13
Der Mercedes, auf dessen Dach das gelb leuchtende Taxischild signalisierte, dass der Wagen sich auf der Suche nach einem Fahrgast befand, bremste mit quietschenden Reifen und kam direkt neben Jakob zum Stehen. Schmutzig braunes Schmelzwasser spritzte hoch und durchnässte seine Hosenbeine. Doch Jakob bekam davon nichts mit, hastig riss er die Wagentür auf. Verbrauchte, warme Luft strömte ihm aus dem Wageninneren entgegen. Es roch intensiv nach einem billigen Rasierwasser und den Ausdünstungen unzähliger Fahrgäste. Jakob zog den Kopf ein, kletterte ins Wageninnere und sank mit einem erleichterten Seufzer auf den Rücksitz.
»Immanuelkirchstraße«, sagte er. »Prenzlauer Berg.«
Von seinem Regencape perlten die Tropfen des schmelzenden Schnees, bildeten kleine Pfützen auf dem Kunstleder des Sitzes. Der Fahrer, von dem Jakob nur den Hinterkopf sah, an dem die wenigen grauen Haare zu einem bleistiftdünnen Pferdeschwanz zusammengeschnürt waren, brummte etwas Unverständliches und stellte den Taxameter an. Mit einem leisen Klicken nahm er seine Arbeit auf.
Jakob zog sich die Kapuze vom Kopf und rieb seine kalten Hände aneinander. Die Wärme machte ihn schläfrig. Jetlag und Schlafmangel forderten ihren Tribut. Jakob gähnte, ließ den Kopf gegen das Polster sinken und schloss die Augen. Das sanfte Schaukeln des Wagens lullte ihn ein. Es dauerte keine Minute, da war er fest eingeschlafen.
»HALLO! Aufwachen!«
Die laute Stimme riss Jakob aus dem Schlaf. Benommen öffnete er die Augen. Der Taxifahrer hatte sich zu ihm umgewandt und stierte ihn über die Rückenlehne hinweg aus rot geäderten Augen verärgert an.
»Na, endlich«, knurrte er. »Ich dachte schon, ich krieg Sie gar nicht mehr wach.«
Jakob brauchte einige Sekunden, um sich zu sortieren und zu checken, wo er sich befand. Sein Mund war vollkommen ausgetrocknet, und das Schlucken fiel ihm schwer.
»Sorry«, sagte er mit belegter Stimme und fummelte das Portemonnaie aus der Gesäßtasche. »Ich bin wohl eingeschlafen.«
»Was Sie nicht sagen«, unkte der Mann und nahm den Geldschein entgegen, den Jakob ihm reichte.
»Stimmt so«, murmelte Jakob und kletterte umständlich aus dem Taxi.
»Danke schön«, rief ihm der Mann hinterher.
Aus dem hocherfreuten Klang seiner Stimme schloss Jakob, dass das Trinkgeld viel zu hoch ausgefallen war. Aber er fühlte sich zu erschöpft, um sich über seine Unachtsamkeit zu ärgern. Er schlug die Wagentür zu und eilte hinter dem davonfahrenden Taxi mit gesenktem Kopf über die Straße. Wie üblich war sie völlig zugeparkt. Einige Autos standen sogar in zweiter Reihe, so dass es immer wieder zu kleinen Staus auf der schmalen Straße kam. Wütendes Hupen gehörte hier zur permanenten Geräuschkulisse. Es schneite noch immer. Die Flocken schmolzen allerdings, sobald sie den Boden der Fahrbahn berührten. Das Kopfsteinpflaster glänzte feucht im matten Schein der Straßenlaternen. Aus der Kneipe neben der hell erleuchteten Apotheke torkelte eine offensichtlich betrunkene Frau. Der Wollmantel von undefinierbarer Farbe war ihr über die Schultern gerutscht. In der rechten Hand baumelte eine Bierflasche. Sie vollführte so etwas wie eine angedeutete Pirouette auf dem Bürgersteig und krakeelte dabei lautstark irgendwelche unverständlichen Sätze. Wahrscheinlich Schimpftiraden gegen Gott und die Welt.
Jakob machte wie alle anderen Passanten einen großen Bogen um sie. Kurz überlegte er, in der Apotheke Schmerztabletten zu kaufen. Sein Handgelenk fühlte sich heiß an und war mittlerweile dick geschwollen. Aber bevor er den Gedanken in die Tat umsetzen konnte, war er bereits an der Apotheke vorbeigeeilt.
Lukas wird sicher ein Schmerzmittel dahaben, dachte er und hastete an dem mit einer verdreckten Markise überdachten Gemüsestand vorbei, von deren Stoffbespannung es auf den Bürgersteig tropfte. Das Haus, in dem Lukas eine der beiden ausgebauten Dachgeschosswohnungen sein Eigen nannte, war direkt daneben. Jakob drückte auf den obersten Klingelknopf, neben dem der Name Lukas Velder stand, und wartete. Nichts passierte. Er drückte noch mal auf die Klingel. Wieder nichts. Er probierte es mit dem Knopf direkt daneben. Der Türöffner schnarrte, ohne dass jemand sich über die Gegensprechanlage gemeldet hätte. Jakob drückte die Tür auf. Ein muffiger Geruch, ein Gemisch aus Katzenpisse und vergammeltem Müll, schlug ihm aus dem gekachelten Vorraum entgegen, der mit Fahrrädern und Kinderwagen zugestellt war. Linker Hand befand sich der Eingang zum Treppenhaus. Dummerweise gab es in dem Altbau keinen Fahrstuhl. Die Eigentümergemeinschaft, zu der auch Lukas gehörte, hatte sich bislang vor den immens hohen Kosten, die der Einbau eines Fahrstuhles bedeutete, gescheut und immer wieder Argumente gefunden, warum es unsinnig wäre, einen einbauen zu lassen. Lukas nahm es irgendwann mit Humor: »Erspar ich mir den Fitness-Klub. Am Tag zwei-, dreimal da hochzukraxeln, ist so gut wie eine halbe Stunde auf dem Crosstrainer.«
Erst als Jakob bis zum dritten Stock hochgehastet war, fiel ihm die ungewöhnliche Stille im Haus auf. Als hätten alle Bewohner in dem Augenblick, in dem er einen Fuß in das Treppenhaus gesetzt hatte, die Luft angehalten, um seinen Schritten zu lauschen. Was für ein unsinniger Gedanke, schoss es Jakob durch den Kopf. Aber die Verwunderung blieb. Hier wohnten einige junge Familien mit Kleinkindern, ältere Leute mit Hunden, der zweite Stock beherbergte eine Musiker-WG. All das garantierte einen permanenten Geräuschpegel, der auch nachts kaum abnahm.
Jakob blieb auf dem Treppenabsatz vor dem gekippten Fenster, das zum Hof hinaus zeigte, stehen. Kühle Luft strömte durch den schmalen Spalt ins Hausinnere. Jakob glaubte, in dem Luftstrom bereits einen Hauch des nahenden Winters zu wittern. Mit schräg geneigtem Kopf horchte er in die Stille. Nicht ein Laut drang aus den umliegenden Wohnungen. Kein Kindergeschrei, kein Hundegebell, keine Musik. Nichts. Bis auf seine eigenen Atemgeräusche war nichts zu hören. Ein mulmiges Gefühl beschlich Jakob. Als müsse er Halt suchen, umfasste er das Geländer. Das Holz fühlte sich angenehm glatt und kühl auf der Handfläche an. Er gab sich einen Ruck und stapfte die restlichen Stufen bis in den fünften Stock hinauf. Vor der Wohnungstür verharrte er und holte mehrmals tief Luft, um wieder zu Atem zu kommen. Dann klingelte er.
Die Türglocke tönte auf der anderen Seite den üblichen Dreiklang. Ding, dang, dong. Jakob wartete auf sich nähernde Schritte, aber nichts passierte. Er drückte noch mal auf den Klingelknopf, wartete. Niemand kam, um ihm zu öffnen. Kurz entschlossen fummelte er den Schlüsselbund unter dem Regencape aus seiner Jackentasche. Er besaß noch immer einen Ersatzschlüssel zu der Wohnung. Er stammte aus der Zeit, als Emma, die Katze von Lukas’ verstorbener Mutter, noch gelebt hatte und er wegen eines Autounfalls mehrere Wochen im Krankenhaus verbringen musste. Jakob war jeden Tag vorbeigekommen, um die Katze zu füttern und mit ihr zu spielen. Ein etwas umständliches Arrangement, wie er fand, aber Lukas war erst vor kurzem eingezogen und kannte keinen der Nachbarn gut genug, um ihm den Schlüssel zur Wohnung, geschweige denn Katze Emma anzuvertrauen. Als Jakob ihm den Schlüssel wieder zurückgeben wollte, hatte Lukas abgewehrt: »Behalt ihn. Für alle Fälle. Man weiß ja nie.«
Etwas zögerlich schloss Jakob die Tür auf und betrat die Wohnung.
»Lukas?«, rief er. »Bist du da?«
Durch die beiden Dachfenster und die riesigen Glastüren, die auf die Terrasse führten, fiel spärliches Licht in die Wohnung. Einen Moment lang kam es Jakob so vor, als würden Nebelschwaden durch den Raum wabern und die Silhouetten des Mobiliars seltsam weichzeichnen.
Er drückte die Tür hinter sich ins Schloss, tastete an der Wand nach dem Lichtschalter. Das verschwommene Bild löste sich auf, als das künstliche Licht dem Raum seine festen Konturen wiedergab. Das helle Eichenparkett schimmerte matt. Die Wände strahlten in einem makellosen Weiß, das Jakob jedes Mal, wenn er die Wohnung betrat, unangenehm in die Augen stach.
»Lukas?«, rief er noch mal. »Wo steckst du?«
Lukas war nicht da, auch sonst niemand. Das hatte Jakob gleich gespürt, als er die Wohnung des Freundes betreten hatte. Sie atmete die Abwesenheit seines Bewohners geradezu aus. Jakob zog sich das Regencape über den Kopf und ließ es achtlos zu Boden fallen.
Das Dachgeschoss bestand aus einem einzigen großen Raum. Lediglich Schlafzimmer und Bad waren in separaten Zimmern untergebracht. In einer Ecke hatte Lukas sich einen Arbeitsplatz eingerichtet. Ein schwerer, antiker Schreibtisch aus massivem, hellem Holz, auf dem sich das silbrig glänzende, aufgeklappte Notebook fast wie ein Fremdkörper ausnahm. Dominiert wurde der Raum von dem cremefarbenen Küchenblock, über dem eine riesige Dunstabzugshaube aus Edelstahl schwebte. Lukas war ein leidenschaftlicher Koch, was man seiner Figur im Laufe der Jahre immer mehr ansah. Ihn rundlich zu nennen, wäre geschmeichelt. Anne und Jakob hatten hier so manchen Abend bei einem guten Rotwein und wechselnden, aber immer vorzüglichen Dreigängemenüs verbracht. War er mit Tamara auch hier gewesen? Die Frage formulierte sich ohne sein Zutun in einem Winkel seines Kopfes. Er wusste es nicht mehr, und merkwürdigerweise empfand er deswegen einen Anflug von Scham. Schnell schob er das Gefühl beiseite.
Wo steckte sie eigentlich? Sie müsste längst hier sein. Er griff nach seinem Handy, um sie anzurufen, als ihm einfiel, dass ja der Akku leer war. Er ging zum Schreibtisch, wo Lukas’ Telefon stand, nahm den Hörer aus der Station und wählte Tamaras Handynummer. Bereits nach dem ersten Klingelton sprang die Mobilbox an. Eine blechern klingende Frauenstimme bat ihn, eine Nachricht zu hinterlassen. Jakob wiederholte, was er in der SMS geschrieben hatte, und da er nicht mehr sicher war, ob er die Adresse erwähnt hatte, nannte er sie vorsichtshalber auch. Dann legte er auf und sah sich in der Wohnung um. Sein Blick fiel auf den gedeckten Esstisch. Jakob umrundete den Küchenblock. Abendbrot für drei Erwachsene – drei? – und ein Kind. Drei mit Rotwein halb gefüllte Gläser, am Rand des einen Glases eine Spur verschmierter Lippenstift, ein Glas mit Milch. Brot, Butter, Wurst und Käse. Eine kleine Schale mit Cocktailtomaten. Mitten auf dem Tisch brannte in einem Halter aus schwerem Messing eine weiße Kerze, deren Flamme im Luftzug hin und her schwankte. Jakob strich sich nachdenklich übers Kinn. Das sah nach einem überstürzten Aufbruch aus. Aber was sollte Lukas dazu veranlasst haben, nach seinem Anruf zusammen mit Mia, Anne und einer dritten Person fluchtartig die Wohnung zu verlassen? Und nicht einmal die Kerze zu löschen? Als würde eine Gefahr von ihm ausgehen. Blödsinn, wies Jakob sich selbst zurecht. Das musste einen anderen Grund haben. Die Frage war nur: welchen?
Für einen Moment stand Jakob mit hängenden Armen regungslos mitten in der Wohnung. Er fühlte sich verloren und unendlich müde. Sein Blick fiel auf die geschlossene Tür zum Schlafzimmer, blieb daran hängen. Jakob spürte, wie sein Herzschlag sich ganz unvermittelt beschleunigte. Wie von unsichtbaren Fäden gezogen, lenkte er seine Schritte in diese Richtung. Vor der Tür stoppte er, umfasste die Klinke und zuckte mit einem lauten Schmerzschrei zurück. Das Metall war so glühend heiß, dass sich auf der Haut der Handfläche und der Finger, die mit der Klinke in Berührung gekommen waren, augenblicklich rote Striemen bildeten. Er stürzte in die Küchenzeile, drehte mit der unversehrten Hand den Hahn auf und ließ eiskaltes Wasser über die verbrannte Haut laufen. Was zum Teufel war das? Wieso glühte die Türklinke, als wäre sie gerade in einem Schmelztiegel erhitzt worden? Er drehte den Wasserhahn wieder zu, trocknete die Hand mit dem Geschirrtuch ab. Die verbrannte Stelle schmerzte heftig, überdeckte den pochenden Schmerz in seinem angeschwollenen Handgelenk. Er tränkte das Geschirrtuch mit Wasser und umwickelte die unversehrte Hand mit dem feuchten Stoff. Dann marschierte er zur Schlafzimmertür zurück. Eine unerklärliche Scheu ließ ihn zögern. Schließlich gab er sich einen Ruck, drückte mit der dick bandagierten Hand die Klinke herunter und stieß die Tür mit dem Fuß auf.
Die großen, roten Lettern an der Wand über dem Bett sprangen ihm förmlich entgegen. Unwillkürlich wich Jakob einen Schritt zurück. Die Buchstaben nahmen fast die gesamte Breite der Wandfläche ein, und das noch feucht glänzende Rot wirkte seltsam obszön auf dem reinen Weiß. Jakob schluckte. Er konnte nicht glauben, was da geschrieben stand. Für einige Sekunden schloss er die Augen. Aber als er sie wieder öffnete, prangten die Buchstaben noch immer an der Wand vor ihm. Er glaubte sogar, den süßlich metallischen Geruch des Blutes riechen zu können, mit dem jemand die Worte an die Wand geschmiert hatte.