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Mir fallen schon wieder die Augen zu. Die monotonen Geräusche der Überwachungsgeräte haben etwas ungemein Einschläferndes. Ich schneide eine Grimasse, reiße die Augen auf und gähne mit weit geöffnetem Mund. Ob ich Schwester Angélique um einen Kaffee bitten kann? Ich stehe vom Stuhl auf und bewege mich etwas steifbeinig auf die Zimmertür zu. Dort zögere ich. Die Hand schon auf der Türklinke, werfe ich einen Blick zurück auf das Bett. Er liegt vollkommen bewegungslos da. Unwahrscheinlich, dass er ausgerechnet in den nächsten Minuten aufwachen wird, beruhige ich mich und trete hinaus auf den Flur. Leise ziehe ich die Tür hinter mir zu. Der helle Schein der Deckenlampen taucht den Gang in ein kaltes und, wie mir scheint, unbarmherzig sezierendes Licht. Kein Ort, um sich wohl zu fühlen. Mich überläuft ein Schauder. Unwillkürlich schüttele ich mich. Ein trockener Husten aus einem der Zimmer durchbricht jäh die Stille. Es hört sich an, als sei jemand kurz vor dem Erstickungstod. Ich überlege, ob ich laut um Hilfe rufen soll, da verstummt das röchelnde Geräusch so unvermittelt, wie es aufgetaucht ist. Stattdessen dringen leise Stimmen an mein Ohr. Ich lenke meine Schritte in die Richtung, aus der ich sie höre. Der kleine Tresen in der Mitte des Flurs ist verwaist. Die Tür zum Schwesternzimmer dahinter ist nur angelehnt. Zaghaft klopfe ich mit dem Knöchel des Zeigefingers dagegen. Keine Reaktion. Ich drücke die Tür einen Spaltbreit auf, spähe in den Raum hinein.
Schwester Angélique und ihre Kollegin, deren Namen mir entfallen ist, sitzen sich an einem Tisch gegenüber und reden leise miteinander. Die Namenlose hat die Hände um einen mit bunten Kreisen verzierten Keramikbecher gelegt.
»Ich finde die Tusse irgendwie merkwürdig«, sagt sie gerade und schaut konzentriert in das Innere des Bechers, als würde sich da drinnen etwas abspielen, das ihre ganze Aufmerksamkeit erfordert. »Die ist kalt wie ein Fisch.«
Schwester Angélique, die mir den Rücken zukehrt, hebt den Kopf. »Findest du?«, fragt sie. Ich höre die Überraschung in ihrer Stimme.
»Ja«, sagt die Namenlose ausdruckslos, ohne ihren Blick zu heben. »Die hat noch keine einzige Träne vergossen. Verzieht keine Miene. Das sagt doch alles.«
Schwester Angélique schüttelt den Kopf. »Das glaube ich nicht«, sagt sie. »Sie ist nur sehr verschlossen. Und völlig überfordert mit der Situation. Überleg mal, wie du dich verhalten würdest, wenn es dein Mann wäre, der da liegt und mit dem Tod ringt.«
Sie reden über mich. Das wird mir schlagartig klar. Ich öffne den Mund, um mich bemerkbar zu machen, aber da spricht die Namenlose schon weiter.
»Heulen würde ich, was das Zeug hält. Immerhin kämpft der Mann mit dem Tod. Weißt du, wie die auf mich wirkt? Als würde sie das alles nichts angehen. Irgendetwas an ihr wirkt –« Sie stockt, als müsse sie nach dem richtigen Wort suchen. »Nicht richtig. Da ist etwas falsch«, beendet sie den Satz mit einem Achselzucken.
»Du spinnst ja«, sagt Schwester Angélique. Mit sehr viel Nachdruck in der Stimme.
Hätte ich sie nicht schon vorher sympathisch gefunden, spätestens jetzt hätte ich sie wohl endgültig ins Herz geschlossen. Auch wenn ihre Kollegin mit ihrer Vermutung der Wahrheit erstaunlich nahe kommt. Zumindest fühle ich mich so. Irgendwie losgelöst aus der schrecklichen Situation, in der ich mich befinde. Als würde ich alles durch eine Glaswand von der Realität getrennt erleben.
»Warum bildet sich auf heißem Kakao eigentlich immer so eine eklige Haut?«, fragt die Namenlose zusammenhanglos und sieht von ihrem Becher hoch. Mir direkt ins Gesicht. Ich spüre, wie mir das Blut in den Kopf schießt, und senke verlegen den Blick.
»Ich … Ich wollte fragen, ob ich einen Kaffee haben könnte?«, stottere ich.
»Am Ende des Flurs gibt es einen Automaten«, antwortet die Namenlose schnippisch und mustert mich aus argwöhnischen Augen. Wahrscheinlich fragt sie sich, wie viel ich von ihrer Unterhaltung mitbekommen habe.
»Der ist kaputt«, sage ich.
»Richtig«, erinnert sich Schwester Angélique und dreht sich zu mir um. »Ich habe noch einen Rest in der Thermoskanne. Für einen Becher dürfte es reichen. Er ist allerdings nicht mehr ganz frisch«, fügt sie bedauernd hinzu.
»Das macht mir nichts«, versichere ich schnell und zucke erschreckt zusammen, als es hinter meinem Rücken zu piepen beginnt.
Schwester Namenlos springt auf. »Ich geh schon«, sagt sie und drängt sich an mir vorbei zur Tür hinaus.
»Augenblick«, sagt Schwester Angélique zu mir und verschwindet im Nebenraum. »Milch?«, ruft sie.
»Nein, danke. Auch keinen Zucker«, füge ich hinzu.
Kurze Zeit später kommt sie mit einem Becher in der Hand zurück. »Bitte«, sagt sie und reicht ihn mir, ein, wie mir scheint, verlegenes Lächeln auf dem Gesicht.
Ich bedanke mich und transportiere den Becher vorsichtig über den Flur in das Zimmer mit der Nummer 072 zurück. Er ist sehr voll, ich gehe ganz langsam, damit er nicht überschwappt. Ich drücke die Klinke herunter, schiebe die Tür mit dem Hintern auf. Abgestandene Luft wabert mir aus dem Raum entgegen. Ich würde gerne lüften, aber das Fenster lässt sich nicht öffnen. Der Griff ist abmontiert. Vielleicht um zu verhindern, dass sich ein Todgeweihter aus dem Fenster stürzt? Im Stehen nippe ich an dem Kaffee. Er ist tatsächlich nur noch lauwarm und schmeckt unangenehm bitter. Egal, Hauptsache das Koffein hält mich wach. Mit dem Becher in der Hand setze ich mich wieder neben das Bett. In kleinen Schlucken trinke ich ihn leer und betrachte ihn währenddessen. Seine Augen sind geschlossen. Die Lider wirken dünn, durchscheinend wie Pergamentpapier. Jetzt gerade flattern sie leicht, öffnen sich halb. Ich stelle meinen Becher ab und beuge mich über ihn.
Erschrocken zucke ich zurück. Seine Augen sind offen. Die Pupillen riesig. Die Augäpfel wandern hektisch nach links und rechts. In einem steten Wechsel. Als müsse er sich in jeder Sekunde versichern, dass ihm von keiner Seite Gefahr droht. Dann plötzlich schließen sich die Lider wieder über seinen Augen. Der angespannte Ausdruck in seinem Gesicht löst sich.
Waren sie wirklich offen, oder geht meine Phantasie mit mir durch? Ich wische mir mit der Hand übers Gesicht. Seit Tagen habe ich nicht mehr richtig geschlafen, ständig unter Strom gestanden. Schlafmangel schränkt nicht nur die Reaktionsfähigkeit ein, er kann auch zu Wahrnehmungsstörungen bis hin zu Halluzinationen führen. Bei Verhören in Diktaturen – und nicht nur dort – wird Schlafentzug gerne als Foltermethode eingesetzt, um Menschen gefügig zu machen und Geständnisse zu erpressen. Das habe ich erst letztens in einem Artikel im Berliner Morgen gelesen. Oder war es doch bei Wikipedia? Egal. Jedenfalls kommt es mir vor, als wäre das in einer anderen Zeit, in einem anderen Leben gewesen.
Ich setze mich gerade hin. Das harte Plastik des Stuhls drückt sich schmerzhaft gegen meinen Hintern. Ich rutsche hin und her, versuche eine bequemere Position zu finden.
»Reden Sie mit ihm«, hat Schwester Angélique gesagt. »Der vertraute Klang Ihrer Stimme wird ihn beruhigen. Ihm Kraft geben. Die Kraft, die er braucht, um aufzuwachen und weiterleben zu können.«
Ich atme tief durch.
Wo soll ich anfangen?
Was soll ich ihm erzählen?
»Schaffen Sie eine Verbindung. Berühren Sie ihn, streicheln Sie sein Gesicht. Zeigen Sie ihm, dass Sie da sind. Für ihn da sind.«
Zögernd taste ich nach seiner Hand, die auf dem weißen Laken wie ein lebloser Gegenstand neben ihm liegt. Im Gegensatz zu meinen fühlen sich seine Finger überraschend warm an.
Ich werte es als ein gutes Zeichen. Noch pulsiert das Leben in seinem Körper. So verharre ich eine Weile. Seine Hand in meiner Hand. Es fühlt sich anfangs falsch an. Wie ein Fremdkörper. Aber ganz allmählich wärmen sich meine Finger, meine Handfläche wird ganz weich. Ich umschließe mit meiner Hand seine Hand. Ganz sanft. Ohne Druck.
Und dann, ganz unvermittelt, zerreißt ein schriller Ton die Stille. Der Körper auf dem Bett bäumt sich in wilden Zuckungen auf. Sofort geben auch die anderen Geräte Alarm. Erschrocken lasse ich seine Hand los, springe vom Stuhl hoch. Polternd fällt er hinter mir zu Boden. Bevor ich einen klaren Gedanken fassen kann, wird die Zimmertür aufgerissen. Ich spüre den kalten Luftzug im Rücken, höre das Rascheln von Kleidung, und dann eilen auch schon beide Krankenschwestern an das Bett. Eine der beiden, ich glaube die Namenlose, schiebt mich mit einem resoluten »Warten Sie bitte draußen, Sie sind hier nur im Weg!« aus dem Zimmer und schließt die Tür hinter mir.
Ich lehne mich an die Wand gegenüber und lausche den Geräuschen, die aus dem Zimmer dringen und das Rauschen in meinen Ohren kaum überdecken. Mein Herz rast. Mich überfällt die irrationale Angst, dass es mir jeden Augenblick den Brustkorb sprengen wird.
Er darf nicht sterben. Der Satz hämmert wie der Schlag einer Trommel in meinem Kopf.
Bitte! Er darf nicht sterben. Nicht jetzt!