37
Tamara zog die Schiebetür zum Innenraum des Kastenwagens mit einem kräftigen Ruck auf. Während des gesamten Weges hierher hatte sie kein Wort mit Jakob gewechselt. Sie bückte sich unter dem Türrahmen hindurch ins Innere, wandte sich dann nach Jakob um, der abwartend draußen stehen geblieben war und die Trümmer seines zusammengestürzten Hauses mit einem Gefühl von Wehmut betrachtete. Die Ruine erschien ihm mit einem Mal als Sinnbild für sein gesamtes Dasein. Alles war auseinandergebrochen, nichts war mehr so, wie es einmal gewesen war. Wie sollte er die einzelnen Teile jemals wieder zusammenfügen? Unwillkürlich stieß er einen tiefen Seufzer aus.
»Jakob?« Tamaras Stimme riss ihn aus seinen quälerischen Gedanken. »Komm rein«, forderte sie ihn auf. »Ich verbinde dir erst mal dein Bein. Du blutest ziemlich.«
Jakob schaute an sich runter. Das linke Hosenbein war blutdurchtränkt. Komischerweise hatte er keinerlei Schmerzempfinden. Er fühlte sich zwar bis zur Grenze des Ertragbaren erschöpft, aber nichts tat ihm mehr weh. Auch die Hand und das Gelenk schmerzten nicht mehr, wie ihm jetzt erst bewusst wurde. Er befand sich in einem angenehmen, fast schwerelosen Zustand. Merkwürdig, dachte er und kletterte zu Tamara in den Wagen. Als wäre der körperliche Schmerz aufgrund der Stresssituation, in der er sich befand, als unpassend abgeschaltet und als wären stattdessen tonnenweise Endorphine ausgeschüttet worden, um ihn in einem, wenn auch trügerischen, körperlichen Wohlgefühl zu wiegen. Jakob schloss die Schiebetür, damit es im Innenraum nicht noch mehr auskühlte.
»Setz dich.« Tamara blies warme Atemluft in ihre Hände und deutete auf die Bank im hinteren Teil. Sie öffnete die Klappe des Hängeschrankes neben dem zweiflammigen Gasherd und nahm den Verbandskasten heraus.
Jakob rutschte ganz nach hinten, lehnte sich an die Rückwand und hob das verletzte Bein auf das dünne Polster, das auf der Bank lag. Schweigend schnitt Tamara mit der Schere durch den Stoff der Hose und versorgte die Wunde mit einer Professionalität, die Jakob erstaunte.
»Hast du in der Zwischenzeit eine Ausbildung als Krankenschwester gemacht?«
Ohne hochzusehen, sagte Tamara: »Da, wo ich mich die letzten Jahre aufgehalten habe, lernt man das irgendwann. Das gehört zum Überleben dazu.«
»Entschuldige«, sagte Jakob. »Ich wollte nicht –«
Tamara winkte ab. »Lass gut sein. Sag mir lieber, wie es jetzt weitergehen soll.«
Jakob zuckte hilflos mit den Schultern. »Am liebsten würde ich mich irgendwo verkriechen«, sagte er schließlich und sah starr geradeaus. »Abwarten, bis dieser Alptraum endlich ein Ende hat. Aber das geht leider nicht. Ich muss Mia finden.«
»Und Anne«, fügte Tamara hinzu.
»Und Anne«, bestätigte Jakob.
»Fertig«, sagte Tamara und verstaute den Verbandskasten wieder sorgfältig in dem Hängeschrank. »Jakob«, sagte sie und stockte kurz. »Irgendetwas stimmt hier nicht. Und ich werde das Gefühl nicht los, es hat etwas mit dir zu tun.«
»Natürlich hat es mit mir zu tun«, entgegnete Jakob müde und setzte sich wieder aufrecht hin. »Mit wem sonst?«
»So meine ich das nicht«, sagte Tamara. »Ich befürchte, dass du – aus welchen Gründen auch immer – den Bezug zur Realität –«
»Schon gut«, unterbrach Jakob ihren Redefluss. »Ich weiß, was du sagen willst. Du musst dich nicht wiederholen.« Er erhob sich. »Es ist wohl besser, wenn unsere Wege sich hier wieder trennen.«
Tamara legte ihm eine Hand auf den Arm. »Jakob, warte. Bitte! Es hilft uns nicht weiter, wenn du jetzt gekränkt reagierst.«
»Versetz dich doch mal in meine Lage.« Jakob wandte sich ihr zu. »Seit ich aus Vietnam zurück bin, habe ich das Gefühl, in einem falschen Film gelandet zu sein. Und dann kommst du daher und zweifelst auch noch an meinem Verstand.«
»Ich zweifele nicht an deinem Verstand«, widersprach Tamara. »Es ist nur –« Sie brach den Satz ab und hob hilflos die Schultern.
»Siehst du«, sagte Jakob und verzog die Lippen zu einem resignierten Lächeln.
Das Klingeln eines Handys ersparte Tamara die Antwort. Jakobs Hand fuhr wie elektrisiert in die Innentasche seiner Jacke. Das Display zeigte an, dass die Rufnummer unterdrückt war. Er zögerte, nahm das Gespräch dann aber an. »Ja?«
»Spreche ich mit Jakob Auerbach?«
Eine Frauenstimme. Tonlos, fast ein Flüstern.
Jakob kam die Stimme vage vertraut vor, aber auf die Schnelle erschloss sich ihm nicht, woher er sie kannte.
»Es geht um Mia«, sagte die Frau und schob, »Ihre Tochter« hinterher, als müsste sie ihm das in Erinnerung rufen.
»Was ist mit ihr?« Jakob umklammerte das Mobilgerät. Er schrie fast. »Wer sind Sie? Was haben Sie mit ihr gemacht?«
»Wer ist dran?«, fragte Tamara erschrocken. Jakob wies sie mit einer abwehrenden Geste an, ruhig zu sein.
»Ich weiß, wo sie ist«, sagte die Frau, ohne auf Jakobs Fragen einzugehen.
»Dann sagen Sie es mir.« Jakob war so angespannt, dass sein Kiefer knackte. In der Leitung blieb es still. Er hielt das Gehäuse des Mobilgeräts fest an das Ohr gedrückt. Die Leitung war wie tot. Ein Piepton signalisierte, dass der Akku gleich wieder leer war.
»Sind Sie noch dran?«, schrie er.
Dann vernahm er eine Stimme, deren Klang ihm durch und durch ging.
»Jakob, bitte komm«, wisperte Anne. »Schnell. Sie wird uns sonst …«
Jakob vernahm einen erstickten Laut, dann meldete sich die Anruferin wieder zu Wort. »Das genügt«, sagte sie.
»Was soll ich tun?«, fragte Jakob. »Los, reden Sie schon!« Tamara legte ihm eine Hand auf den Oberarm, als wollte sie ihn beruhigen.
Die Frau nannte ihm eine Adresse. Dann war es still in der Leitung, sie hatte aufgelegt.
»Was zu schreiben.« Jakob ließ das Handy sinken, stopfte es in die Jackentasche. »Schnell«, ergänzte er mit gehetzter Stimme.
Tamara sah ihn für den Bruchteil einer Sekunde ratlos an. Dann reagierte sie. Mit einem Handgriff öffnete sie eine Schublade und reichte ihm Block und Stift.
Jakob notierte die Adresse, die ihm die Frau genannt hatte. »Wir müssen nach Berlin-Buch«, sagte er.
Dieses Mal reagierte Tamara sofort. Sie quetschte sich zwischen den beiden Sitzen durch und nahm auf der Fahrerseite Platz, Jakob tat es ihr gleich und kletterte auf den Beifahrersitz. Keine fünf Sekunden später startete sie den Wagen.
»Wer war das?«, fragte sie, während sie schaltete. »Warum müssen wir nach Buch? Was ist los? Jakob, sprich mit mir.«
Jakob holte tief Luft. »Mein Verdacht hat sich bestätigt. Mia und Anne sind tatsächlich entführt worden«, sagte er schließlich mit tonloser Stimme. »Erst war eine Frau dran und dann Anne …« Mit beiden Händen fuhr er sich durchs Haar. »Sie hatte offensichtlich schreckliche Angst.«
Tamara zog scharf die Luft ein. »Hast du auch mit deiner Tochter sprechen können?«
Jakob schüttelte stumm den Kopf. Die Angst schnürte ihm die Kehle zu. Was war mit Lukas? Wie passte er ins Bild? War er auch ein Opfer? Oder hatte er etwas mit der Entführung der beiden zu tun?
»Ich frage mich gerade, wie Lukas da reinpasst«, sagte Tamara, als hätte sie Jakobs Gedanken gelesen. »Glaubst du, er hat etwas damit zu tun?«
Jakob hob in einer hilflosen Geste beide Hände. »Ich habe keine Ahnung«, sagte er. »Aber ich kann es mir, ehrlich gesagt, nicht vorstellen. Lukas ist über jeden Zweifel erhaben –« Jakob stockte. Schließlich ist er mein bester Freund, hatte er hinzufügen wollen. Aber da war ihm Lukas’ merkwürdiges Verhalten am Telefon wieder in den Sinn gekommen. Er hatte aufgelegt, als er ihn gebeten hatte, Anne ans Telefon zu holen.
Der Wagen rumpelte über das Kopfsteinpflaster der Hauptstraße, die durch das wie ausgestorben wirkende Dorf führte. Ein paar Meter vor ihnen huschte eine Katze mit steil aufgerichtetem Schwanz über die Straße, duckte sich unter dem Zaun hindurch und verschwand in einem der Vorgärten.
Jakob versuchte sich mit seinem Handy ins Internet einzuwählen. Er wollte die Adresse googeln, die die Frau ihm genannt hatte. Unvermittelt brach das Netz weg.
»Über die A10 müsste es am schnellsten gehen«, sagte er zu Tamara, ohne das Display seines Handys aus den Augen zu lassen. »Fahr Richtung Birkenwerder und von dort auf die Autobahn.«
»Okay«, antwortete Tamara.
»Wieso krieg ich jetzt kein Netz mehr?«, murmelte er genervt. »Eben ging’s doch noch.«
Tamara beschleunigte nach dem Ortsausgangsschild. Jakob wischte mit der freien Hand über die beschlagene Scheibe der Beifahrertür. Dichter, hoher Wald säumte den Straßenrand, reckte sich wie eine schwarze Mauer in den nachtdunklen Himmel. Außer ihrem war kein anderes Fahrzeug unterwegs. Die Scheinwerfer malten zwei helle Lichtstreifen auf den dunklen Asphalt.
Jakob warf einen Blick auf sein Handy – noch immer kein Netz – und steckte es weg. Verstohlen betrachtete er das Profil von Tamara, die konzentriert auf die Straße schaute. Mit einem Mal kam sie ihm fremd vor. Sie strahlte eine kühle Unnahbarkeit aus, die ihn unwillkürlich frösteln ließ. Jakob lehnte sich im Sitz zurück, schloss die Augen und rief sich selbst zur Räson. Offenbar verlor er allmählich jeglichen Bezug zur Realität. Erst zweifelte er an Lukas’ Loyalität, jetzt ging er innerlich auf Distanz zu Tamara. Zu dem einzigen Menschen, der ihm in dieser Situation zur Seite stand. Ihm war wirklich nicht mehr zu helfen.
»Was hat die Frau denn nun eigentlich konkret gesagt?«, unterbrach Tamara das ungute Schweigen, das zwischen ihnen lastete.
»Nur dass Anne und Mia in Buch sind«, sagte er.
»Verstehe.«
Jakob schluckte. Unvermittelt wallte Ärger in ihm hoch. »Was verstehst du?«, fuhr er Tamara an.
Sie zuckte zusammen, warf ihm einen irritierten Blick zu.
»Ich verstehe nämlich nichts«, sagte Jakob mit erhobener Stimme. »Wieso werde ich dahinbestellt? Müssten der oder die Entführer nicht erst eine Lösegeldforderung stellen? Und dann eine Geldübergabe ausmachen?«
»Stimmt«, konstatierte Tamara. »Da ist was dran.«
Jakob runzelte die Stirn. Irgendetwas stimmte nicht mit Tamara. Das spürte er. Deshalb empfand er sie auch als kalt und abweisend. Er holte tief Luft. Dann platzte es aus ihm heraus. »Wo bist du gewesen?« Er wandte sich ihr zu, musterte sie herausfordernd von der Seite.
»Wie meinst du das jetzt?« Tamara klang überrascht.
»Vorhin, nachdem das Haus eingestürzt ist, da warst du plötzlich verschwunden.«
»Ach, das meinst du«, sagte Tamara leichthin. »Sorry, ich musste mal. Und als ich wiederkam, warst du weg.«
»Dein Wagen hat eine Toilette. Hast du jedenfalls gesagt«, wandte Jakob ein.
Tamara warf ihm einen schnellen Blick von der Seite zu. »Mein Gott, Jakob! Was soll das? Ich musste einfach mal frische Luft schnappen. Ein paar Schritte gehen. Ich hatte das Gefühl zu ersticken. Ein kleiner Panikanfall, wenn du’s genau wissen willst.«
»Ich habe laut nach dir gerufen«, bohrte Jakob ungerührt weiter.
»Das habe ich nicht gehört.«
»Und dann bist du einfach gefahren?«, sagte Jakob. »Ohne mich.«
»Ja«, sagte sie. Jakob hörte die Ungeduld in ihrer Stimme. »Ich habe alles nach dir abgesucht, du warst weg. Ich dachte …« Sie brach ab.
»Was dachtest du? Sag schon.« Das kam schärfer heraus, als Jakob beabsichtigt hatte.
Tamara hob die Schultern. »Ich weiß auch nicht. Ich dachte, du hättest dich«, sie zögerte, »verdrückt.«
Jakob zog die Augenbrauen hoch. Das war das Dümmste, was er je gehört hatte. Tamara log. Da war er sich sicher. Aber er hatte keine Ahnung, warum sie ihn anlog. Es musste einen Grund dafür geben.
Welche Rolle spielte eigentlich Tamara in dieser Geschichte? Sie war wie aus dem Nichts plötzlich wieder in seinem Leben aufgetaucht und wich ihm seitdem nicht mehr von der Seite. Äußerlich schien sie kaum verändert, aber irgendetwas an ihr irritierte Jakob zusehends. Er konnte nicht benennen, was genau es war. Es war mehr so ein Gefühl, das sich immer mehr verstärkte. Sie erschien ihm so weit weg. Unerreichbar.
»Und warum bist du dann wieder zurückgekommen?«, fragte er sie mit kalter Stimme.
Tamara seufzte laut. »Vielleicht, weil ich es nicht über mich gebracht habe, dich in dieser verfahrenen Situation alleinzulassen?«
Für einen kurzen Moment spürte Jakob so etwas wie Rührung in sich aufsteigen. Die Sorge um ihn hatte Tamara zur Rückkehr bewogen. Aber im gleichen Atemzug meldeten sich seine Zweifel zurück. War das wirklich der Grund gewesen? Wie er es auch drehte und wendete: Tatsache war, dass sein Leben seit Tamaras Auftauchen immer mehr aus den Fugen geriet. Steckte sie hinter all dem? Hatte sie das alles von langer Hand vorbereitet? Als späte Rache?
Jakob fror plötzlich.