KAPITEL 11
Réserve Naturelle de l’Île du Rohrschollen, Frankreich
Die Geräusche des Waldes und die Feuchtigkeit, die in dem kleinen Naturreservat vorherrschten, erinnerten Virgil an die tropischen Regenwälder seiner Heimat, nur dass es um einige Grad kühler war. Irgendwo hatte er gelesen, dass der nährstoffreiche Schlamm, der das Eiland bei Rheinhochwasser in regelmäßigen Abständen überschwemmte, für die üppige Vegetation verantwortlich war.
Er war mit seiner Arbeit zufrieden. An der nördlichsten Spitze der Insel, inmitten eines dichten Waldstücks, hatte er eine drei mal vier Meter große Plattform aus Aluminiumteilen in fast fünf Meter Höhe an einer kräftigen Eiche angebracht. Einige Querstreben sorgten für die nötige Stabilität.
Er breitete ein Tarnnetz über das Leichtmetall, seilte sich auf den Boden ab und betrachtete sein Werk von unten. Das Arrangement war perfekt. Niemand würde die Installation bemerken, es sei denn, derjenige wüsste genau, wonach er zu suchen hatte.
Ein paar Fledermäuse jagten im wilden Flug durch den Schein seiner Taschenlampe. Er knipste das Licht aus und machte sich auf den Rückweg zu seinem Boot.
Als er die Hälfte der etwa zweihundertfünfzig Meter langen Strecke über den strömungsärmeren Altrhein absolviert hatte, hörte er plötzlich Stimmen. Rasch zog er das Paddel aus dem Wasser und holte sein Nachtsichtfernglas aus dem Rucksack. Zuerst war er davon ausgegangen, die Geräusche rührten vom westlichen Ufer, aber dort war nichts zu erkennen. Vermutlich hatte der Wind die Stimmen dorthin getragen. Er schwenkte das Glas langsam nach Norden, erkannte schließlich zwei Schatten am äußersten Ende des Hochwasserdamms und zoomte näher heran. Plötzlich schnellte sein Pulsschlag in die Höhe. Er konnte kaum glauben, wer sich dort auf dem Stauwehr herumtrieb.
Seine Erregung verwandelte sich in maßlosen Zorn. Er befand sich
eindeutig in der schlechteren Position. Vielleicht hatten ihn die
beiden bereits bemerkt und Alarm geschlagen. Falls nicht, durfte er
jetzt kein Geräusch mehr von sich geben. Die sicherste Variante
war, sich von der Strömung außer Hörweite treiben zu lassen und
erst dann an Land zu gehen. Er breitete leise fluchend eine
dunkelgrüne Abdeckfolie über sich und das ein Meter achtzig mal
neunzig Zentimeter kleine Alpacka Raft.
***
„Pssst!“, machte Linda.
Aaron fuhr vor Schreck zusammen. „Was ist?“
„Hast du das nicht gehört?“
„Nein, was denn?“
„Sei still.“
Sie nahm die Hände vom Geländer des Hochwasserdamms und lauschte in die Nacht. Ein Kauz stieß einen gellenden Schrei aus, in der Ferne vernahm sie das tiefe, gleichmäßige Brummen eines Schiffsmotors.
„Ich glaube, ein Paddel gehört zu haben“, sagte sie schließlich. „Ich kenne das Geräusch, wenn das Blatt ins Wasser gesetzt und wieder herausgezogen wird.“
„Es tut mir leid, aber ich habe nichts mitbekommen.“
„Gib mir das Sichtgerät. Das Geräusch kam von da.“ Sie zeigte auf die ruhige Wasseroberfläche des Altrheins.
Aaron hantierte an den Verschlüssen des Futterals. In diesem Moment klingelte ihr Mobiltelefon.
Es war Max. „Linda, wo seid ihr?“
„Auf dem Stauwehr, unserer letzten Station. Ich muss dich enttäuschen, wir haben nichts entdeckt. Vielleicht operiert er von einer Stelle aus, an die wir nicht gedacht haben. Bist du weitergekommen?“
„Ich für meinen Teil schon. Aber wir haben ein ganz anderes Problem.“
„Das wäre?“
„Thierry steckt mitten in einem dreißig Kilometer langen Stau vor Straßburg. Angeblich blockieren Gipfelgegner die Fahrbahn.“
Sie stieß einen langen Seufzer aus. „Das darf doch wohl nicht wahr sein.“
„Was sollen wir denn jetzt machen?“
„Ich überlege mir etwas. Wir kommen sofort zurück.“
***
Virgil hatte mit dem Paddel experimentiert und herausgefunden, dass er es geräuschlos als Steuerruder einsetzen konnte. Zwar war die Wirkung gering, dennoch näherte er sich beständig dem Ufer. Nach ungefähr einem Kilometer stieg er an Land, ließ, so schnell es ging, die Luft aus den Schläuchen und rollte das Boot auf die Größe des Packsacks zusammen. Das Raft ließ sich auf fünfzehn mal dreißig Zentimeter zusammenpacken und wog gerade mal 1,8 Kilogramm. Er stopfte den Polyesterbeutel in seinen Rucksack, nahm die Pistole in die Hand und machte sich mit weit ausladenden Schritten auf den Weg.
Die Uferpromenade war menschenleer, und er lief durch den Schatten der Bäume. Noch während der Bootsfahrt hatte er eine Entscheidung getroffen: Sollte er irgendeine verdächtige Entdeckung machen, würde er den Angriff sofort abbrechen. In keinem Fall durfte es in der Nähe des Naturreservats zu einem Zwischenfall kommen, der die Polizei auf den Plan rief. Sollte er die beiden noch allein auf dem Damm antreffen, würde er sie töten und im angrenzenden Uferwald verscharren. Noch während er rannte, montierte er einen Schalldämpfer auf die Waffe und überprüfte den Ladezustand. Endlich erreichte er eine lange Treppe, die auf das Stauwehr führte, rannte auf leisen Sohlen hinauf und kletterte, oben angekommen, über eine verschlossene Tür. Dann arbeitete er sich geduckt am Zaun entlang nach vorne. Plötzlich sah er die Silhouetten seiner Widersacher neben einem Bootskran am Ende der Staumauer. Noch einmal lauschte er für eine Sekunde in den Nachthimmel, und nachdem er überzeugt war, dass niemand anders in der Nähe war, stürmte er mit gezogener Waffe auf die beiden zu und gab alle paar Meter zwei gezielte Schüsse ab, bis er das Magazin leer gefeuert hatte. Eilig steckte er ein neues in den Magazinschacht. Aber als er am Fuß des Ladekrans angekommen war, ließ er enttäuscht die Arme sinken.
Die Schattenrisse entpuppten sich als geraffte Segel, die mit einem Gummiband am Fuß des Krans befestigt waren. Er war zu spät gekommen.