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Jakob fühlte sich wie von einem Kokon umsponnen. Noch immer verharrte er in der Kälte, mit hängenden Armen, unfähig, sich zu bewegen, und versuchte zu begreifen, was ihm widerfuhr. Um ihn herum war alles in dichtem Nebel versunken. Die Feuchtigkeit legte sich wie ein Film auf sein Gesicht, Kälte kroch in jeden Winkel seines Körpers. Er begann zu zittern.
Dann plötzlich schossen einzelne Sequenzen durch seinen Kopf, fügten sich ineinander zu einem flimmernden Film, der allmählich klarer wurde und vor seinem inneren Auge abzulaufen begann.
Wie durch den Sucher einer Kamera blickte er in den Gastraum einer Kneipe. Seine Stammkneipe, wie er anhand des vergilbten Che-Guevara-Posters an der Wand hinter dem Tresen erkannte. Dann entdeckte er sich selbst.
In sich zusammengesunken hing er auf einem Barhocker, die Hände um das halb leere Bierglas gekrümmt, das in einer Wasserlache vor ihm auf dem Tresen stand, und stierte stumpfsinnig vor sich hin. Er sah abgemagert und krank aus. Die Haare fielen ihm wirr und fettig in die Stirn, das Hemd hing halb aus der Hose und war mit dunklen Flecken übersät. Den Bartstoppeln nach zu urteilen, hatte er sich seit Tagen nicht mehr rasiert. An den wenigen Tischen in der Kneipe drängten sich die Gäste, und lautes Stimmengewirr erfüllte den Raum. Nur das Zischen und Gurgeln der Espressomaschine übertönte den Lärm. Der Duft nach frischem Kaffee überlagerte den Geruch nach Bier und anderen Ausdünstungen, die am Kneipenmobiliar klebten wie eine unsichtbare Patina.
Jakob war – mal wieder – bei Lukas gewesen. Hatte so lange mit den Fäusten die Wohnungstür bearbeitet, bis Lukas sie endlich geöffnet hatte. Durch den Türspalt hatte Jakob einen Blick auf den gedeckten Tisch werfen können. Kerzenlicht. Er schnaubte verächtlich. Damit kriegte er Anne auch nicht rum. Oder doch?
Jakob verbarg sein Gesicht in den Händen. Er vermisste vor allem seine kleine Tochter. So sehr, dass es weh tat. Aber Anne ließ ihn nicht zu ihr. Hör auf zu saufen, hatte sie gesagt, dann können wir vielleicht noch mal darüber reden.
Und Lukas unterstützte sie. Er hatte ihn von der Tür weg in den Hausflur gedrängt und ihm mit der Polizei gedroht. Ihm, seinem besten Freund. Jakob glaubte, Mias Stimme in der Wohnung zu hören, die nach ihrem Papa rief. Bei der Erinnerung daran stürzten Jakob Tränen aus den Augen. Er schniefte, wischte sich mit dem Handrücken über die Nase.
Er würde viel, nein, alles dafür geben, wenn er das Rad der Zeit zurückdrehen könnte. Vielleicht hätte er sich wirklich Hilfe von einem Psychologen holen sollen? Vielleicht wäre er dann nicht in ein so tiefes Loch gestürzt. Vielleicht hätte er dann seine Ehe, seine Familie retten können.
Vielleicht. Vielleicht. Vielleicht.
Jakob schnaubte. Vielleicht war die kleine Schwester der Ausweglosigkeit. Es gab jetzt weiß Gott Wichtigeres, als den Versäumnissen der Vergangenheit nachzuheulen. Er musste für heute Nacht einen Schlafplatz finden. Seine Wohnung war heute Morgen zwangsgeräumt worden, und er hatte keine Ahnung, wo er jetzt unterkommen sollte.
Das Schrillen des Telefons hinter dem Tresen verschaffte sich über den Geräuscheteppich hinweg lautstark Gehör und riss Jakob aus seinen trüben Gedanken. Der Typ hinterm Tresen stellte das Glas mit dem gerade angezapften Bier beiseite, wischte sich die Hände an seiner Jeans trocken und nahm den Hörer hoch. Er hieß Marcel, sah aus wie ein Klon des Boxers Axel Schulz und hatte ein Herz groß wie ein Fußballstadion.
Der einzige Freund, der mir noch geblieben ist, dachte Jakob wehmütig und griff nach seinem Bierglas.
»Für dich«, sagte Marcel in diesem Moment und hielt ihm den Hörer hin.
»Für mich?«
Es kam nicht mehr so häufig vor, dass jemand ihn sprechen wollte. Seit dem Unfall mieden ihn die Menschen in seinem Umfeld, als hätte er eine ansteckende Krankheit. Erst hatte er seinen Job verloren, dann war seine Frau mit der gemeinsamen Tochter ausgezogen, und schließlich hatten sich nach und nach seine Freunde von ihm abgewandt. Selbst die Bewährungsstrafe, zu der ihn das Gericht verurteilt hatte, hatte nichts daran geändert. Ein Fahrfehler. Keine Absicht. Natürlich nicht. Aber die Schuldgefühle wurde er dennoch nie mehr los. Sie verfolgten ihn auf Schritt und Tritt. Jeden Morgen beim Aufwachen war sein erster Gedanke und sein letzter, wenn er es nachts, betäubt vom Alkohol, endlich schaffte, für ein, zwei Stunden einzuschlafen: Du bist ein Mörder.
Marcel zuckte die breiten Schultern und drückte ihm den Hörer in die Hand. Zögernd hob Jakob ihn an sein Ohr.
»Ja, bitte?« Jakob merkte, dass er selbst die zwei Worte nicht mehr allzu deutlich über die Lippen brachte.
»Jakob? Jakob Auerbach?« Die helle Stimme einer Frau.
»Jep«, sagte Jakob und betrachtete stirnrunzelnd die Tasse mit dem dampfenden Kaffee, die plötzlich statt des Bierglases vor ihm stand. Er sah irritiert hoch. Marcel grinste ihn an.
»Du hast genug für heute«, formte er tonlos mit den Lippen.
Aber Jakob bekam davon nichts mehr mit. Seine ganze Aufmerksamkeit galt den Worten der Anruferin.
»Wenn du deine Tochter ein letztes Mal lebend sehen willst, solltest du sofort auf den Schrottplatz der Gebrüder Obilinski nach Buch kommen«, sagte die Frauenstimme an seinem Ohr. Jakob durchfuhr es heiß und kalt. Er richtete sich kerzengerade auf.
»Und wenn ich ›sofort‹ sage, meine ich ›sofort‹«, fuhr sie fort. »Und wage nicht, die Bullen zu informieren.«
»Was?« Schlagartig fühlte Jakob sich nüchtern. Die Stimme kam ihm vage bekannt vor. Aber er kam nicht drauf, woher er sie kannte. »Was soll das? Wer sind Sie?«, keuchte er.
Die Frau nannte ihm ungerührt eine Straße und Hausnummer und drückte das Gespräch weg.
Jakobs benebeltes Gehirn brauchte eine Weile, um das Gehörte zu sondieren und einzuordnen. Dann murmelte er die Adresse mehrmals vor sich hin. Er durfte sie auf keinen Fall vergessen. Automatisch griff er nach der Kaffeetasse und trank einen großen Schluck von dem bitteren Gebräu. Er verbrannte sich die Zunge an der heißen Flüssigkeit, aber das merkte er kaum. Ihm war aufgegangen, wer die Anruferin war: Grit.
Er hatte sie vor einiger Zeit hier in der Kneipe kennengelernt. Sie schien Ähnliches erlebt zu haben wie er. Auch wenn sie nicht darüber redete. Jakob spürte das. Sie schien zu verstehen, was er durchmachte, und verurteilte ihn nicht. Und so kotzte er sich im Laufe mehrerer alkoholtrunkener Abende bei ihr aus. Sie hörte ihm zu. Machte nicht viele Worte. Und vor allem keine Vorwürfe. Das gefiel ihm. Er erzählte ihr von dem schrecklichen Unfall. Wie sein Leben danach immer mehr zerbröckelte, alles den Bach runterging. Wie er seinen Job verloren hatte, weil er zu viel trank und immer unzuverlässiger wurde. Wie Anne, die sein überbordendes Selbstmitleid, das schon an Egoismus grenzt, nicht mehr ertrug, mit Töchterchen Mia aus der gemeinsamen Wohnung auszog und Unterschlupf bei seinem ehemals besten Freund Lukas fand. Wie trotz guter Vorsätze jeder Versuch scheiterte, sich aus dem Sumpf aus Schuldgefühlen und Selbstmitleid wieder herauszuziehen, er stattdessen immer tiefer darin versank.
Aber warum drohte Grit ihm jetzt? Was sollte das? Er hatte ihr doch nichts getan. War sie sauer, weil er sie mit seinen Problemen vollgemüllt hatte? Die Gedanken fuhren Karussell in seinem Kopf. Nicht einer ergab einen Sinn.
»Hey, Jakob, was ist los mit dir? Schlechte Nachrichten?« Marcel wischte mit einem Lappen die Wasserpfütze vom Tresen und betrachtete ihn prüfend.
Jakob starrte ihn an wie eine Erscheinung. Sein Gegenüber zog die Stirn kraus, strich sich mit einer Hand über die Glatze.
»Hat’s dir die Sprache verschlagen?«
»Kannst du mir Geld für ein Taxi leihen?« Jakob rutschte vom Hocker. »Einen Fuffi?«
»Was ist denn los?«, insistierte Marcel. »Ist was passiert?«
»Was ist nun? Ja oder nein?«
Marcel verzog das Gesicht zu einer gequälten Grimasse, griff dann aber nach hinten in seine Gesäßtasche und zog das Portemonnaie heraus. »Frag mich nicht, warum ich das für dich tue«, sagte er und reichte Jakob den Schein über den Tresen hinweg. »Verdient hast du’s nicht.«
»Danke«, murmelte Jakob.
Er rutschte vom Hocker, griff sich seine Jacke, die er über den Sitz gelegt hatte, und schlüpfte umständlich hinein. Der Boden unter seinen Füßen schien leicht zu schwanken. Er war wohl doch betrunkener, als er gedacht hatte. Breitbeinig stakste er an den Tischen vorbei durch den Gastraum. Mit beiden Händen schob er den schweren Vorhang vor der Ausgangstür auseinander und rief Marcel über die Schulter zu: »Du bekommst dein Geld zurück.«
»Wer’s glaubt«, murmelte Marcel, aber das hörte Jakob schon nicht mehr. Der Vorhang hatte sich bereits hinter ihm geschlossen.
Er hatte keine Mühe, ein Taxi zu finden. In Kudamm-Nähe kurvten immer welche herum.
Ab hier begann der Film in seinem Kopf plötzlich lückenhaft zu werden.
Dunkel erinnerte er sich an den misstrauischen Blick, mit dem die Taxifahrerin ihn musterte, als er auf den Rücksitz kletterte. Sie zog schnüffelnd die Luft ein und verzog missbilligend das Gesicht, als sie seine Fahne roch, fuhr schließlich aber doch los.
»Untersteh dich und kotz mir den Wagen voll«, hörte er sie sagen.
Jakob sah, wie er sich zur Fahrerin vorbeugte und etwas brüllte. Er konnte aber nicht hören, was. Vermutlich schrie er, sie solle schneller fahren. Es ginge um Leben und Tod. Die Fahrerin wies ihn zurecht. Er solle sein Maul halten, sonst würde sie ihn auf der Stelle aus dem Wagen werfen.
Er beherrschte sich, sank auf den Sitz zurück und schloss die Augen. Im Radio liefen die Nachrichten. Der Sprecher erzählte etwas von einem Brand im Prenzlauer Berg. Ein Dachgeschoss in der Immanuelkirchstraße brannte lichterloh. Lukas, dachte Jakob und fühlte Panik in sich hochsteigen. Da wohnt Lukas. Mia und Anne sind bei ihm in der Wohnung.
An dem Punkt riss der Film in seinem Kopf abrupt ab.