KAPITEL 16
Offenburg, Deutschland

Nachdem sie sich vom ersten Schock erholt hatten, ergriff Linda das Wort: „Okay, lasst uns in Ruhe darüber nachdenken, was wir tun können.“ Ihre Stimme klang gefasst. „Wir brauchen jetzt einen Plan, und wir haben nicht viel Zeit.“ Sie warf einen kurzen Blick auf die Uhr. „In genau elf Stunden tritt Blair ans Rednerpult.“

„Wie kommst du überhaupt auf die Idee, dass es noch mal einen Anschlag geben wird, und warum ausgerechnet während dieser Rede?“

„Intuition, Aaron. Nicht mehr und nicht weniger“, sagte sie. „Ich glaube zu wissen, wie dieser Typ tickt. Er legt es darauf an, Blair in der Öffentlichkeit zu töten, medienwirksam, warum auch immer. Vielleicht haben das seine Auftraggeber von ihm verlangt. Zweitens: Er arbeitet aus der Distanz, mit einem Scharfschützengewehr. In der Kriminologie spricht man von einer Perseveranz des Täters. Das bedeutet, dass er an seiner Vorgehensweise festhält. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass er von jetzt auf gleich seine Taktik ändert.“ Linda redete sich in Fahrt. „Drittens: Seht euch die Bilder an. Es handelt sich um ein Haus in der Peripherie der tschechischen Hauptstadt. Auf einer Anhöhe gelegen, höher als die Hradschin – so heißt die Prager Burg. Ich würde sogar behaupten, dass es Luftlinie etwa zwei Kilometer von der Festung entfernt liegt.“

„Das passt zusammen“, sagte Max. „Aber wem sollen wir jetzt diese Geschichte erzählen? Der Prager Polizei? Den deutschen Behörden?“

Linda schüttelte energisch den Kopf. „Max, ich habe nicht vor, mir am Telefon den Mund fusselig zu reden und darauf zu hoffen, dass mir irgendjemand glaubt.“

„Aber dein erster Verdacht hat doch auch gestimmt. Sie müssen dir jetzt Gehör schenken!“

Linda winkte ab. „Sie sind noch viel zu desorientiert, außerdem glauben sie weiterhin, dieser Araber sei der Attentäter. Bis ich ihnen das alles erklärt hätte …“

„Was willst du dann tun?“

„Ganz einfach“, erwiderte sie. „Ich werde mit Aaron nach Prag fahren, und du findest in der Zwischenzeit heraus, um was für ein Haus es sich auf dem Foto handelt.“

„Du … du willst nach Prag?“

„Natürlich“, entgegnete Linda. „Was denn sonst?“

„Aber …“, protestierte Aaron. „Wir haben doch in Tschechien überhaupt keine Befugnisse. Abgesehen davon, dass du nicht einfach deine Waffe über die Grenze schmuggeln darfst, falls du daran gedacht hast.“

„Stimmt“, gab sie trotzig zur Antwort. „Aber ich werde sie dennoch mitnehmen, und wenn es dir lieber ist, fahre ich allein.“

„So war das nicht gemeint. Natürlich komme ich mit.“

„Wenn wir uns in der Vergangenheit an die Vorschriften gehalten hätten, wäre Blair jetzt tot, versteht ihr das nicht?“

Max hob beschwichtigend die Hand. „Linda, ich glaube, wir haben’s beide kapiert.“

„Dann würde ich vorschlagen, wir packen schleunigst unsere Sachen zusammen und machen uns auf den Weg.“

Max und Aaron willigten stillschweigend ein. Aber beiden war klar, dass dieses Unternehmen riskanter sein würde als alle bisherigen Wagnisse. Ein Vabanque-Spiel in einer fremden Stadt, einem fremden Land.

***

Virgil erreichte das leerstehende Haus in der Pod Mlýnkem, nordwestlich des Stadtzentrums von Prag. Wie bei seinen vorherigen Abstechern gelangte er über eine verwitterte, mit dicken Moosflechten übersäte Kohlenluke ins Innere. Im Obergeschoss angekommen, verstaute er die Waffe unter einem verschimmelten Diwan und warf einen Blick aus dem Fenster.

Der Ausblick auf die majestätisch illuminierte Anlage der Prager Burg war kolossal, der Lichterglanz überstrahlte die behaglich anmutende Kulisse der goldenen Gässchen der Innenstadt. Er stellte mit Befriedigung fest, dass die Vorbereitungen für den Staatsbesuch nahezu abgeschlossen waren. Durch das Fernglas konnte er sogar das Rednerpult auf dem Hradschiner Platz erkennen, dahinter die Silhouette des imposanten Veitsdoms.

Die Schussbedingungen waren unverändert gut, trotzdem war er alles andere als zufrieden. Niemals hatte er damit gerechnet, auf diese allerletzte Möglichkeit zurückgreifen zu müssen. Jetzt wurde er sich auch der Nachlässigkeit bewusst, der Anschlagsvariante in Prag zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet zu haben. Er hatte bisher nur eine vage Vorstellung davon, wie er nach dem Schuss von hier verschwinden konnte. Die Tatsache, dass er sich in einem Wohngebiet in offenem Gelände befand, würde die erste Phase der Flucht zusätzlich erschweren. Ganz zu schweigen davon, dass er sich keinerlei Gedanken darüber gemacht hatte, wie und in welcher Richtung er die Grenzen der Europäischen Union überwinden konnte. In Kehl und Straßburg hatte er für jede Eventualität eine Lösung bereitgehabt …

Er langte wütend nach einem umgekippten Stuhl und warf ihn mit voller Wucht gegen die Wand. Das Holz zerbarst in seine Einzelteile. Zu allem Überdruss erinnerte er sich an die enorme Schussentfernung und führte eine neuerliche Messung durch, obwohl er das Ergebnis bereits kannte: 2540 Meter!

Das waren über hundert Meter mehr als der bisher weiteste Schuss eines Scharfschützen, Oberst Jwancyks inoffizieller Weltrekord aus dem Jahr 1998.

„Scheiße, und wenn schon!“, fluchte er starrköpfig. „Dann schlage ich gleich zwei Fliegen mit einer Klappe.“

Nachdem er sich wieder beruhigt hatte, schrieb er eine SMS an seinen Prager Kontaktmann und legte sich schlafen. Nichts war ideal hier, aber das würde ihn nicht daran hindern, in wenigen Stunden zum entscheidenden Schlag auszuholen.

***

Halb drei. Max war beinahe am Verzweifeln. Linda und Aaron befanden sich seit vier Stunden auf der Autobahn nach Tschechien, und er wollte nicht schon wieder anrufen.

„Du musst dieses verdammte Haus finden, Max. Sonst wird sie doch noch sterben!“ Mit diesem Satz hatte Linda das vorherige Telefonat beendet und einfach aufgelegt.

Wie sollte er nur herausfinden, wo sich dieses Gebäude befand? Natürlich hatte er anhand der Fotos die ungefähre Himmelsrichtung bestimmen können, aber da auf den Ablichtungen keine weiteren Hinweise zu erkennen waren, galt seine Suche zwischenzeitlich der Stecknadel im Heuhaufen. Kein markantes Gebäude, kein Strommast oder der Verlauf einer größeren Straße. Nichts. Er merkte, wie es ihm mit jeder Minute schwerer fiel, sich zu konzentrieren. Seine Gedanken kreisten ständig um die Furcht, zu versagen und damit alles zu vermasseln.

Kurz nach eins hatte er in seiner Verzweiflung bei Thierry angerufen, aber niemand war ans Telefon gegangen. Wahrscheinlich saß der Systemtechniker in seinem abgeschirmten Global-Star-Bunker bei der Arbeit.

Es war zum Aus-der-Haut-Fahren. Außerdem konnte dieses Mal die angenommene Zwei-Kilometer-Marke nicht stimmen. Wenigstens das hatte er herausgefunden. Die Häuser entlang des Kreises, den er auf einen ausgedruckten Stadtplan gezeichnet hatte, lagen in dichtbesiedelten Wohngebieten, aber der Blick aus dem betreffenden Haus auf die Prager Innenstadt zeigte eine unverbaute Hanglage. Das Gebäude musste viel weiter entfernt liegen, als Linda vermutete, aber im Telefonat war sie auf diesen Einwand überhaupt nicht eingegangen.

Es gab keinen Zweifel, dass es sich um Prag handelte. Auch darüber hatte er sich mehrfach Gedanken gemacht. Die Bilder erweckten nicht den Anschein, dass es sich bei ihnen um Fotomontagen handelte. Aber wenn dem doch so war? Noch ein Ablenkungsmanöver des raffinierten Attentäters?

Linda und Aaron würden bald dort eintreffen, dann waren es nur noch wenige Stunden bis zum Beginn der Veranstaltung. Max blickte besorgt auf die Uhr. Der Sekundenzeiger rückte erbarmungslos weiter und weiter.

Was sollte er bloß tun?

***

Oberwachtmeister Jiri Procházk hatte bereits vor Wochen einen Zweitschlüssel für den älteren Einsatzwagen des Polizeipräsidiums anfertigen lassen und war dafür eigens zu einem Schlüsseldienst nach Polen gefahren. Sein Schwager würde das Auto während einer günstigen Gelegenheit entwenden, dann, wenn alle Kollegen unterwegs waren. An diesem Wochenende war ohnehin der Teufel los. Falls der Diebstahl überhaupt bemerkt würde, dann erst, nachdem diese verlogenen Politiker wieder abgereist waren. Am Montag vielleicht. Aber darum brauchte er sich nicht zu kümmern. Niemand würde auf die Idee kommen, ihn zu verdächtigen.

Die Sache mit der Uniform war etwas komplizierter gewesen, aber er hatte es hingekriegt. An manchen Tagen hatte er gehofft, die Sache würde sich in Luft auflösen, aber jetzt, nachdem er die Kurznachricht erhalten hatte, war er froh, dass der Deal zustande kam. In wenigen Tagen würde er ein reicher Mann sein. Zumindest um einiges vermögender als die meisten seiner Kollegen. Er wusste nicht, wer sein Auftraggeber war und warum er ihn vor Wochen kontaktiert hatte, um den Wagen und die Uniform zu besorgen, aber das war ihm auch egal. Dafür zahlte der smarte Amerikaner viel zu gut. Wer am Zoll sitzt, ohne reich zu werden, ist ein Dummkopf!

Jiri betrat das Büro seines Vorgesetzten. „Ich mache dann jetzt eine Fußstreife und sehe nach dem Rechten“, sagte er zaudernd.

„Gut“, antwortete der Hauptmann, ohne den Blick vom Computer zu nehmen. „Sieh unter den Brücken nach und jag jeden Penner zum Teufel, der sich noch in der Stadt aufhält. Hast du gehört?“

„Verstanden“, entgegnete Jiri und wandte sich rasch ab. Seine Hände zitterten, als er in sein Büro zurückkehrte.

***

Virgil schlief wie ein Stein. Gegen sechs wachte er in derselben Position auf, wie er sich am Abend zuvor hingelegt hatte, und war von einer Sekunde auf die andere hellwach. Er trank eine Flasche Wasser und aß ein paar Nüsse, danach öffnete er ein Fenster und streckte einen Arm ins Freie. Es war kalt und windstill, ein perfekter Tag. Na, wenigstens das.

Dann begann er mit seinen Vorbereitungen und begab sich zu seinem Kontaktmann.

***

Max erschrak beinahe zu Tode, als gegen halb acht sein Telefon klingelte. Linda. Am liebsten hätte er das Gespräch gar nicht erst angenommen, aber dann drückte er doch die Sprechtaste.

„Max, hast du geschlafen?“ Ihre Stimme klang fröhlich, voller Tatendrang. Im Hintergrund hörte er Musik und eine Stimmenkulisse, wie er sie von Rockkonzerten kannte. Ihm wurde schlecht.

„Wie sollte ich schlafen können …“

„Hast du etwas herausgefunden?“

„Linda, ich …“

„Warte mal, ich gebe dir Aaron. Er hat eine Idee.“

Wie konnte sie wissen, dass er nichts in Erfahrung gebracht hatte?

„Max?“, meldete sich Aaron.

„Am Apparat. Aaron, ich kann euch leider nicht mehr sagen, als dass das Haus irgendwo nordwestlich des Stadtzentrums auf einer Anhöhe stehen muss. Und ich fürchte, dass es weiter als zwei Kilometer von der Burg entfernt ist.“

„Das haben wir uns schon gedacht. Wir sind jetzt auf der neuen Schlosssteige, direkt unterhalb der Burg, und wollen ein paar Messungen durchführen. Was jedoch ziemlich schwierig werden dürfte. Hier wimmelt es von Polizei und zigtausend Schaulustigen, die seit sieben ununterbrochen auf den Platz strömen. Aber vielleicht können wir uns das sparen. Mir kam vorhin ein Gedanke.“

„Erzähl.“

„In welchem Format sind die Bilder abgespeichert?“

„Warte. Es handelt sich um RAW-Dateien.“

Und jetzt fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Max schlug sich gegen die Stirn. „Verdammt! Warum bin ich nicht selbst darauf gekommen? Und ich will hier der Experte sein“, murmelte er verärgert.

„Max! Alles klar bei dir?“ Aaron riss ihn aus seinem Selbstgespräch.

„Alles gut, ich weiß, worauf du hinauswillst, und suche gerade die passende Software.“

„Okay.“

Max’ Herz begann zu rasen, während er auf das Ergebnis des ersten Matches wartete. Schließlich lieferte das Programm einen Datensatz.

„Aaron!“, brüllte er in den Apparat. „Du hast recht! Die Bilder haben eine Georeferenz. Das kann doch nicht wahr sein!“

„Er hat also tatsächlich einen Phototagger benutzt, Gott sei Dank. Gibst du uns die Koordinaten?“

***

Noch immer war es windstill. Die Fahnen neben den Burgwachen wehten schlaff hin und her. Die Stadt ruhte scheinbar unter einem friedlichen milchigen Himmel. Von hier aus konnte Virgil nur einen Teil der über dreißigtausend Zuschauer sehen, die sich auf dem Platz vor der Prager Burg versammelt hatten. Hin und wieder brandete übungshalber der Jubel des Volks auf, ohne dass es dafür einen bestimmten Grund gegeben hätte. Gegen neun war ein lautes Kreischen unter den Schaulustigen ausgebrochen, nachdem auf einer Großleinwand Bilder von Jillian „Kiki“ Blair und dem tschechischen Präsidenten zu sehen gewesen waren.

Er blickte verärgert auf die Uhr. Wieder erlaubte sich die Präsidentin eine Verspätung. Vielleicht führte sie ein Gespräch mit Washington. Am Morgen war im Radio davon die Rede gewesen, Nordkorea habe unangekündigt eine Rakete ins All geschossen.

Plötzlich erklang eine feierliche Stimme und kündigte die Ankunft der Präsidentin der Vereinigten Staaten an.

Virgil verfolgte aufmerksam das Geschehen durch den Abseher des Zielfernrohrs. Blair betrat die Bühne wie ein Popstar und schritt elegant gekleidet zusammen mit ihrem Lebensgefährten zum Rednerpult. Die beiden goutierten den Jubel der Massen, der ihnen entgegenschlug, winkten und verteilten Kusshände. Langsam verebbte der Jubel, und Blair rückte im Scheinwerferlicht der Jupiterlampen, die zur Unterstützung der matten Aprilsonne aufgestellt worden waren, ihren Blazer zurecht. Dann begann sie mit ihrer Rede.

Virgil klickte mit dem Daumen den Sicherungshebel in Feuerstellung und nahm die letzten Einstellungen an der Optik vor. Die Bedingungen waren unverändert gut, jetzt musste er nur noch einen günstigen Moment abwarten. Immerhin, diesmal hatte er geschlagene dreißig Minuten Zeit und könnte im Zweifelsfall ein zweites Mal feuern.

Jillian Blair gehörte ihm.

***

Linda und Aaron hatten große Mühe gehabt, das von altem Baumbestand umzäunte Haus in der Pod Mlýnkem zu finden. Hätten sie nicht die Geodaten besessen, wären sie niemals auf die Idee gekommen, dem engen Straßenverlauf weiter zu folgen, denn die ganze Gegend wirkte seltsam unbewohnt. Auf dem löchrigen Asphalt befanden sich Kreidezeichnungen und deuteten darauf hin, dass hier ab und an Kinder zugange waren. Aber nicht an diesem Sonntagmorgen.

Linda hatte den Wagen in einiger Entfernung abgestellt, dann näherten sie sich über ein benachbartes Gartengrundstück dem Haus, wobei sie Zäune und Hecken überwinden mussten. Linda zog sich an einem Dornenbusch einen tiefen Kratzer an der Wange zu. Um die Blutung zu stoppen, klebte sie einfach ein feuchtes Tuch auf die Stelle.

Jetzt befanden sie sich in Sichtweite des Anwesens. Linda staunte nicht schlecht, als sie in der Garageneinfahrt einen Einsatzwagen der tschechischen Polizei stehen sah. Mit fragendem Blick wies sie Aaron auf den Skoda Felicia hin.

„Was soll das denn?“, flüsterte Aaron.

Sie schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht.“

„Vielleicht hat die Polizei einen Hinweis erhalten.“

„Dann wären sie mit einem kompletten Einsatzkommando angerückt, aber doch nicht nur mit einer Streife, die direkt bis vors Haus fährt.“

„Was tun wir jetzt?“, wollte Aaron wissen.

„Wir gehen auf jeden Fall in dieses Haus. Wenn wir auf die Polizei treffen, brauchen wir nichts zu befürchten. Aber vielleicht ist das auch wieder eines seiner Ablenkungsmanöver. Mittlerweile traue ich ihm alles zu.“

Sie arbeiteten sich im Schutz der Bäume bis an die Giebelseite des Hauses heran und duckten sich hinter einen Mauervorsprung.

Linda rückte eng an Aaron heran. „Ich möchte, dass du hierbleibst und die Polizei rufst, wenn ich in zehn Minuten nicht zurück bin.“

Aaron schluckte. „Auf gar keinen Fall. Ich komme mit dir.“

„Das ist ausgeschlossen“, widersprach sie heftig. „Du hast weder eine Waffe noch eine kugelsichere Weste. Er wird keine Sekunde zögern, auf uns zu schießen.“

Aaron zog die Mundwinkel nach unten. Linda war unsicher, ob er damit wirklich seine Enttäuschung zum Ausdruck brachte oder nicht doch heilfroh war, nicht in die Höhle des Löwen zu müssen. Ihr graute bei dem Gedanken an das Bevorstehende. Ihre Hände zitterten, und sie fror, obwohl ihr Schweißperlen auf der Stirn standen.

Vielleicht ist es einfach so, dass der nächste Schritt der richtige ist. Und vielleicht hilft dir dabei auch der Zufall, wer weiß?

Die Worte ihres Vaters klangen ihr in den Ohren. Sie musste es tun. Ihr blieb keine andere Wahl.

„Zehn Minuten, hast du gehört?“, sagte sie entschlossen und wischte damit ihre letzten Zweifel beiseite. Dann verschwand sie, ohne länger über ihr Schicksal nachzudenken, hinter der Hausecke.

Aaron schaute auf die Uhr. Es war Viertel nach zehn.

***

Bis vor wenigen Minuten hat die Frau am Rednerpult von einer Welt ohne Atomwaffen gesprochen. Noch immer bewegen sich ihre Lippen, mit den Armen vollführt sie einstudierte Gesten. Nach jedem Satz hält sie einen Moment inne und achtet auf die Wirkung des Gesagten. Aber Virgil achtet nicht mehr auf die Worte. Er ist jetzt ganz konzentriert und richtet das Fadenkreuz auf eine Stelle knapp oberhalb der üppigen Perlmuttkette und atmet gleichmäßig durch die Nase. Sein Puls fällt auf unter vierzig Schläge in der Minute. Er spürt weder Müdigkeit noch eine besondere Euphorie.

„Gleich“, flüstert ihm die Stimme seines inneren Offiziers zu.

Er wartet geduldig auf das „Jetzt“.

Sein Zeigefinger liegt ruhig auf dem Abzug.

Plötzlich durchbricht eine Sinneswahrnehmung seine Konzentration. Ein Geräusch. Er zögert für den Bruchteil einer Sekunde, dann verschwindet das Bild der charismatischen Präsidentin aus seinem Blickfeld. Dem Befehl in seinem Kopf folgend, gleitet er vom Tisch, auf dem das Gewehr steht, und lässt sich auf den Boden fallen. Noch im Sprung greift er nach der Pistole in seinem Gürtelholster und richtet den Lauf dorthin, wo er das Geräusch vermutet. Dann nimmt er die Silhouette einer Frau wahr. Er registriert blitzartig, wen er da vor sich hat. Sie ist größer als vermutet und hält einen Revolver in der Hand. Ihr Blick spricht Bände. Die Entschlossenheit, mit der sie Zentimeter für Zentimeter näher kommt, lässt seinen Puls in die Höhe schnellen. Der innere Offizier raunt ihm zu, dass er sich in der schlechteren Position befindet. Also spielt er die Rolle, die er einstudiert hat, leiert gebetsmühlenartig die Worte herunter, die er für diesen Fall sorgfältig einstudiert hat. Mit Erfolg, wie es im ersten Moment den Anschein hat. Sie senkt langsam ihre Arme und blickt ihn fassungslos an. Gleich wird er das Feuer eröffnen und sie in ihrer Ahnungslosigkeit töten.

Ah, ob sie noch realisieren wird, dass er am Ende obsiegt hat und all ihre Anstrengungen umsonst waren?

Wer immer sie ist und war, jetzt ist die Stunde der Vergeltung gekommen.

Schon zeigt die Mündung ihrer Waffe vor ihm auf den Boden. Fünfzig-fünfzig, nur noch eine oder zwei Sekunden …

***

Linda hatte die Kellerluke entdeckt und war auf leisen Sohlen die Treppe ins Obergeschoss emporgestiegen. Wenn er tatsächlich hier war, musste er sich in einem der oberen Stockwerke befinden, dort, wo man freies Sichtfeld auf die Stadt hatte. Auf dem Boden lagen Glasscherben und gebrauchte Kondome, eine tote Fledermaus in der Ecke des Flurs. Linda orientierte sich an den Zimmern auf der Südseite und wagte nicht, die Türklinken zu drücken, aus Angst, das Geräusch würde ihn warnen. Schließlich gelangte sie in das dritte Obergeschoss, wenige Augenblicke später an eine offen stehende Tür, die in ein weiträumiges Zimmer führte. Sie zögerte keine Sekunde und bewegte sich entschlossen darauf zu. Schon beim Überschreiten der Türschwelle entdeckte sie den dunkelgrünen Lauf des Gewehrs. Sie ging mit gestreckten Armen, den Revolver im Anschlag, auf die Person zu, die dort bewegungslos auf einem Tisch lag. Dann blieb sie plötzlich wie angewurzelt stehen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Der Mann hinter der Waffe trug eine tschechische Polizeiuniform. Sie zögerte. Hatte sie sich getäuscht? Was, wenn es sich wirklich um einen Polizisten handelte, der hier irgendetwas absicherte?

Jetzt hatte er sie bemerkt und warf sich wie vom Blitz getroffen auf die Seite. Natürlich, sie richtete ja noch immer die Waffe auf ihn.

Ihr fehlten die Worte. Ein schwaches „Polizei!“ drang über ihre Lippen. Er lag jetzt vor ihr auf dem Boden und richtete eine Pistole auf sie. „Policie!“, rief er laut. Und dann immer wieder: „Policie!“

Linda zögerte. Tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Wer war dieser Mann? Ein Polizist, der in diesem Haus Stellung bezogen hatte? Sie musterte sein Gesicht. Nein, das war nicht der Mann auf dem Phantombild. Der hier hatte buschige Augenbrauen und einen kurzen Haarschnitt. Linda war im Begriff, ihre Waffe abzusetzen. Sie schluckte. Wie sollte sie der tschechischen Polizei ihre Anwesenheit erklären? Die Waffe? Ihren Verdacht? Jetzt war alles vorbei.

Ihre Arme senkten sich mechanisch. Und mit ihnen alle Hoffnungen, ein Attentat zu verhindern. Sie hatte sich geirrt. Schon lockerte sie den Griff der Waffenhand, um den Revolver auf den Boden fallen zu lassen und die Hände nach oben zu nehmen.

In diesem Moment fiel ihr Blick auf den Anhänger, der an einer Kette um den Hals des Polizisten baumelte.

Ein Morpho Peleides, Frau Pieroth, ein blauer Himmelsfalter.
Intuitiv riss sie die Arme nach oben.

***

Plötzlich nimmt er die Veränderung in ihrem Blick wahr. Was zum Teufel ist mit ihr los? Er realisiert, wie sie die Waffe nach oben reißt und den Abzug betätigt, noch bevor er den ersten Schuss abgeben kann.

Instinktiv erwidert er das Feuer.

Er spürt, wie die Projektile in seinen Körper eindringen, und wundert sich, wie lange sie dem Gegenfeuer standhält. Auge um Auge. Da ist kein Schmerz, nur die blinde Wut. Zahn um Zahn. Noch glaubt er, die Schlacht gewinnen zu können, der innere Offizier verlangt, dass er diese Frau besiegt und sein Vorhaben fortsetzt. Plötzlich taucht das Gesicht des Jungen hinter ihr auf. Virgil verändert für ein oder zwei Schüsse seine Armhaltung, bis er feststellt, dass der andere unbewaffnet ist. Jetzt steht die Frau plötzlich neben ihm. Er will seine Position verändern, aber seine Arme und Beine gehorchen ihm nicht mehr. Sein Finger krümmt sich immer noch um den Abzug, aber die Projektile verlieren sich in der Wand. Er sieht, wie der Junge zufällig getroffen wird und stürzt. Jetzt nimmt er den metallischen Geschmack von Blut im Mund wahr. Seine Hand kann das Gewicht der Waffe nicht mehr halten. Mit einem Mal überkommt ihn eine bleierne Müdigkeit.

Vor seinem inneren Auge taucht der weiße Lieferwagen auf, und er schüttelt sich vor Kälte. Maeva liegt in der Sonne auf einem hellblauen Tuch. Sie streichelt mit der Hand über ihren Bauch. Das Baby. Ein Mädchen. Wie sie wohl heißen wird, wie sie wohl aussieht? Der weiße Lieferwagen hält neben ihr. Die Türen werden aufgerissen. Er will seine letzten Kräfte mobilisieren, um die Gefahr von ihr und dem Kind abzuwenden, aber auf einmal bäumt er sich vor Schmerzen auf, und seine Pupillen drohen zu platzen. Im Fiebertraum erkennt er sein Ebenbild, wie es aus dem Lieferwagen steigt, in der Hand ein Messer. Die Szene wird immer heller, gleißende Sonnenstrahlen blenden ihn. Maeva schreit um Hilfe, ruft laut seinen Namen und fleht um Erbarmen. Hör auf! Das sind die letzten Worte, die er hört, während er beginnt, die Traumbilder zu verstehen, die ihn so lange gequält haben: den Irrtum seines ganzen Lebens, das Trugbild seiner Existenz.

Dann verlassen ihn seine Kräfte, und die Lunge verweigert ihm den nächsten Atemzug.

Er hat das Gefühl, in seinem eigenen Blut zu ertrinken. Das Licht weicht einer bleischweren Dunkelheit, einer Nacht ohne Morgen.

***

Linda ließ den Revolver fallen und beugte sich über Aaron, der regungslos am Boden lag.

„Aaron, verdammt!“

Er starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an, seine Lippen bebten. „Es tut nicht weh“, röchelte er.

„Ich rufe einen Arzt“, sagte sie und tippte die Eins-Fünf-Fünf des tschechischen Notrufs.

„Sie werden bald hier sein“, flüsterte sie ihm danach zu. Sie wusste, dass er schwer verletzt war, aber ihr Verstand wehrte sich vehement gegen die Vorstellung, dass er sterben könnte. Sie hielt seine Hand und strich ihm mit der anderen übers Gesicht.

„Aaron“, flüsterte sie. „Wir haben es geschafft! Hörst du?“

Ihr Blick streifte die Leiche des Attentäters. Eine riesige Blutlache hatte sich um seinen Körper gebildet. Aaron blutete nicht. So schwer konnten die Verletzungen doch nicht sein.

„Bald fahren wir nach Hause“, sagte sie leise.

Aaron reagierte nicht mehr auf ihre Worte. Sie wagte nicht, auf ihn herabzublicken, und schluckte. Was sollte sie ihm noch sagen?

„Bestimmt hast du deine Prüfung bestanden. Wirst du dann weiter studieren?“

Aus seinem Mund sickerte ein dünner Faden Blut. Lindas Arme zitterten wie Espenlaub, in der Ferne hörte sie die Sirenen der Rettungsdienste.

„Hörst du, Aaron, sie sind schon fast hier. Vielleicht musst du ein paar Tage ins Krankenhaus.“

Jetzt liefen ihr Tränen über die Wangen. „Halt durch!“ Obgleich sie ihn unablässig festhielt, spürte sie, wie er sich immer weiter von ihr entfernte. „Ich verspreche dir, dass ich hierbleibe, bis du wieder gesund bist. Hörst du mich, Aaron? Ich bleibe bei dir!“

Als die Rettungssanitäter in den Raum stürmten, glaubte sie, weit entfernt das Geräusch einer jubelnden Menge zu hören. Dann gab der Boden unter ihren Füßen nach wie eine viel zu dünne Schneedecke über einer Gletscherspalte. Taumelnd zog die Schwerkraft sie in die eisige Tiefe. Ihr letzter Gedanke war, dass sie sich irgendwo festhalten musste, um den Sturz aufzuhalten. Aber da war nichts.