KAPITEL 17
Prag, Tschechische Republik
Aaron Roth erlag noch am Tatort seinen schweren Bauchverletzungen. Die beiden Projektile hatten die Hauptschlagader zerfetzt, so dass er innerhalb weniger Minuten innerlich verblutet war. Nichts und niemand hätte ihn noch retten können.
Linda wurde schwer verletzt und hochgradig traumatisiert in die Klinik der Karls-Universität eingeliefert. Trotz der Schutzweste, die sie getragen hatte, waren zahlreiche Rippen und das Brustbein gebrochen. Außerdem hatte sie eine Schusswunde am linken Oberschenkel. Als sie am übernächsten Tag während der Chefarztvisite wieder zu sich kam, war ihr gesamter Oberkörper mit einem blauschwarzen Bluterguss überzogen. Die Schmerzen im Brustkorb waren so stark, dass sie kaum atmen konnte. Die behandelnden Ärzte waren über die Herkunft der Verletzungen informiert und kannten die Zusammenhänge. Niemand sonst durfte zu ihr. Der Oberarzt verordnete ihr einen Mix aus Schmerzmitteln und Antidepressiva, und sie verbrachte einige Tage im Halbschlaf. Die Wirkung des Psychopharmakons verhinderte, dass ihr Unterbewusstsein sie während dieser Zeit der körperlichen Genesung mit dem schrecklichen Ende der Jagd auf den Attentäter konfrontierte. Während der Wachphasen starrte sie teilnahmslos aus dem Fenster und erfreute sich an der Taube, die auf dem Fensterbrett saß und Gurrlaute ausstieß.
Sie hatte Glück, dass der zuständige Oberarzt, Professor Ondrej Sládek, die Situation vom ersten Augenblick an richtig einschätzte. Er ordnete an, dass sie in einen separaten Flügel der Klinik verlegt wurde, und engagierte einen Wachdienst, der die Station Tag und Nacht vor unliebsamen Besuchern, insbesondere Sensationsjournalisten, abschirmte, die sofort nach dem Bekanntwerden der Vorfälle das Klinikportal belagerten wie Heuschrecken. In einem der kurzen Gespräche mit Sládek signalisierte Linda, dass sie keinen Besuch habe wollte – mit Ausnahme ihres Vaters und ihres besten Freundes Max.
Am Mittwoch, dem 15. April, wurde Sládek auf eine harte Bewährungsprobe gestellt. Eine Delegation des deutschen Bundeskriminalamtes kündigte für den Nachmittag eine Visite der Bundeskanzlerin an, die sich zu politischen Gesprächen in Prag befand und die Gelegenheit nutzen wollte, der in der Presse hochstilisierten „Heldin von Prag“ einen Krankenbesuch abzustatten. Sladék konfrontierte Linda um die Mittagszeit mit diesem Begehren.
„Ich fühle mich nicht besonders gut, Professor. Bitte bestellen Sie ihr, dass ich mich sehr über dieses Ansinnen gefreut habe, aber mich noch nicht dazu in der Lage fühle.“
Sladék nickte und trat seinen schweren Gang zum Rektor des
Klinikums an, der bereits sämtliche Vorkehrungen für den hohen
Besuch getroffen hatte. Nach einem heftigen Disput behielt Sladék
die Oberhand und sagte kurz danach das Treffen vor laufenden
Kameras ab, wofür er zahlreiche Missbilligungen der Pressevertreter
und der deutschen Delegation einsteckte.
***
Genau zweieinhalb Wochen nach ihrer Einlieferung wurde Linda aus dem Klinikum entlassen und auf eigenen Wunsch in eine psychosomatische Privatklinik am Bodensee gebracht. Sie war inzwischen nahezu schmerzfrei und konnte sogar einige Schritte gehen, aber sie wusste, dass der schwerere Teil ihrer Rehabilitation noch bevorstand: die Aufarbeitung des Traumas und die Rückkehr in ein normales Leben.
Professor Sladék bestärkte sie in ihrem Beschluss und versprach,
sich wöchentlich bei ihr zu melden. Der Krankentransport erfolgte
still und unbemerkt in den frühen Morgenstunden, um dem immer noch
andauernden Ansturm der Medien aus dem Weg zu gehen. Sladék hielt
die Verlegung bis zum Ende der Woche geheim, dann gewährte er den
Sensationsreportern Zugang in ihr ehemaliges Krankenzimmer. Danach
kehrte endlich Ruhe ein.
***
Linda genoss die Stille in der Klinik. Von ihrem Fenster aus konnte sie einen Blick auf den See werfen. Segelboote, die in Luv und Lee gegen den Wind kreuzten, schneebedeckte Hügelketten auf der Schweizer Seite, eine Höckerschwanfamilie, die mit ihren Jungen im nahen Schilf täglich eine Rast einlegte. Mit Ausnahme einiger Ärzte und Therapeuten wusste niemand, was ihr zugestoßen war.
In den Erstgesprächen bahnte sich ein freundschaftliches Verhältnis zu einer jungen Psychologin an, und mit ihr zusammen begab sich Linda zu Beginn der dritten Woche auf die schwierigste Reise ihres Lebens. Neun Wochen lang trafen sie sich zweimal am Tag zu einer Sitzung, deren Dauer sie selbst bestimmen durfte. In der Mittagspause und am Abend unternahm sie Spaziergänge entlang des Seeufers. Anfangs traute sie sich nur einen Steinwurf von der Klinik weg, aber Ende Juni kehrte sie manchmal erst nach drei Stunden zurück.
Kurz vor den Sommerferien wagte sie zusammen mit Max einen Kurzurlaub in der Schweiz. Danach entschied sie, wieder auf eigenen Füßen stehen zu wollen. Nach mehreren Gesprächen und zwei Fahrten nach Saint-Chamond entschied sie, zunächst bei Thierry Bonnet und seiner liebevollen Frau Andree unterzukommen. Mit ihr verstand sie sich von der ersten Minute an. Andree war mittlerweile im sechsten Monat schwanger. Linda freute sich mit ihr über das Kind in ihrem Bauch und begleitete sie sogar zu den Ultraschalluntersuchungen.
Noch immer wagte sie nicht, sich dem Medienrummel um ihre Person
zu stellen, zumal das Interesse seriöser Presseagenturen stark
zurückgegangen war. Max, der sich um ihre Post kümmerte, berichtete
regelmäßig von den vielen Briefen und Telefonanrufen.
***
Am 22. August feierten sie Lindas dreißigsten Geburtstag im Garten der Bonnets. Auch Jean-Paul war der Einladung gefolgt. Am Abend saßen sie gemütlich um einen Tisch und aßen Käse und Weißbrot, Thierry hatte ein paar vorzügliche Weinsorten aufgetischt. Es duftete nach Lavendel, und aus den angrenzenden Gärten drang das Zirpen der Mannasingzikaden. Linda mochte den gleichförmigen, schnarrenden Gesang der Männchen, wie sie beständig um die Gunst der Weibchen warben. Sie fühlte sich wohl. Genau so hatte sie dieses Fest feiern wollen, mehr brauchte es nicht. Sie lauschte vergnügt den Gesprächen über den Säuregehalt der Weine in der Region, welche Zutaten für die Herstellung „richtiger“ Merguez verwendet wurden und warum Paris in den Sommermonaten regelmäßig zur Provinzstadt verkümmerte.
Sie mochte diese Menschen, die es in den vergangenen Monaten geschafft hatten, sie auf natürliche und herzliche Art zu begleiten, ohne ihr das Gefühl zu vermitteln, krank zu sein oder sie besonders schützen zu wollen.
Bislang war nur wenig über die Ereignisse im Frühjahr gesprochen worden, und immer nur dann, wenn Linda es gewollt hatte. Ihr war klar, dass die anderen vollumfänglich über die Geschehnisse informiert waren. Davor hatte sie sich bislang geschützt, denn sie kannte nur ein paar Eckdaten. Alles andere war ihr bis zum heutigen Tag gleichgültig gewesen, insbesondere der Run auf ihre Person. Das war auch der Grund gewesen, weshalb sie keinesfalls in ihre Wohnung zurückkehren wollte. Außerdem dachte sie immer häufiger daran, ihren Beruf an den Nagel zu hängen. Aber was sollte sie sonst tun? Bisher hatte sie nicht die Kraft und den Mut dazu gefunden, aber an diesem Abend spürte sie, dass die Zeit gekommen war, den letzten Schritt an die Oberfläche zu wagen, die letzte Hülle ihres Schutzpanzers abzulegen und zurückzukehren in ein selbstbestimmtes Leben. Dazu musste sie die ganze Geschichte verstehen, die Folgen kennen und den Tod Aarons als etwas akzeptieren können, das unauslöschlich zu ihrem Leben dazugehörte.
„Auf Aaron“, unterbrach sie ihren Vater, der gerade über die Klimaerwärmung philosophierte, und hob das Weinglas. „Ich möchte, dass wir auf Aaron trinken.“
Sie glaubte, statt der erwarteten Reaktion in der Runde ein Gefühl der Erleichterung festzustellen, und das bestärkte sie in ihrer Entscheidung. „Auf einen guten Freund“, fügte sie hinzu. „Santé!“
Nachdem sie alle getrunken hatten, wollte sie wissen, wo er beigesetzt worden war.
„Sein Vater hat ihn nach Israel überführen lassen“, erklärte Max. „Er wurde auf dem Kiryat-Shaul-Friedhof in Tel Aviv beigesetzt.“
„Ich werde im Herbst dorthin fliegen und ihn besuchen“, sagte Linda spontan. „Hattest du noch mal Kontakt mit Weinreb?“
„Er hat mich die ganze Zeit über auf dem Laufenden gehalten“, antwortete Max.
„Dann berichte mir bitte davon“, forderte sie ihn auf.
„Jetzt?“, wollte Max wissen und blickte verunsichert in die Runde.
„Es ist Lindas Geburtstag“, sagte Jean-Paul. „Wenn sie es möchte, warum denn nicht?“
„Gut, wenn ihr wollt.“ Max nippte an seinem Wasserglas. „Aarons Vater drängte Weinreb, die Hintergründe der beiden Attentatsversuche preiszugeben. Als Weinreb zögerlich reagierte, drohte Uriel Roth mit seinen guten Beziehungen, unter anderem zur Presse. Man einigte sich darauf, die CIA, das FBI und die amerikanische Präsidentin über alles zu informieren, die Medien aber aus dem Spiel zu lassen.“
„Und?“, drängte Linda.
„Das FBI ging der Sache nach und verhaftete die fünf Drahtzieher des Komplotts. Eine Gruppe amerikanischer Ölmilliardäre, die sich ‚Die wahren Freunde Amerikas’ nennt. Einer von ihnen, ein ehemaliger Angehöriger der National Security Agency, hatte sich wohl schon vor längerer Zeit nach Honduras abgesetzt. Eine jugendliche Prostituierte hat ihn der Polizei gemeldet, nachdem er sie aufs Übelste misshandelt hatte. Außerdem hat Blair angeordnet, die laufenden Verträge mit Deep Sky, respektive RF Services, genau unter die Lupe zu nehmen, und den Kongress dazu aufgefordert, einen Untersuchungsausschuss einzusetzen, um die Hintergründe restlos aufzuklären.“
„Gut“, konstatierte Linda. „Und der Attentäter – Liam Hilbert?“
„Man weiß nicht wirklich etwas über ihn“, berichtete Max. „Also nicht viel mehr, als wir in Erfahrung gebracht haben. Offenbar lebte er als Virgil Durant mit einer Einheimischen in Mana, Französisch-Guayana. Aber das Mädchen hatte offensichtlich nicht die geringste Ahnung, mit wem sie das Schlafzimmer teilte.“
„Sie kann einem leidtun. Er hatte zwei Leben. Gut möglich, dass er zu Hause den liebevollen Ehemann spielte“, sagte Linda.
Max kramte aus seiner Jackentasche einen Umschlag hervor.
„Was ist das?“, wollte Linda wissen. „Noch ein Geburtstagsgeschenk?“
„Ich weiß es nicht. Nur dass ich ihn dir geben soll, wenn ich den Eindruck hätte, dass es dir wieder gutgeht.“
„Es geht mir gut“, sagte sie ernst. „Hätte ich sonst davon angefangen?“
Max gab das Kuvert weiter. Linda öffnete den Umschlag, der an das Auswärtige Amt adressiert war und als Absender die Adresse des amerikanischen Außenministeriums trug. Sie entnahm einen versiegelten Brief, auf dem ihr Name stand und der das Konterfei der United States Park Police zeigte.
„Weiß jemand, was das ist?“ Sie deutete auf das Wappen.
„Soviel ich weiß, handelt es sich um die älteste amerikanische Polizeibehörde mit Sitz in Washington, D.C.“, meinte Thierry. „Ich kenne das aus einem Film. Die Jungs waren dort für die Sicherheit des Weißen Hauses verantwortlich.“
„Interessant“, sagte Linda, öffnete den Umschlag mit einem Löffelstiel und überflog den Text, der mit blauer Tinte auf hochwertiges Pergamentpapier geschrieben war. Sie konnte kaum glauben, was sie da las, geschweige denn, aus wessen Feder der Brief stammte. Sie trank ihr Weinglas in einem Zug leer und studierte noch einmal sorgfältig jedes Wort. „Wollt ihr, dass ich euch das vorlese?“
„Das musst du entscheiden“, sagte Andree.
„Natürlich.“ Linda räusperte sich, dann erhob sie sich und
las:
„Sehr geehrte, liebe Linda
Pieroth,
nachdem ich nun über das gesamte Ausmaß
Ihrer Bemühungen im Bilde bin, fehlen mir die Worte, um all das
auszudrücken, was mich und das gesamte amerikanische Volk bewegt.
Ich stehe tief in Ihrer Schuld und weiß, dass es keine angemessene
Form des Dankes geben kann. Ich weiß, dass Sie selbst bei der
Verhinderung des zweiten Attentats verletzt wurden und einen guten
Freund verloren haben. Hierfür möchten ich Ihnen mein tiefstes
Mitgefühl aussprechen und Ihnen gleichzeitig alles erdenklich Gute
für Ihre Genesung wünschen.
Ich wünschte von ganzem Herzen, Sie, Frau Pieroth, würden meinen Wunsch respektieren, Sie persönlich kennenzulernen und Ihnen im Kreis meiner Angehörigen meinen persönlichen Dank und meine Anerkennung auszusprechen.
Sie und Ihre Helfer haben mir zweimal
das Leben gerettet. Bitte geben Sie mir die Möglichkeit, mich dafür
in einem angemessenen Rahmen erkenntlich zu zeigen.
Ich würde mich über alle Maßen über
eine Antwort von Ihnen freuen.
Gott sei mit Ihnen, liebe Frau Pieroth.
Jillian Blair
Präsidentin der Vereinigten Staaten von Amerika