KAPITEL 5
Kehl, Deutschland
Linda stand in der Mitte der Passerelle und suchte mit dem Microbolometer die Umgebung flussaufwärts ab. Auf der Brücke wehte ein kühler Wind, und sie fror.
„Was ist denn das für ein Gerät?“, wollte der junge Bereitschaftspolizist wissen, den Yannick ihr für den Aufenthalt in der Sicherheitszone zur Seite gestellt hatte.
„Ein spezielles Fernglas“, antwortete sie knapp.
„Gehören Sie einer Spezialeinheit an?“
„So könnte man es ausdrücken, aber entschuldige mich bitte, ich sollte jetzt wirklich arbeiten und muss mich konzentrieren.“
„Selbstverständlich.“
Sie suchte auf der Landkarte nach den Markierungen, die sie mit Max und Aaron als mögliche Schusspositionen ausgemacht hatte. Dafür hatten sie mit einem Zirkel einige Halbkreise von der Aussichtsplattform der Passerelle aus gezeichnet, von eineinhalb bis zu zweieinhalb Kilometern. Etwa die Hälfte der Positionen erwies sich in der Realität als untauglich, da sich Bäume oder beispielsweise der Lastenkran eines auf der französischen Uferseite gelegenen Rheinhafens genau in der Schusslinie befanden. Schließlich blieben aus ihrer Sicht fünf mögliche Stellen übrig. Linda überprüfte ein weiteres Mal die Entfernungen zur Brücke und trug die exakten Werte in die Karte ein. Dann steckte sie das Gerät weg, lehnte sich gegen das Geländer und ließ die Landschaftseindrücke auf sich wirken.
Von wo aus würde er es wagen?
Sie hatten sich am Morgen darauf geeinigt, alles daranzusetzen, das Versteck des Attentäters ausfindig zu machen. Für andere Vorhaben war ohnehin keine Zeit mehr. In weniger als vierundzwanzig Stunden würden die Staats- und Regierungschefs, allen voran die deutsche Bundeskanzlerin und die amerikanische Präsidentin, die Passerelle betreten und sich geradewegs ins Visier des Killers begeben.
Würde er es wirklich mit einem Präzisionsgewehr versuchen? Linda musste sich eingestehen, dass sie im Grunde genommen alle anderen Möglichkeiten außer Acht gelassen hatte. Hatte sie sich vielleicht zu sehr auf diesen Geschossfund und die Aussagen von Weinreb und Benninger gestützt?Sie bereute, dass ihr dieser Gedanke erst jetzt kam. Die Vorstellung, dass der Täter beispielsweise unter der Brücke eine Sprengladung platziert haben könnte, ließ sie erschaudern. Sie griff zum Telefon und wählte Yannicks Nummer.
Er ging sofort an den Apparat. „Linda?“
„Wurde die Unterseite der Brücke inspiziert?“
Er lachte. „Mehr als genug. Soweit ich informiert bin, hat das BKA jeden Quadratzentimeter mehrmals unter die Lupe genommen. Unzählige Taucher haben den Flussgrund abgesucht, und dieselben Prozeduren werden heute Mittag und morgen früh noch mal durchgeführt. Da brauchst du dir wahrlich keine Sorgen zu machen.“
„Dann ist es ja gut“, erwiderte sie und beendete das Gespräch.
Sie wandte sich zum Gehen, wurde aber von dem Gefühl begleitet, nicht an alles gedacht zu haben. Schließlich legte sie ihre Tasche und den Laser-Detektor auf eine der Bänke und machte sich auf die Suche nach einem günstigen Platz, von dem aus man einen Blick auf die Unterkonstruktion der Brücke erhaschen konnte. Obwohl die Aussichtsplattform nur zwölf Meter über der Wasseroberfläche lag, wurde sie von einem Schwindelgefühl erfasst, als sie nach unten blickte.
Dann kletterte sie kurz entschlossen über die Balustrade.