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Es war bereits dunkel, als ich die steile Treppe von der U-Bahn-Station nach oben eilte. Die Laternen gossen kaltes Licht auf den Bürgersteig. Ich roch den beißenden Brandgeruch, hörte das zerstörerische Wüten des Feuers, schon bevor ich in die Immanuelkirchstraße einbog. Ein Teil der Straße war großräumig abgesperrt. Aus dem Dachstuhl eines mehrstöckigen Hauses schlugen rot glühende Flammen. Darüber plusterten sich schwarze Rauchgebilde auf, krochen über die Dächer der anliegenden Häuser. Die Feuerwehr blockierte mit mehreren Mannschaftswagen die Straße. Die Löscharbeiten waren in vollem Gange. Etwas abseits parkte ein Notarztwagen mit eingeschaltetem Warnlicht. Zwei Feuerwehrmänner mit Atemmasken und einer Trage, auf der jemand lag, eilten aus dem Haus. Auf dem Bürgersteig dem brennenden Haus gegenüber drängelte sich eine Menschentraube. Wahrscheinlich die Bewohner, die es selbst oder mit Hilfe meiner Kollegen noch rechtzeitig aus dem Haus geschafft hatten. Und natürlich jede Menge Schaulustige, die es insgeheim genossen, ein solches Unglück hautnah miterleben zu dürfen, ohne selbst davon betroffen zu sein. Gaffer, die sich geradezu suhlten im Unglück und im Leid anderer Menschen. Ein Adrenalinkick sondergleichen. Das bot Gesprächsstoff für mehrere Wochen inklusive wohlige Schauer bei der Erinnerung an diese aufregenden Momente, das brachte ein bisschen Aufregung ins öde Dasein. Angewidert beobachtete ich, wie einige der Gaffer das Geschehen mit ihren Handys fotografierten oder filmten. Wahrscheinlich gab es jetzt schon auf Facebook die ersten Kommentare dazu.
Im Laufe meiner Jahre als Rettungssanitäterin hatte ich diese Sorte Mensch hassen gelernt. Viel zu oft hatte ich es erlebt, dass jemand das Handy zückte, statt zu helfen. Dass Rettungsarbeiten von einer sensationslüsternen Meute behindert wurden und aus dem Grund Schwerverletzten nicht mehr rechtzeitig geholfen werden konnte. Sie mussten wegen der Sensationsgier anderer sterben. Das machte mich immer wieder aufs Neue wütend. Am liebsten wäre ich rübergegangen und hätte den Leuten meine Meinung zu ihrem Verhalten an den Kopf geworfen. Aber dafür hatte ich jetzt keine Zeit. Außerdem würde ich wahrscheinlich sowieso nur auf Unverständnis stoßen. Auch das wusste ich aus eigener Erfahrung.
Ich ging näher ran, suchte mit den Augen nach der Hausnummer an der Fassade, während meine Hand gleichzeitig nach dem Zettel in der Hosentasche griff. Ich verglich die Nummern. Sie waren identisch.
Grit, was hast du getan?
Mein Magen sackte ins Bodenlose.
Etwas abseits entdeckte ich einen Kollegen, den ich kannte. Er sprach konzentriert in ein Funkgerät. Ich eilte auf ihn zu, fragte ihn, was hier passiert war. Er reagierte irritiert, wollte mich schon abkanzeln, da erkannte er mich und entschuldigte sich hastig. Ich winkte ab. Ich war seit Monaten krankgeschrieben, da konnte man schon mal in Vergessenheit geraten.
»Hallo«, sagte er gedehnt. »Wie geht es dir?«
»Geht, danke der Nachfrage, Bernd«, antwortete ich und wiederholte ungeduldig meine Frage.
»Was genau passiert ist, wissen wir nicht. In einer der Dachgeschosswohnungen ist Feuer ausgebrochen. Die Kollegen haben einen Mann rausgeholt. Er hat eine schwere Rauchvergiftung.« Er wies mit dem Kinn Richtung Notarztwagen. »Warum fragst du?«
»Ein Freund von mir wohnt hier«, schwindelte ich.
Bernds Blick verriet Mitleid. Ich zog die Unterlippe zwischen die Zähne und senkte beschämt die Augen.
»Komm mit«, sagte Bernd und griff nach meinem Oberarm. »Vielleicht ist er es ja gar nicht.«
Ich nickte, ließ mich stumm zu dem Krankenwagen führen. Die hinteren Türen standen weit offen. Ein Notarzt und ein Helfer kümmerten sich um den Mann auf der Liege. Bernd erklärte, wer ich war.
»Keine Angst, es besteht keine Lebensgefahr. Er wird durchkommen«, sagte der Helfer zu mir, nachdem ich einen kurzen Blick auf den Mann geworfen hatte.
Ich erkannte ihn sofort. Er war auf einem der Fotos, die ich in Grits Tagebuch gefunden hatte. Sein bester Freund. An den Namen erinnerte ich mich nicht mehr.
»War sonst noch jemand in der Wohnung?«, fragte ich.
Bernd schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er knapp und war schon wieder mit dem Funkgerät zugange.
»Dank dir«, sagte ich schnell und wandte mich zum Gehen.
»Wann kommst du wieder?«, rief er mir nach.
Ich drehte mich um, ein bald lag mir auf der Zunge, wollte mir aber nicht über die Lippen kommen. Ich zuckte mit den Schultern, hob die Hand zum Abschied und ging mit schnellen Schritten davon.
Ich bin so versunken in meine Geschichte, dass ich nur mit Mühe an den Ort zurückfinde, an dem ich tatsächlich bin. In das Zimmer im Krankenhaus. Zu dem Mann, an dessen Bett ich seit Stunden wache. Draußen vor dem Fenster beginnt die Dämmerung des Tages sich bereits gegen die Dunkelheit durchzusetzen. Während ich ihm meine Geschichte erzähle, die auch seine ist und die schon bald zu unserer gemeinsamen verschmelzen wird, hat sich vieles verschoben. Ich bin mir nicht mehr sicher, ob ich das Versprechen, das ich Grit in einem Moment der Schwäche oder besser der Unzurechnungsfähigkeit gegeben habe, wirklich einhalten kann. Ich bin mir nicht mehr sicher, was Recht und was Unrecht ist. Vielleicht kann man die Grenzen dazwischen so eindeutig gar nicht ziehen. Es gibt eben nicht nur Gut und Böse. Schwarz und Weiß. Richtig und falsch. So einfach ist das Leben nun mal nicht.
Ich habe Grits Stimme noch im Ohr, als sie mir nach der Urteilsverkündigung zuzischte: »Sieh ihn dir an. Sieht so jemand aus, der sich schuldig fühlt?« Ich weiß noch, wie erschrocken ich war über den Hass, der ihre Stimme dunkel und schrill zugleich klingen ließ.
Ich höre den Medikamentenwagen der Schwestern durch den Gang rattern. Es wird nicht mehr lange dauern, bis die Frühschicht übernimmt und das Krankenhaus zu neuer Geschäftigkeit erwacht. Bis dahin möchte ich meine – unsere – Geschichte zu Ende erzählt haben. Und bis dahin muss ich zu einer Entscheidung gekommen sein.
Ich betrachte sein durchscheinendes Gesicht, das nur noch aus Haut und Knochen zu bestehen scheint, und frage mich, ob er mich hört. Ob meine Worte bei ihm ankommen. Mitleid schwappt in mir hoch, rollt über mich hinweg in einer nicht enden wollenden Woge.
Niemand, denke ich, niemand darf das Recht für sich in Anspruch nehmen, über einen anderen Menschen zu richten. Das ist eine Anmaßung, die keinem zusteht. Richten allein darf nur Gott. Und der richtet nicht. Er verzeiht. Auch dann, wenn man seine Taten nicht bereut? Ich weiß es nicht. Ich kenne mich nicht so gut aus mit der christlichen Religion. Mein Glaube an einen Gott ist gestorben, als meine kleine Schwester ertrunken ist und ich die Liebe meiner Eltern verloren habe. Sie haben mir nicht verziehen. Obwohl ich ihr eigen Fleisch und Blut bin. Dennoch fühle ich einen diffusen Neid auf die Menschen, die ihre Kraft aus dem Glauben an einen allmächtigen, alles verzeihenden Gott schöpfen. Jemand, mir ist entfallen wer, hat mal gesagt: Ich kann nicht tiefer fallen als in Gottes offene Hand. Diese Worte haben mich so beeindruckt, dass ich sie mir gemerkt habe. Vielleicht weil der Gedanke etwas ungemein Tröstliches hat. Weil ich mir insgeheim wünsche, ich könnte auch so fest daran glauben, dass da tatsächlich jemand ist, der mich auffängt, wenn ich fallen sollte.
Doch letztendlich scheint mir Gott in seiner Güte sehr launisch zu sein. Wie sonst lässt es sich erklären, dass ihm so viele Menschen durch die Finger gleiten und am Boden zerschellen? Ohne dass sie sich etwas zuschulden haben kommen lassen. Es sind nicht immer die Bösen, denen Böses widerfährt.
Ein Geräusch reißt mich aus meinen Gedanken. Er bewegt den Kopf hin und her. Ein gequälter Ausdruck verzerrt seine Gesichtszüge. Sanft streiche ich ihm über den Handrücken. Komapatienten durchleben oft schreckliche Alpträume, die ihnen so real erscheinen, dass sie auch noch lange nach dem Erwachen von ihnen verfolgt werden.
Ich murmele beruhigende Worte, bis seine Gesichtszüge sich wieder glätten. Er versteht mich. Diese Gewissheit spüre ich mit einem Mal tief in mir, als hätte er mir durch unseren Körperkontakt eine Botschaft übermittelt.
Sprich weiter, gibt er mir ohne Worte zu verstehen. Ich möchte das Ende aus deinem Mund hören. Ich möchte verstehen, was warum geschehen ist.
Also nehme ich den Faden wieder auf und erzähle weiter.