucht für diesen Stoff. Es wird ein großer amerikanischer Roman. Man könnte sagen, der krönende Höhepunkt meiner Karriere, aber ich kann noch nicht über die Handlung sprechen, nicht wirklich. Jedenfalls nicht jetzt. Nicht wenn ich so dicht an …« Seine Gedanken schweiften ab. Dann hörte er auf zu reden, als hätte jemand einen Schalter in seinem Rücken umgelegt. Er starrte auf den leeren Stuhl meiner Mutter, während sein Geist wieder wegdämmerte.
Amma schaute sorgenvoll. Tante Caroline versuchte, die anderen abzulenken, aber dies hier wurde immer unaufhaltsamer zur entsetzlichsten Nacht meines Lebens. »Aus welcher Gegend, Lena, bist du hierhergezogen?«, fragte sie hastig.
Ich hörte nicht, was Lena antwortete. Ich hörte gar nichts mehr. Stattdessen lief vor meinen Augen alles wie in Zeitlupe ab. Die Bilder verschwammen, wurden größer, wurden kleiner, so wie Hitzewellen, die durch die Luft wabern.
Und dann …
Mit einem Mal war alles wie festgefroren, nur dass es nicht gefroren war. Ich war erstarrt. Mein Vater war erstarrt. Er hatte die Augen zusammengekniffen, die Lippen gespitzt, um etwas zu sagen, doch sein Mund kam nicht dazu, den Laut zu formen. Mein Vater blickte auf den Teller Kartoffelbrei, der unberührt vor ihm stand. Die Schwestern, Tante Caroline und Marian waren wie Statuen. Sogar die Luft im Raum bewegte sich nicht. Das Pendel der alten Standuhr war mitten im Schwung stehen geblieben.
Ethan, ist alles in Ordnung mit dir?
Ich wollte Lena antworten, aber ich konnte es nicht. Als Ridley mich in ihrer tödlichen Umklammerung gefangen hatte, war ich sicher gewesen, ich würde erfrieren. Nun war ich erfroren, aber mir war nicht kalt und ich war nicht tot.
»Hab ich das getan?«, fragte Lena laut.
Amma war die Einzige, die ihr antworten konnte.
»Einen Zeitzauber gewirkt? Du? Ebenso gut könnte dieser Truthahn einen Alligator ausbrüten.« Sie schnaubte. »Nein, das warst nicht du, mein Kind. Das war etwas, das größer ist als du. Die Ahnen sind der Meinung, dass wir uns mal unterhalten sollten, von Frau zu Frau. Niemand kann uns jetzt hören.«
Außer mir. Ich kann euch hören.
Aber die Worte blieben stumm. Ich hörte, wie die beiden redeten, aber ich selbst brachte keinen Laut hervor.
Amma blickte zur Decke hinauf. »Ich danke dir, Tante Delilah. Danke für die Hilfe.« Sie ging zum Buffet und schnitt ein Stück von der Kürbispastete ab. Dann legte sie das Stück auf einen feinen Porzellanteller und stellte ihn in die Mitte des Tisches. »Ich schenke dir und allen Ahnen dieses Stück und ich rufe dich als Zeugin dafür an.«
»Was ist hier los? Was haben Sie mit ihnen gemacht?«
»Ich habe gar nichts getan. Ich habe uns nur etwas Zeit erkauft, schätze ich.«
»Sind Sie eine Caster?«
»Nein, ich bin eine Seherin. Ich sehe, was man sehen muss, was niemand sonst sieht oder sehen will.«
»Haben Sie die Zeit angehalten?« Caster konnten die Zeit anhalten, das hatte Lena mir erzählt. Aber nur die mächtigsten von ihnen.
»Ich hab rein gar nichts gemacht, nur die Ahnen um ein klein wenig Unterstützung gebeten. Und Tante Delilah hat mir diesen Gefallen getan.«
Lena schaute verwirrt, vielleicht auch verängstigt. »Wer sind die Ahnen?«
»Die Ahnen, das ist meine Familie aus der Anderwelt. Sie helfen mir hin und wieder, und nicht nur sie. Es gibt auch andere dort.« Amma beugte sich über den Tisch und blickte Lena in die Augen. »Weshalb trägst du das Armband nicht?«
»Das was?«
»Hat Melchizedek es dir nicht gegeben? Ich habe ihm gesagt, dass du es unbedingt tragen musst.«
»Er hat es mir gegeben, aber ich habe es wieder abgenommen.«
»Und warum tust du so was?«
»Wir haben herausgefunden, dass es die Visionen abhält.«
»Es hat tatsächlich etwas abgehalten – bis du es abgelegt hast.«
»Und was wäre das?«
Amma ergriff Lenas Hand; sie drehte sie um, damit sie die Handfläche sehen konnte. »Ich wollte nicht diejenige sein, die es dir erzählt, Kind. Melchizedek, deine Familie, keiner von ihnen wird dir etwas sagen. Aber du musst es wissen. Du musst vorbereitet sein auf das, was auf dich zukommt.«
»Worauf muss ich vorbereitet sein?«
Amma blickte wieder zur Decke und murmelte etwas vor sich hin. »Sie wird kommen, Kind. Sie wird deinetwegen kommen, und sie ist eine Macht, mit der man rechnen muss. Eine Macht, die dunkel ist wie die Nacht.«
»Wer? Wer wird kommen?«
»Ich wünschte, sie hätten es dir selbst gesagt. Ich wollte nicht, dass du es von mir erfährst. Aber die Ahnen meinen, dass es dir irgendwer sagen muss, ehe es zu spät ist.«
»Mir was sagen? Wer wird kommen, Amma?«
Amma nestelte an einem kleinen Beutelchen, das an einem Lederriemen um ihren Hals hing, dann sagte sie mit gesenkter Stimme, als hätte sie Angst, jemand könnte sie hören: »Sarafine. Die Dunkle.«
»Wer ist Sarafine?«
Amma zögerte, sie umklammerte den Beutel noch fester.
»Deine Mutter.«
»Ich versteh das nicht. Meine Eltern sind gestorben, als ich noch ein kleines Kind war, und meine Mutter hieß Sara. Ich habe das auf unserem Stammbaum gesehen.«
»Dein Vater ist gestorben, das stimmt, aber deine Mutter ist am Leben, so wahr wie ich hier vor dir stehe. Und du weißt ja, wie das mit den Stammbäumen im Süden so ist. Sie sind nie so zuverlässig, wie sie einen glauben machen wollen.«
Aus Lenas Gesicht wich alle Farbe. Ich versuchte mit aller Kraft, ihre Hand zu fassen, aber ich konnte mich immer noch nicht rühren. Ich konnte nur zusehen, wie sie ganz allein in ein schwarzes Loch stürzte. Genau wie in unseren Träumen. »Und sie ist Dunkel?«
»Sie ist die Dunkelste, die zu unseren Zeiten lebt.«
»Und warum hat mein Onkel mir das nicht gesagt? Oder meine Großmutter? Sie haben behauptet, sie sei tot. Wie konnten sie mich so belügen?«
»Es gibt nicht nur die eine Wahrheit. Und die Wahrheiten, die es gibt, müssen sich nicht gleichen. Ich nehme an, sie haben versucht, dich zu beschützen. Sie denken immer noch, dass sie das könnten. Aber die Ahnen sind da anderer Ansicht. Ich wollte nicht diejenige sein, die es dir erzählt, aber Melchizedek ist ein Sturkopf.«
»Weshalb wollen Sie mir helfen? Ich dachte … ich dachte, Sie können mich nicht leiden.«
»Das hat nichts damit zu tun, ob ich dich leiden kann oder nicht. Sie will dich holen und da kannst du keine Ablenkungen gebrauchen.« Amma zog die Augenbrauen hoch. »Und ich will nicht, dass meinem Jungen etwas passiert. Das ist mächtiger als du, mächtiger als ihr beide.«
»Was ist mächtiger als wir beide?«
»Alles. Du und Ethan, ihr seid nicht füreinander bestimmt.«
Lena war verwirrt. Amma sprach wieder in Rätseln. »Was soll das heißen?«
Amma fuhr herum, als hätte ihr jemand von hinten auf die Schulter getippt. »Was hast du gesagt, Tante Delilah?« Zu Lena gewandt, sagte sie: »Uns bleibt nicht mehr viel Zeit.«
Fast unmerklich setzte sich das Pendel der Uhr wieder in Bewegung. Das Leben kehrte in den Raum zurück. Mein Vater blinzelte langsam, es dauerte Sekunden, bis sich seine Augenlider schlossen und wieder öffneten.
»Du legst das Armband wieder an. Glaub mir, du wirst jede Hilfe brauchen, die du kriegen kannst.«
Von einem Moment auf den anderen fiel die Zeit wieder in ihren gewohnten Takt …
Ich blinzelte ein paar Mal und sah mich im Zimmer um. Mein Vater starrte immer noch auf seinen Teller Kartoffelbrei, Tante Mercy war immer noch damit beschäftigt, Brötchen in ihre Serviette zu wickeln. Ich hob die Hand vors Gesicht und bewegte die Finger. »Was zum Teufel war das?«
»Ethan Wate!«, keuchte Tante Grace entsetzt.
Amma schnitt Brötchen entzwei und steckte Schinkenscheiben zwischen die Hälften. Sie fühlte sich ertappt. Zweifellos hatte sie nicht gewollt, dass ich ihre kleine Unterhaltung unter Frauen mit anhöre. Sie warf mir einen viel sagenden Blick zu: Du hältst deinen Mund, Ethan Wate.
»Halte deine Zunge im Zaum, wenn du an meinem Tisch sitzt. Du bist noch nicht zu alt, als dass ich dir den Mund nicht mit Seife auswaschen könnte. Was glaubst du, ist das hier? Schinken in Brötchen. Gefüllter Truthahn. Ich habe den ganzen Tag gekocht, jetzt erwarte ich auch, dass du etwas isst.«
Ich sah Lena an. Ihr Lächeln war wie weggewischt. Sie starrte auf ihren Teller.
Lena Longina. Komm zu mir zurück. Ich lasse es nicht zu, dass dir irgendetwas geschieht. Alles wird gut.
Doch sie war viel zu weit weg.
Auch als ich sie nach Hause brachte, sagte Lena kein Wort. Und als wir in Ravenwood angekommen waren, öffnete sie die Autotür, knallte sie hinter sich zu und ging wortlos ins Haus.
Ich traute mich fast nicht, ihr zu folgen. Mir schwirrte der Kopf. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie Lena zumute sein musste. Es war schlimm genug, seine Mutter zu verlieren, aber selbst ich konnte mir nicht ausmalen, wie es war, wenn man plötzlich herausfand, dass die eigene Mutter einem den Tod wünschte.
Ich hatte meine Mutter verloren, aber ich war nicht verloren. Sie hatte dafür gesorgt, dass ich festen Boden unter den Füßen hatte, ehe sie ging. Amma gab mir diesen festen Boden, mein Vater, Link, Gatlin. Ich spürte ihre Gegenwart, wenn ich durch die Straßen ging, durch unser Haus, wenn ich in der Bibliothek war, sogar wenn ich in der Speisekammer war. Lena hatte diese Sicherheit nie gehabt. Sie trieb dahin, hatte keinen festen Ankerplatz, wie Amma sagen würde, trieb dahin wie die Arme-Leute-Fähren im Sumpf.
Ich wollte ihr Anker sein. Aber gerade jetzt schien es, als wäre niemand in der Lage, ihr diesen Halt zu geben.
Lena stürmte an Boo vorbei, der ohne zu hecheln vor der Veranda saß, obwohl er während des ganzen Heimwegs pflichtbewusst hinter unserem Wagen hergelaufen war. Während des Essens hatte er in unserem Vorgarten gesessen. Er schien die süßen Kartoffeln und die kleinen Marshmallows zu mögen, die ich ihm vor die Tür geworfen hatte, als Amma in die Küche ging, um mehr Soße zu holen.
Ich hörte, wie Lena im Haus etwas rief. Seufzend stieg ich aus dem Auto und setzte mich neben dem Hund auf die Verandatreppe. Mein Kopf dröhnte, wahrscheinlich Unterzuckerung. »Onkel Macon! Onkel Macon! Komm raus! Die Sonne ist untergegangen. Ich weiß, dass du nicht dort drinnen bist und schläfst!«
Ich hörte Lena auch in meinem Kopf schreien.
Die Sonne ist untergegangen. Ich weiß, dass du nicht schläfst.
Ich wartete auf den Tag, an dem Lena mich verblüffen und mir die Wahrheit über Macon erzählen würde, so wie sie mir auch die Wahrheit über sich selbst erzählt hatte. Was immer er auch sein mochte, er schien kein gewöhnlicher Caster zu sein, wenn es denn überhaupt gewöhnliche Caster gab. Die Art und Weise, wie er den ganzen Tag verschlief, wie er verschwand und auftauchte, wann und wo er wollte – man brauchte kein Genie zu sein, um zu wissen, was da vor sich ging. Trotzdem hätte ich den Augenblick der Wahrheit gerne noch etwas hinausgeschoben.
Boo starrte mich an. Ich streckte die Hand aus und wollte ihn streicheln, aber er drehte den Kopf weg, als wollte er sagen: Schon gut. Bitte, fass mich nicht an, Junge. Als wir hörten, wie im Hause Dinge zu Bruch gingen, standen Boo und ich auf und gingen dem Lärm nach. Lena trommelte gegen eine der Türen im oberen Stockwerk.
Das Haus war wieder in den Zustand zurückgekehrt, der, wie ich annahm, Macons bevorzugte Variante war: angestaubte Vorkriegspracht. Insgeheim war ich erleichtert, nicht wieder in einer Burg zu sein. Ich wünschte, ich hätte die Zeit anhalten und mich um drei Stunden zurückversetzen können. Um ehrlich zu sein, ich wäre vollkommen glücklich gewesen, wenn sich Lenas Haus in einen übergroßen Wohnwagen verwandelt hätte und wir alle vor einer Schüssel mit übrig gebliebener Bratenfülle gesessen hätten wie der Rest von Gatlin.
»Meine Mutter? Meine eigene Mutter?«
Die Tür flog auf. Macon stand da, er war in einem entsetzlichen Zustand. Er hatte zerknittertes Leinenzeug an, das – ich sage es nur ungern – eindeutig ein Nachthemd war. Seine Augen waren stärker gerötet als sonst, seine Haut bleicher, seine Haare waren zerzaust. Er sah aus, als hätte ihn ein Schwerlaster überfahren.
Auf seine Art unterschied er sich gar nicht so sehr von meinem Vater. Beide waren in einem jammervollen Zustand, na ja, vielleicht der eine mehr, der andere weniger. Mit Ausnahme des Nachtgewands. Mein Vater hätte so etwas nicht einmal angezogen, wenn er tot gewesen wäre.
»Sarafine ist meine Mutter? Diese Kreatur, die mich umbringen wollte? Wie konntest du mir das verheimlichen?«
Macon schüttelte den Kopf und fuhr sich ärgerlich mit der Hand durchs Haar. »Amarie.« Ich hätte alles dafür gegeben, dabei zu sein, wenn sich Amma und Macon deswegen so richtig in die Haare gerieten. Und ich hätte meinen letzten Groschen auf Amma gesetzt.
Macon trat einen Schritt zurück und schloss die Tür hinter sich. Aber ich erhaschte trotzdem einen Blick in sein Schlafzimmer. Dort sah es aus wie beim Phantom der Oper; schmuckvolle Schmiedekandelaber, die größer waren als ich, und ein schwarzes Himmelbett, das mit grauschwarzem Samt behängt war. Der gleiche schwere Stoff verdeckte die Fenster. Sogar an den Wänden hingen verschlissene schwarze Stoffe und graue Tücher, die sicherlich über hundert Jahre alt waren. Im Zimmer war es pechschwarz, finster wie die Nacht. Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken.
Dunkelheit, richtig tiefe Dunkelheit war mehr als nur das Fehlen von Licht.
Macon öffnete wieder die Tür und stand nun makellos gekleidet vor uns, jedes Haar an seinem Platz und nicht eine einzige Falte in seiner Hose oder seinem blütenweißen Hemd. Selbst auf seinen weichen Hirschlederschuhen befand sich nicht der kleinste Kratzer. Nichts erinnerte mehr daran, wie er noch vor wenigen Augenblicken ausgesehen hatte, dabei hatte er nichts anderes getan, als durch seine Schlafzimmertür zu gehen.
Ich sah Lena fragend an. Sie hatte die Veränderung nicht einmal bemerkt, und mich fröstelte bei dem Gedanken, wie sehr sich unser beider Leben schon immer unterschieden hatte.
»Meine Mutter lebt?«
»Ich fürchte, die Sache ist ein bisschen komplizierter.«
»Mit Sache meinst du wohl, dass meine eigene Mutter mich umbringen will? Wann hattest du vor, es mir zu sagen, Onkel Macon? Erst nach meiner Berufung?«
»Bitte, fang nicht schon wieder damit an. Du wirst nicht auf die Dunkle Seite gehen«, seufzte Macon.
»Ich frage mich, woher du das wissen willst. Immerhin bin ich die Tochter, der, ich zitiere, ›Dunkelsten, die zu unseren Zeiten lebt‹.«
»Ich verstehe ja, dass du außer dir bist. Ich hätte es dir selbst sagen sollen. Aber du musst mir glauben, ich habe nur versucht, dich zu beschützen.«
Jetzt kochte Lena vor Wut. »Mich beschützen! Du wolltest mir einreden, dass das, was an Halloween passiert ist, nur ein zufälliger Angriff war, aber in Wirklichkeit war es meine eigene Mutter. Sie ist am Leben, sie wollte mich töten, und du denkst, das geht mich nichts an?«
»Wir wissen nicht, ob sie dich umbringen will.«
Bilderrahmen krachten an die Wand, und bei der Gangbeleuchtung brannte eine Glühbirne nach der anderen durch, bis alles dunkel war. Der Regen prasselte an die Fensterläden.
»Hatten wir nicht schon genug schlechtes Wetter in den letzten paar Wochen?«
»Worüber hast du sonst noch gelogen? Was werde ich als Nächstes herausfinden? Dass auch mein Vater noch lebt?«
»Ich fürchte nein.« Macon sagte das, als wäre es ein großes Unglück, als wäre es etwas, das viel zu traurig war, um darüber zu reden. Es war der gleiche Ton, den die Leute mir gegenüber anschlugen, wenn sie vom Tod meiner Mutter sprachen.
»Du musst mir helfen.« Ihre Stimme versagte.
»Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, um dir zu helfen, Lena. Das habe ich schon immer getan.«
»Das ist nicht wahr«, fauchte sie ihn an. »Du hast mir verschwiegen, welche Kräfte ich habe. Du hast mir nicht beigebracht, wie ich mich selbst schützen kann.«
»Ich kann nicht genau sagen, über welche Kräfte du verfügst. Du bist eine Naturgeborene. Wenn du etwas tun musst, dann wirst du es tun, und zwar wie du willst und wann du willst.«
»Meine eigene Mutter will mich töten. Mir bleibt keine Zeit mehr.«
»Wie ich dir schon gesagt habe: Wir wissen nicht, ob sie dich töten will.«
»Und wie erklärst du dir dann das, was an Halloween passiert ist?«
»Es gibt auch andere Erklärungen dafür. Del und ich versuchen, das herauszufinden.« Macon drehte sich um, als ob er wieder in sein Zimmer zurückgehen wollte. »Jetzt beruhige dich erst einmal. Wir können später über alles reden.«
Lena nahm eine Vase in den Blick, die auf einem Buffet am anderen Ende des Gangs stand. Wie an einer Schnur gezogen folgte die Vase Lenas Augen, flog quer durch den Raum bis zur Wand neben Macons Schlafzimmertür und zerschellte dort. Die Vase war so weit von Macon entfernt, dass sie ihn auf keinen Fall hätte treffen können, aber doch nahe genug, um eines ganz klarzumachen: Dies war kein Versehen.
Denn diesmal war es nicht so, dass Lena die Kontrolle verloren hatte und dies einfach so passiert war. Sie hatte es mit voller Absicht getan. Sie wusste genau, was sie tat.
Macon fuhr blitzschnell herum und stand nun direkt vor Lena. Er war ebenso bestürzt wie ich, und er dachte das Gleiche wie ich: Es war kein Versehen. Lenas Onkel war gekränkt, so gekränkt, wie Macon Ravenwood nur gekränkt sein konnte. »Wie ich schon sagte: Wenn du etwas tun musst, dann wirst du es auch tun.«
Macon wandte sich an mich. »Ich fürchte, es wird in den nächsten Wochen noch gefährlicher werden. Vieles ist jetzt anders. Lass sie nicht allein. Wenn sie hier ist, kann ich sie beschützen, aber meine Mutter hatte wohl recht. Es scheint, als könntest auch du sie beschützen, vielleicht sogar besser als ich.«
»Hallo! Ich bin nicht taub, ich höre, was ihr sagt!« Lena hatte sich inzwischen von ihrer eigenen Überraschung angesichts ihrer Machtdemonstration und dem Blick, den ihr Macon zugeworfen hatte, erholt. Ich wusste, dass sie sich später die bittersten Vorwürfe deswegen machen würde, aber jetzt war sie viel zu sehr in Rage, um einen Gedanken darauf zu verschwenden. »Redet nicht so, als ob ich gar nicht da wäre.«
Eine Glühbirne platzte hinter Macon, aber Lena zuckte nicht einmal mit der Wimper.
»Merkst du eigentlich, was du da sagst? Ich habe ein Recht darauf, Bescheid zu wissen! Ich bin diejenige, hinter der sie her ist. Ich bin diejenige, auf die sie es abgesehen hat, und ich weiß nicht einmal, weshalb.«
Sie starrten einander an, ein Ravenwood und eine Duchannes, zwei Linien der gleichen verzweigten Caster-Familie. Ich fragte mich, ob es nicht an der Zeit für mich war zu gehen.
Macon sah mich an. Seine Augen sagten Ja.
Lena sah mich an. Ihre Augen sagten Nein.
Sie fasste meine Hand, und ich spürte die Hitze, die in ihr brannte. Lena war wütend, so wütend, wie ich es noch nie erlebt hatte. Ich wunderte mich, dass in dem Haus noch ein einziges Fenster intakt war.
»Du weißt, weshalb sie mir nachstellt, nicht wahr?«
»Das ist …«
»Lass mich raten, es ist kompliziert?« Die beiden maßen sich mit Blicken. Lenas Haar sträubte sich. Macon spielte mit dem silbernen Ring an seinem Finger.
Boo rutschte auf dem Bauch von den beiden weg. Kluger Hund. Ich wünschte, ich könnte mich auch aus dem Zimmer fortstehlen. Die letzten Glühbirnen explodierten und um uns herum wurde es völlig dunkel.
»Du musst mir alles über meine Kräfte sagen«, verlangte sie unerbittlich.
Macon seufzte und die Dunkelheit wich. »Lena, es ist nicht so, dass ich dir das nicht sagen wollte. Nach deiner kleinen Vorführung von eben ist es offenkundig, dass nicht einmal ich weiß, wozu du imstande bist. Keiner weiß das. Ich nehme an, nicht einmal du selbst.« Lena war immer noch nicht restlos überzeugt, aber sie hörte ihm zu. »So ist es, wenn man eine Naturgeborene ist. Das gehört zu deiner Gabe.«
Lena entspannte sich. Der Kampf zwischen den beiden war vorüber, und sie hatte ihn gewonnen, einstweilen. »Und was soll ich jetzt tun?«
Macon schien verlegen zu sein; er erinnerte mich an meinen Vater, als ich in der fünften Klasse war und er mir die Sache mit den Vögeln und den Bienen erklären wollte. »Es kann sehr verstörend sein, wenn sich die Kräfte entfalten. Vielleicht gibt es auch ein Buch, in dem das beschrieben ist. Wenn du möchtest, können wir Marian danach fragen.«
Genau. Freiheit und Wandel. Wenn junge Mädchen Caster werden. Meine Mutter will mich umbringen: Ein Ratgeber für Teenager.
Es lagen lange und gefährliche Wochen vor uns.