UNSER BESTES
Euer Erhabene Majestät,
Wir haben uns vollständig von der Niederlage bei Stillfurt erholt, und der Feldzug geht weiter. Trotz aller Winkelzüge des Schwarzen Dow treibt Marschall Kroy den Gegner doch stets weiter nach Norden in Richtung seiner Hauptstadt Carleon. Dow kann sich nicht endlos zurückziehen. Wir werden ihn vernichten, darauf kann sich Eure Majestät verlassen.
General Jalenhorms Division hat gestern ein kleines Scharmützel auf einer Hügelkette im Nordosten gewonnen. Lord Statthalter Meed führt seine Division südlich in Richtung Ollensand und hofft, die Nordmänner so dazu zu bringen, dass sie ihr Heer aufteilen und dadurch in der Schlacht einen Nachteil haben. Ich reise mit General Mittericks Division und bleibe daher in der Nähe von Marschall Kroys Hauptquartier. Gestern lauerten Nordmänner unserem Versorgungszug in der Nähe eines Dorfes namens Barden auf, an einer Stelle, wo er aufgrund der schlechten Straßen auseinandergezogen war. Die Wachsamkeit und der Mut der Nachhut sorgten dafür, dass der Feind unter schweren Verlusten zurückgedrängt werden konnte. Ich empfehle Eurer Majestät einen gewissen Leutnant Kerns, der in diesem Kampf besonders großen Mut bewies und sein Leben verlor, wobei er, wie ich hörte, eine Frau und ein kleines Kind hinterlässt.
Die Kolonnen sind gut aufgestellt. Das Wetter ist schön. Das Heer kann sich frei bewegen, und die Männer sind in bester Stimmung.
Ich verbleibe der treueste und unwürdigste Diener Eurer Majestät,
Bremer dan Gorst, königlicher Berichterstatter aus dem Nordkrieg
Die Kolonne hatte sich völlig aufgelöst. Es goss wie aus Eimern. Das Heer steckte im Morast fest, und die Männer waren völlig demoralisiert. Und keiner in dieser verlausten Rotte ist demoralisierter als ich.
Bremer dan Gorst drängte sich durch eine schlammbespritzte Gruppe von Soldaten, die wie Maden hin und her wimmelten, während die Brühe an ihren Rüstungen herunterlief und die geschulterten Piken lebensgefährlich in alle Richtungen zuckten. Sie saßen fest wie geronnene Milch in einer Flasche mit engem Hals, dennoch drängten ständig Männer von hinten nach, verstärkten das Gedränge mit ihrer eigenen schlechten Laune, verstopften weiter den schlammigen Pfad, der hier als Straße durchging, und zwangen andere, fluchend zwischen die Bäume auszuweichen. Gorst war bereits spät dran, und es wurde schwerer und schwerer, sich einen Weg durch die immer dichter werdende Menge zu bahnen und die Männer vor sich beiseite zu schieben. Manche wollten aufbegehren, wenn er sich vorbeidrängte und sie auf dem matschigen Boden ausglitten, aber wenn sie sahen, wen sie vor sich hatten, klappten sie den Mund stets schnell wieder zu. Man kannte ihn.
Der Widersacher, der das Heer Seiner Majestät derart aufhielt, war einer der eigenen Wagen, der aus dem knietiefen Schlamm auf dem Weg in das wesentlich tiefere Moor daneben gerutscht war. Getreu dem universell geltenden Gesetz, dass die hinderlichste Entwicklung unweigerlich eintreten wird, egal, wie unwahrscheinlich sie auch ist, hatte sich das Gefährt auf irgendeine Weise quer gestellt, und die hinteren Räder steckten nun bis zu den Achsen im weichen Boden. Ein fluchender Kutscher trieb seine beiden Pferde zu einer sinnlosen, schäumenden Panik an, während sich ein halbes Dutzend durchnässter Soldaten erfolglos am Heck des Wagens zu schaffen machte. Auf beiden Seiten der Straße kämpften sich Männer durch das feuchte Unterholz an der Stelle vorbei und schimpften, als die Brombeerranken ihre Ausrüstung zerrissen, Piken und Lanzen zwischen Ästen hängen blieben und Zweige in Gesichter schnellten.
Drei junge Offiziere standen in der Nähe, die Schultern ihrer scharlachroten Uniformen durch den Dauerregen kastanienbraun gefärbt. Zwei stritten miteinander, deuteten immer wieder mit ausgestreckten Zeigefingern auf den Karren, während der andere ihnen zusah, eine Hand locker auf das vergoldete Heft seines Degens gelegt, als stünde er gerade einem Uniformschneider Modell.
Eine bessere Blockade hätte der Feind selbst mit tausend sorgsam ausgewählten Männern nicht errichten können.
»Was geht hier vor sich?«, verlangte Gorst zu wissen, wobei er sich – wie immer vergebens – bemühte, seiner Stimme einen autoritären Klang zu verleihen.
»Herr Oberst, der Versorgungskarren sollte gar nicht auf dieser Straße unterwegs sein!«
»Das ist Unsinn, Herr Oberst! Die Infanterie sollte eine Weile halten, während wir …«
Weil es ja immer darauf ankommt, einen Schuldigen zu finden, und nicht etwa eine Lösung. Gorst schob die Offiziere aus dem Weg, trat mit schmatzenden Schritten in den Morast, drängte sich zwischen die dreckverschmierten Soldaten und tastete im Schlamm nach der Hinterachse des Wagens, während seine Stiefel im nassen Grund nach einem halbwegs sicheren Stand suchten. Dann holte er ein paar Mal Luft und machte sich bereit.
»Los!«, rief er piepsend dem Kutscher zu und vergaß dabei, zumindest versuchsweise eine tiefere Tonlage anzustreben, wie er es sonst immer tat.
Eine Peitsche knallte. Männer stöhnten. Pferde schnaubten. Der Schlamm saugte sich fest. Gorst spannte von den Zehen bis zum Scheitel jeden Muskel an und zitterte unter dem Kraftakt. Die Welt verblasste, und es gab nur noch ihn und seine Aufgabe. Er schnaufte, dann knurrte er und zischte, und die Wut stieg in ihm auf, als habe er anstelle eines Herzens einen endlosen Tank voller Zorn in sich und müsste nur den Zapfhahn öffnen, um diesen Wagen davonzublasen.
Die Räder gaben mit einem protestierenden Kreischen nach, dann glitten sie mit einem Satz nach vorn und aus dem Morast. Gorst, der sich nun mit all seiner Kraft gegen nichts mehr stemmte, kam ins Stolpern und fiel vornüber in den Dreck. Einer der Soldaten tat es ihm nach. Er richtete sich wieder auf, während der Karren davonratterte und der Kutscher sich alle Mühe gab, die verschreckten Pferde wieder unter Kontrolle zu bringen.
»Vielen Dank für die Hilfe, Herr Oberst.« Der schlammverschmierte Soldat streckte eine ungeschickte Pfote aus und schaffte es, den Dreck, der Gorsts Uniform beschmutzte, noch breiter zu verteilen. »Es tut mir leid, Herr Oberst, es tut mir sehr leid.«
Sorgt gefälligst dafür, dass die Achsen eurer Wagen ordentlich geschmiert sind, ihr hirnlosen Dreckskerle. Haltet eure Wagen auf der Straße, ihr glotzenden Idioten. Tut eure verdammte Arbeit, ihr faulen Strolche. Ist denn das zu viel verlangt? »Gut«, brummte Gorst, schob die Hand des Mannes weg und versuchte vergebens, seine Jacke zu richten. »Ich danke Ihnen.« Er stolzierte im Nieselregen hinter dem Wagen her und konnte beinahe körperlich spüren, wie das spöttische Gelächter der Männer und ihrer Offiziere prickelnd gegen seinen Rücken schlug.
Lord Marschall Kroy, Oberbefehlshaber der Heere Seiner Majestät im Norden, hatte das größte Gebäude innerhalb eines Umkreises von zehn Meilen als Übergangshauptquartier requiriert. Es handelte sich um eine niedrige Kate, die so moosbewachsen war, dass sie wie ein verlassener Misthaufen wirkte. Eine zahnlose alte Frau und ihr noch älterer Ehemann, vermutlich die enteigneten Besitzer, saßen auf der Türschwelle der dazugehörigen Scheune unter einem fadenscheinigen Schultertuch und sahen zu, wie Gorst schmatzenden Schrittes auf ihre ehemalige Haustür zuging. Sie wirkten nicht besonders beeindruckt. Ebenso wenig wie die vier Wachleute, die in nassem Ölzeug vor dem überdachten Eingang standen. Oder die durchfeuchteten Offiziere, die die Wohnstube bevölkerten. Sie sahen sich erwartungsvoll um, als Gorst sich unter dem Türsturz hindurchduckte, und blickten alle gleichermaßen enttäuscht drein, als sie erkannten, wer es war.
»Es ist Gorst«, stieß einer verächtlich hervor, als hätte er einen König erwartet und stattdessen den Burschen zu Gesicht bekommen, der die Nachttöpfe leerte.
Dem guten Gorst offenbarte sich in dem kleinen Raum die perfekte Zuschaustellung geballter militärischer Prachtentfaltung. Den Mittelpunkt bildete Marschall Kroy, der mit unerschütterlicher Disziplin am Haupt des Tisches saß, wie stets makellos in frisch gebügelter, schwarzer Uniform, der steife Kragen mit silbernen Blättern verziert, jedes eisengraue Haar auf seinem Kopf in korrekter Habtachtstellung. Sein Stabschef, Oberst Felnigg, saß kerzengerade aufgerichtet neben ihm, klein, flink, mit funkelnden Augen, denen keine Einzelheit entging, das Kinn unbequem hoch erhoben. Da er ein Mann mit auffällig wenig Kinn war, bildete sein Hals auf diese Weise beinahe eine gerade aufragende Linie, die von seinem Kragen bis zu den Öffnungen seiner Hakennase reichte. Wie ein überaus hochmütiger Geier, der auf einen Leichnam wartet, an dem er sich gütlich tun kann.
General Mitterick hätte ohne Zweifel eine ordentliche Mahlzeit abgegeben. Er war ein dicker Mann mit flächigem Gesicht, dessen Brauen, Augen, Nase, Lippen, Wangen allesamt übergroß wirkten, als wollten sie sich den Platz auf der Vorderseite seines Kopfes geradezu streitig machen. Wo Felnigg zu wenig Kinn besaß, hatte Mitterick zu viel, und die betreffende Gesichtspartie war von einer breiten, gnadenlosen Spalte durchzogen. Als ob ihm unter seinem prächtigen Schnurrbart ein Arsch gewachsen ist. Er trug abgewetzte Fehdehandschuhe aus Glattleder, die fast bis zu den Ellenbogen reichten und ihm vermutlich das Aussehen eines felderprobten Mannes verleihen sollten, aber Gorst musste eher an die Handschuhe denken, mit deren Hilfe ein Bauer einer Kuh mit Blähungen Erleichterung verschaffen mochte.
Mitterick betrachtete mit erhobener Augenbraue Gorsts schlammverdreckte Uniform. »Schon wieder neue Heldentaten, Oberst Gorst?«, fragte er und erntete für seine Bemerkung leises, gehässiges Gelächter.
Schieb es dir doch in deinen Kinn-Arsch, du blähungserleichternde Eitelkeitsblase. Die Worte kitzelten schon Gorsts Lippen. Doch bei seiner Falsettstimme würde immer er es sein, über den man lachte, ganz gleich, was er sagte. Lieber hätte er sich allein tausend Nordmännern gegenübergestellt, als dieses quälende Gespräch über sich ergehen zu lassen. Daher verwandelte er den ersten Laut in ein unbehagliches Grinsen und nahm seine Erniedrigung wie immer mit einem Lächeln hin. Er fand die düsterste Ecke des Raumes, verschränkte die Arme vor seiner beschmutzten Jacke und dämpfte seinen Zorn mit der Vorstellung, die hochnäsigen Köpfe von Mittericks Stabsoffizieren aufgespießt auf den Piken der Truppen des Schwarzen Dow zu sehen. Vielleicht kein besonders patriotisches Vergnügen, aber dennoch äußerst befriedigend.
Es ist eine verkehrte, blödsinnige Welt, in der solche Männer, wenn man sie denn überhaupt so nennen kann, auf jemanden wie mich herabsehen können. Ich bin doppelt so viel wert wie sie alle zusammen. Und das sollen die Besten sein, die das Heer der Union zu bieten hat? Da verdienen wir die Niederlage.
»Man kann keinen Krieg gewinnen, ohne sich die Hände schmutzig zu machen.«
»Was?« Gorst warf einen missmutigen Blick zur Seite. Der Hundsmann lehnte in seinem schon recht mitgenommenen Mantel neben ihm, und sein ebenfalls recht mitgenommenes Gesicht blickte so resigniert, als sei er des Lebens wahrlich überdrüssig.
Der Nordmann ließ den Kopf in den Nacken sinken, bis er sanft gegen die abblätternde Wand dahinter stieß. »Manche Leute bleiben allerdings lieber sauber, nicht wahr? Und verlieren dann.«
Gorst konnte es sich kaum leisten, sich mit dem einzigen Mann zu verbünden, der noch mehr ein Außenseiter war als er selbst. Er verschanzte sich hinter seinem üblichen Schweigen wie hinter einer erprobten Rüstung und wandte seine Aufmerksamkeit dem nervösen Geschwätz der Offiziere zu.
»Wann kommen sie hier an?«
»Bald.«
»Wie viele sind es?«
»Drei, habe ich gehört.«
»Nur einer. Es genügt ein Mitglied des Geschlossenen Rats.«
»Der Geschlossene Rat?«, quiekte Gorst, dessen Stimme nun durch einen Anfall von Nervosität solche Höhen erreichte, dass sie für das menschliche Ohr kaum noch hörbar war. Er spürte einen übelkeiterregenden Nachgeschmack des Entsetzens, das er an jenem Tag empfunden hatte, als ihn diese schrecklichen alten Männer seines Amtes enthoben hatten. Sie haben meine Träume so beiläufig zerstört, wie ein Junge einen Käfer zerdrückt. »Und als Nächstes …«, hatte es geheißen, als man ihn wieder auf den Flur hinausschickte und die schwarzen Türen sich wie Sargdeckel hinter ihm schlossen. Nicht länger ein Mitglied der königlichen Garde. Nicht länger ein Ritter der Wacht. Nicht länger etwas anderes als ein quiekender Witz. Mein Name ein Sinnbild für Scheitern und Entehrung. Noch immer sah er die Versammlung vor sich, die zerfurchten und schlaffen Gesichtszüge, die abfälligen Mienen. Am Haupt des Tisches das blasse Gesicht des Königs, die Zähne zusammengebissen, den Blick von Gorst abgewandt. Als sei der Ruin seines treuesten Dieners nichts mehr als ein unangenehmer Tagesordnungspunkt …
»Welcher von ihnen wird es sein?«, fragte Felnigg. »Wissen wir das schon?«
»Das spielt wohl kaum eine Rolle.« Kroy sah zum Fenster. Hinter den halb geschlossenen Läden wurde der Regen stärker. »Wir wissen bereits, was er sagen wird. Der König verlangt einen großen Sieg, in doppelter Schnelligkeit und für halb so viel Geld.«
»Wie immer!«, krähte Mitterick so berechenbar wie ein übereifriger Hahn. »Verdammte Politiker, ständig stecken sie ihre Nasen in unsere Angelegenheiten! Diese Schwindler im Geschlossenen Rat kosten uns mehr Leben, als der verdammte Feind uns jemal…«
Der Türknauf drehte sich mit lautem Rasseln, und ein breit gebauter alter Mann betrat den Raum, völlig kahl, aber mit einem kurz geschnittenen, grauen Bart. Auf den ersten Blick vermittelte er nicht den Anschein höchster Macht. Seine Kleidung war kaum weniger regennass und dreckverschmiert wie Gorsts. Der stahlbeschlagene Stab aus schlichtem Holz, den er bei sich trug, wirkte eher wie ein Wanderstock, nicht wie ein Ämterstab. Aber dennoch, obwohl ihm und dem einzigen bescheidenen Bedienten, der hinter ihm ins Zimmer wuselte, eine zehnfache Übermacht gegenüberstand – darunter einige der eitelsten Gockel des gesamten Heeres –, waren es die Offiziere, die nun den Atem anhielten. Der alte Mann strahlte ein unerschütterliches Selbstbewusstsein aus, eine gewisse verächtliche Sicherheit und meisterliche Kontrolle. Wie ein Metzger, der sich die Säue betrachtet, die an diesem Tag ihr Leben lassen werden.
»Lord Bayaz.« Kroys Gesicht war ein wenig blasser geworden. Es war vielleicht das erste Mal, dass Gorst den Marschall jemals überrascht erlebte, und damit war er nicht der Einzige. Die Versammelten hätten nicht verblüffter dreinblicken können, wenn der Leichnam Harods des Großen auf einer Bahre hereingetragen worden wäre und zu ihnen gesprochen hätte.
»Meine Herren.« Bayaz warf seinen Stab lässig dem lockenköpfigen Diener zu, wischte sich mit einem leicht zischenden Geräusch die Regentropfen von seiner kahlen Platte und schüttelte sie dann von seiner Handkante. Für eine legendäre Gestalt schien er bemerkenswert wenig Wert auf große Gesten zu legen. »Das ist vielleicht ein Wetter, was? Manchmal liebe ich den Norden, aber manchmal auch … nicht ganz so sehr.«
»Wir haben nicht erwart…«
»Wie sollten Sie auch?« Bayaz gluckste auf humorige Weise, die dennoch wie eine Drohung wirkte. »Ich bin im Ruhestand! Wieder einmal hatte ich meinen Sitz im Geschlossenen Rat aufgegeben, um mich meiner Bibliothek zu widmen, meinem Altersruhesitz weit abseits der anstrengenden Politik. Doch da dieser Krieg gewissermaßen vor meiner Haustür stattfindet, dachte ich, es wäre nachlässig, wenn ich nicht einmal vorbeischauen wollte. Auch habe ich Geld mitgebracht, da ich erfuhr, dass die Soldzahlungen etwas im Rückstand sind.«
»Ein wenig«, räumte Kroy ein.
»Ein wenig mehr, und das könnte unsere Soldaten die dünne Schicht von Ehrbarkeit und Gehorsam vergessen lassen, die sie überhaupt besitzen, nicht wahr, meine Herren? Ohne den goldenen Schmierstoff würde die große Maschinerie des Heeres Seiner Majestät wohl schon bald zum Stillstand kommen, wie es ja bei so vielen Dingen im Leben der Fall ist, oder?«
»Die Sorge um das Wohlergehen unserer Männer steht für uns alle stets an erster Stelle«, erklärte der Marschall leicht verunsichert.
»Und auch für mich!«, erwiderte Bayaz. »Ich kam nur, um zu helfen. Um die Räder gut geschmiert zu halten, wenn Sie so wollen. Um zu beobachten, und, falls sich die Gelegenheit ergeben sollte, vielleicht auch einmal einen klitzekleinen Rat zu geben. Aber natürlich liegt das Kommando ganz bei Ihnen, Herr Marschall.«
»Natürlich«, echote Kroy, aber niemand glaubte das. Immerhin war der Mann, der vor ihnen stand, der Erste der Magi. Ein Mann, angeblich schon viele hundert Jahre alt und mit magischen Kräften, der angeblich die Union geschmiedet, den König auf den Thron gebracht, die Gurkhisen vertrieben und dabei einen großen Teil Aduas in Schutt und Asche gelegt hatte. Angeblich. Und der wohl kaum für seine Zurückhaltung bekannt ist, wenn es darum geht, sich irgendwo einzumischen. »Äh … darf ich Ihnen General Mitterick vorstellen, den Befehlshaber der zweiten Division Seiner Majestät?«
»General Mitterick, selbst in meiner Abgeschiedenheit inmitten meiner Bücher habe ich von Ihrer Tapferkeit berichten hören. Es ist mir eine Ehre.«
Der General plusterte sich begeistert auf. »Nein, nein! Die Ehre ist ganz auf meiner Seite!«
»In der Tat«, erwiderte Bayaz mit nebensächlicher Grobheit.
Kroy nahm es auf sich, das Schweigen zu unterbrechen, das sich daraufhin ausbreitete. »Dies ist mein Stabschef, Oberst Felnigg, und hier der Anführer jener Nordmänner, die dem Schwarzen Dow widerstehen und auf unserer Seite kämpfen, der Hundsmann.«
»Aber ja!« Bayaz hob die Augenbrauen. »Ich glaube, wir hatten einst einen gemeinsamen Freund, Neunfinger-Logen.«
Der Hundsmann erwiderte den Blick gelassen und war damit der Einzige im ganzen Raum, der nicht den Eindruck machte, von Ehrfurcht überwältigt zu sein. »Ich bin noch längst nicht davon überzeugt, dass er tot ist.«
»Wenn jemand den großen Gleichmacher überlisten kann, dann war – oder ist – er es. So oder so ist es bedauerlich, dass er dem Norden verlorenging. Der ganzen Welt. Ein großer Mann, den wir alle sehr vermissen.«
»Ein Mann jedenfalls. Wie die meisten hatte er Gutes und Böses in sich. Was das Vermissen betrifft, so hängt es wohl davon ab, wen man fragt, nicht wahr?«
»Ja, in der Tat.« Bayaz lächelte bedauernd und fuhr in fließendem Nordisch fort: »Da muss man realistisch sein.«
»Das stimmt«, antwortete der Hundsmann. Gorst fragte sich, ob sonst noch irgendjemand unter den Anwesenden ihren kleinen Wortwechsel verstanden hatte. Er selbst war sich auch nicht ganz sicher, obwohl er die Sprache recht gut beherrschte.
Kroy versuchte, die Dinge voranzutreiben. »Und das hier ist …«
»Bremer dan Gorst natürlich!« Bayaz erschreckte Gorst zutiefst, als er ihm wärmstens die Hand schüttelte. Für einen Mann seiner Jahre hatte er einen erstaunlich festen Griff. »Ich habe damals gesehen, wie Sie gegen den König fochten – wie lange ist das jetzt her? Vier Jahre? Fünf?«
Gorst hätte die Stunden zählen können, die seitdem vergangen waren. Und es sagt wohl eine Menge über mein schattenhaftes Dasein aus, dass der stolzeste Augenblick meines Lebens jener ist, in dem ich bei einem Fechtduell erniedrigt wurde. »Acht.«
»Acht, das stelle man sich einmal vor! Die Jahre fliegen vorüber wie Blätter im Wind. Niemand hatte den Titel mehr verdient als Sie.«
»Ich wurde fair geschlagen.«
Bayaz beugte sich nahe zu ihm. »Sie wurden jedenfalls geschlagen, und das ist doch alles, was wirklich zählt, nicht wahr?« Damit klopfte er Gorst auf den Arm, als hätten sie gerade über einen Witz gelacht, dessen Pointe allen anderen verborgen blieb, wobei in diesem Fall wohl nur Bayaz wusste, worum es ging. »Ich dachte, Sie seien bei den Rittern der Wacht? Zählten Sie während der Schlacht von Adua nicht zur Leibwache des Königs?«
Gorst spürte, dass ihm die Röte ins Gesicht stieg. Das war ich, wie jeder der hier Anwesenden nur allzu gut weiß, aber jetzt bin ich nichts anderes mehr als ein elender Sündenbock, benutzt und weggeworfen wie ein stammelndes Dienstmädchen, das der Sohn der Herrschaft bestiegen hat. Jetzt bin ich …
»Oberst dan Gorst ist als königlicher Berichterstatter hier«, warf Kroy hastig ein, der sah, wie peinlich die Lage für Gorst war.
»Natürlich!« Bayaz schnippte mit den Fingern. »Nach dieser Sache in Sipani.«
Gorsts Gesicht brannte, als sei allein die Nennung des Städtenamens eine Ohrfeige. Sipani. Genau dorthin kehrten seine Gedanken immer wieder zurück, zu diesem Augenblick vor vier Jahren, zu all den Wirren in Cardottis Haus der Sinnenfreuden. Wie er durch den Rauch gestolpert war und verzweifelt nach dem König gesucht hatte, wie er die Treppe erreichte und dieses maskierte Gesicht sah – und dann folgte der lange und schmerzhafte Sturz ebendiese Treppe hinunter, an deren Ende seine ungerechtfertigte Entlassung wartete. Er sah überall gehässiges Grinsen auf dem überbelichteten, verwischten Gesichtermeer, in das sich der Raum plötzlich verwandelt hatte. Schließlich öffnete er den trockenen Mund, aber wie immer drang nichts Sinnvolles heraus.
»Nun gut.« Der Magus tätschelte Gorsts Schulter ähnlich mitleidsvoll, wie man sich zu einem Blindenhund hinunterbeugt, der vor langer Zeit selbst sein Augenlicht verloren hat und dem man gelegentlich einen Knochen zuwirft. »Vielleicht können Sie eines Tages die Gunst des Königs zurückerlangen.«
Darauf kannst du dich verlassen, du wichsköpfiger Geheimniskrämer, und wenn ich dafür jeden Tropfen Blut im Norden vergießen muss. »Vielleicht«, brachte Gorst flüsternd heraus.
Aber Bayaz hatte sich bereits einen Stuhl herangezogen und legte auf dem Tisch vor sich die Finger spitz wie ein Dach aneinander. »So! Wie ist denn die Lage, Herr Marschall?«
Kroy zog ruckartig die Vorderseite seiner Uniformjacke glatt und trat vor die riesige Karte, die man an den Ecken sogar noch hatte einklappen müssen, damit sie an die größte Wand des kleinen Hauses passte. »General Jalenhorms Division steht hier, westlich von uns.« Das Papier knisterte, als Kroys Stab darüber hinwegzischte. »Er drängt weiter nach Norden, setzt Ernten und Dörfer in Brand und hofft, die Nordmänner zur Schlacht zu zwingen.«
Bayaz wirkte gelangweilt. »Hmmmm.«
»Währenddessen ist die Division von Lord Statthalter Meed zusammen mit dem Großteil der treuen Anhänger des Hundsmanns nach Südosten marschiert, um Ollensand zu belagern. General Mittericks Division hält sich zwischen beiden.« Tapp, tapp, klopfte der Stab gnadenlos präzise aufs Papier. »Er hält sich bereit, sie nach Bedarf zu unterstützen. Der Nachschub verläuft südlich über Uffrith; die Straßen dort sind sehr schlecht, kaum mehr als Saumpfade, aber wir ha…«
»Natürlich.« Bayaz tat all das mit einer Bewegung seiner fleischigen Hand als unwesentlich ab. »Ich bin nicht gekommen, um mich in Einzelheiten einzumischen.«
Kroys Stab schwebte nutzlos in der Luft. »Dann …«
»Stellen Sie sich vor, Sie seien ein Maurermeister, Herr Marschall, der an einem Türmchen eines großen Palasts arbeitet. Ein erfahrener Handwerksmeister, dessen Fähigkeiten, Arbeitseifer und Detailkenntnis von niemandem bestritten wird.«
»Ein Maurer?« Mitterick sah verblüfft aus.
»Und dann sehen Sie den Geschlossenen Rat als die Architekten. Unsere Aufgabe ist es nicht, einen Stein auf den anderen zu setzen, sondern den Entwurf des gesamten Gebäudes zu überwachen. Die politischen Hintergründe, nicht die Taktik. Das Heer ist ein Instrument der Regierung. Denn welchen Zweck hätte es sonst? Sonst wäre es lediglich eine extrem kostspielige Maschinerie … zum Prägen von Medaillen.« Die Anwesenden rührten sich unbehaglich. Das sind Worte, wie sie diesen närrischen Gecken kaum gefallen werden.
»Die Regierungspolitik ist oft urplötzlichen Veränderungen unterworfen«, grollte Felnigg.
Bayaz sah ihn an wie ein Schulmeister, dem der größte Dummkopf der Klasse den Schnitt verdirbt. »Die Welt ist im Wandel. Daher müssen auch wir zum Wandel bereit sein. Und seit dem Beginn dieser jüngsten Feindseligkeiten haben sich die Umstände nicht gerade zu unseren Gunsten entwickelt. In der Heimat sind die Bauern wieder unruhig. Wegen der Kriegsabgaben und dergleichen. Unruhen, Unruhen, nichts als Unruhen.« Er trommelte ruhelos mit den Fingern auf die Tischplatte. »Und nun ist das neue Fürstenrund endlich fertiggestellt, so dass der Offene Rat wieder tagt und die Edlen einen Ort haben, an dem sie ihre Beschwerden vorbringen können. Und das tun sie. In ausufernder Länge. Der Mangel an Fortschritten macht sie offenbar ungeduldig.«
»Verdammte Windbeutel«, grunzte Mitterick. Womit er die alte Regel bekräftigt, dass die Menschen an anderen vor allem jene Eigenschaften hassen, die an ihnen selbst besonders verabscheuenswert sind.
Bayaz seufzte. »Manchmal habe ich das Gefühl, Sandburgen als Schutz vor der Flut zu bauen. Die Gurkhisen sind niemals untätig; sie intrigieren ständig. Aber es gab eine Zeit, in der sie unsere einzige Herausforderung im Ausland waren. Nun ist da auch noch die Schlange von Talins. Murcatto.« Er verzog das Gesicht, als hinterließe der Name einen ekligen Geschmack in seinem Mund, und die harten Linien seines Gesichts vertieften sich. »Während unsere Truppen hier gebunden sind, festigt diese verfluchte Frau ihren Griff um Styrien und sonnt sich in dem Wissen, dass die Union sie augenblicklich kaum daran hindern kann.« Die Offiziere stießen patriotische Unmutsbezeugungen aus. »Auf einen einfachen Nenner gebracht, meine Herren, dieser Krieg kostet uns allmählich zu viel, was unsere Finanzen, unser Prestige und die verschenkten Möglichkeiten betrifft. Der Geschlossene Rat verlangt seine schnelle Beendigung. Es ist nur natürlich, dass Sie als Soldaten dem Krieg an sich auf sentimentale Weise verbunden sind. Aber Kämpfe sind nur dann sinnvoll, wenn sie billiger kommen als die Alternativen.« Er zupfte sich gemütlich ein Stäubchen von seinem Ärmel, sah es missbilligend an und schnippte es weg. »Wir sprechen immerhin vom Norden. Damit will ich sagen … was ist er wert?«
Es herrschte Schweigen. Dann räusperte sich Marschall Kroy. »Der Geschlossene Rat verlangt eine schnelle Beendigung … meinen die Herren damit ein Ende nach Abschluss des jetzigen Feldzugs?«
»Nach Abschluss des Feldzugs? Nein, nein.« Die Offiziere stießen erleichtert die Luft aus. Doch das währte nur kurz. »Wesentlich früher.«
Der Lärm steigerte sich allmählich. Schockiertes Keuchen, dann entsetztes Gestotter, schließlich unterdrückte Flüche und ungläubiges Grollen – dieses Mal gewann der beleidigte Stolz der Offiziere die seltene Oberhand über ihre sonst so unüberwindliche Unterwürfigkeit.
»Aber wir können unmöglich …!«, platzte Mitterick heraus und schlug mit der behandschuhten Faust auf den Tisch, bevor er sich hastig wieder zusammenriss. »Ich wollte sagen, Entschuldigung, aber wir können nicht …«
»Meine Herren, meine Herren.« Kroy brachte seine ungebärdige Brut zum Schweigen und appellierte an die Vernunft. Der Lord Marschall ist schließlich auch ein äußerst vernünftiger Mann. »Lord Bayaz … der Schwarze Dow entwischt uns immer wieder. Er lässt uns manövrieren und tritt dann jedes Mal den Rückzug an.« Kroy deutete auf die Landkarte, als stellte sie Gegebenheiten dar, deren Zwänge sich schlechterdings nicht bestreiten ließen. »Er hat standhafte Anführer auf seiner Seite. Seine Männer kennen das Land und werden von der Bevölkerung unterstützt. Er ist ein Meister schneller Truppenbewegungen und flinker Rückzüge, kann seine Männer aber ebenso schnell wieder zusammenziehen und uns überraschen. Er hat uns schon einmal auf dem falschen Fuß erwischt. Wenn wir übereilt in die Schlacht ziehen, besteht die Gefahr, dass …«
Er hätte genauso gut gegen die steigende Flut argumentieren können. Der Erste der Magi hörte nicht zu. »Sie verlieren sich wieder in Einzelheiten, Herr Marschall. Maurer und Architekten und so weiter, hatte ich Ihnen das nicht bereits erläutert? Der König hat Sie zum Kämpfen hierhergeschickt, nicht zum Herummarschieren. Ich bezweifle nicht, dass Sie einen Weg finden werden, um die Nordmänner zur Entscheidungsschlacht zu zwingen, und wenn nicht, dann … nun, jeder Krieg ist letztlich nur ein Vorgeplänkel für Verhandlungen, nicht wahr?« Er stand auf, und die Offiziere taten es ihm mit einiger Verzögerung, scharrenden Stühlen und klappernden Schwertern in unkoordiniertem Durcheinander nach.
»Wir sind … entzückt, dass Sie bei uns waren«, brachte Kroy heraus, obwohl seine Leute ganz deutlich das Gegenteil empfanden.
Bayaz schien jedoch unempfänglich für jegliche Art von Ironie. »Das ist gut, denn ich werde hier bleiben und die Sache beobachten. Einige Herren von der Universität von Adua begleiten mich. Sie haben eine Erfindung gemacht, auf deren Erprobung ich sehr gespannt bin.«
»Wir werden Ihnen in jeder Hinsicht zur Seite stehen.«
»Hervorragend.« Bayaz lächelte breit. Das einzige Lächeln im ganzen Raum. »Ich werde das Zurechtschlagen der einzelnen Mauersteine Ihren …« Er sah Mittericks lächerliche Handschuhe an und hob eine Augenbraue. »… fähigen Händen überlassen. Meine Herren.«
Während die abgetragenen Stiefel des Magi und seines einzigen Dieners den Flur hinunter marschierten, verharrten die Offiziere in nervösem Schweigen wie Kinder, die man vorzeitig zu Bett geschickt hat und die nur darauf warten, dass die Eltern in sicherer Entfernung sind, bevor sie die Decken zurückschlagen.
Kaum war die Haustür ins Schloss gefallen, brach zorniges Geschrei aus. »Was zur Hölle …«
»Wie kann er es wagen?«
»Vor dem Abschluss des Feldzugs?«, schäumte Mitterick. »Der ist ja wohl verrückt!«
»Lächerlich!«, schnappte Felnigg. »Lächerlich!«
»Verdammte Politiker!«
Aber Gorst hatte ein Lächeln auf den Lippen, das nicht allein in der Schadenfreude gegenüber Mitterick und den anderen begründet lag. Nun würden sie zur Schlacht drängen müssen. Und egal, aus welchem Grund sie hierher gekommen sein mögen – ich kam, um zu kämpfen.
Kroy rief seine aufsässigen Offiziere zur Ordnung, indem er mit seinem Stab auf den Tisch schlug. »Meine Herren, ich muss doch sehr bitten! Der Geschlossene Rat hat gesprochen, und damit hat der König gesprochen, und wir können nur versuchen zu gehorchen. Wir sind schließlich die Mauerleute.« Als im Raum langsam Ruhe einkehrte, wandte er sich wieder der Karte zu und ließ den Blick über die Straßen, Berge und Flüsse des Nordens gleiten. »Ich fürchte, wir müssen uns von der vorsichtigen Vorgehensweise verabschieden und das Heer zu einem konzertierten Vordrängen nach Norden zusammenziehen. Hundsmann?«
Der Nordmann trat vor den Tisch und vollführte einen markigen Gruß. »Herr Marschall Kroy!« Das war natürlich ein Witz, da er eher ein Verbündeter denn ein Untergebener war.
»Wenn wir mit der gesamten Streitmacht gegen Carleon ziehen, wird der Schwarze Dow uns dann endlich eine Schlacht liefern?«
Der Hundsmann strich sich über das stopplige Kinn. »Vielleicht. Er ist nicht gerade der Geduldigste. Sieht auch nicht gut für ihn aus, dass er in den letzten Monaten zugelassen hat, wie Sie die ganze Zeit sozusagen durch seinen Garten trampeln. Aber er war schon immer ein ziemlich unberechenbarer Drecksack.« Kurz zog ein Anflug von Bitterkeit über sein Gesicht, als ob er sich an etwas Schmerzliches erinnerte. »Eins kann ich Ihnen sagen: Wenn er sich für die Schlacht entscheidet, dann wird er Ihnen nichts schenken. Dann wird er sie Ihnen in den Arsch schieben wollen. Aber es ist natürlich einen Versuch wert.« Der Hundsmann grinste die Offiziere an. »Vor allem, falls Sie es mögen, dass man Ihnen etwas in den Arsch schiebt.«
»Nicht unbedingt, aber es heißt, ein General müsse auf alles vorbereitet sein.« Kroy verfolgte mit dem Stab eine Straße bis zu ihrer Gabelung und tippte dann auf das Papier. »Was ist das für eine Ortschaft?«
Der Hundsmann kniff die Augen zusammen und beugte sich so über den Tisch, dass es einigen unglücklichen Stabsoffizieren recht ungemütlich wurde. »Das ist Osrung. Eine alte Stadt, inmitten von Feldern gelegen, mit einer Brücke und einer Mühle und vielleicht … mal nachdenken … drei- oder vierhundert Einwohnern zu Friedenszeiten? Größtenteils Häuser aus Stein. Von einer hohen Palisade umgeben. Hatte früher mal eine verdammt gute Taverne, aber Sie wissen ja, wie das ist – es ist nichts mehr so wie früher.«
»Und was ist das für ein Hügel? Hier, wo die Straßen von Ollensand und Uffrith aufeinandertreffen?«
»Die Helden.«
»Komischer Name für einen Berg«, grunzte Mitterick.
»Wurde nach einem alten Steinkreis auf der Spitze benannt. Ein paar Krieger aus alter Zeit sind unter ihnen begraben, oder jedenfalls erzählt man sich das. Man hat von da oben einen ziemlich guten Blick. Ich habe vor ein paar Tagen ein Dutzend dorthin geschickt, um sich einmal umzusehen – und um zu schauen, ob sich Dows Meute schon gezeigt hat.«
»Und?«
»Noch habe ich nichts gehört, aber es gibt auch keinen Grund, weshalb sie sich hätten melden sollen. Wenn sie Probleme bekommen, ist Hilfe in der Nähe.«
»Das ist dann also der richtige Punkt.« Kroy reckte den Hals, um die Karte genauer zu betrachten, und drückte die Spitze seines Stabs auf den Berg, als könnte er allein durch Willenskraft das ganze Heer dorthin bewegen. »Die Helden. Felnigg?«
»Herr Marschall?«
»Lassen Sie Lord Statthalter Meed eine Nachricht zukommen, dass er die Belagerung von Ollensand abbricht und so schnell wie möglich in Osrung zu uns stößt.«
Mehrere Offiziere zogen scharf die Luft ein. »Meed wird toben«, sagte Mitterick.
»Das tut er öfters. Das lässt sich nicht ändern.«
»Ich muss ohnehin in diese Richtung«, sagte Hundsmann. »Meine anderen Jungs einsammeln und sie nach Norden schicken. Ich kann die Nachricht überbringen.«
»Es wäre besser, wenn Oberst Felnigg sie ihm persönlich mitteilt. Lord Statthalter Meed ist nicht gerade … ein großer Freund der Nordmänner.«
»Ganz im Gegensatz zu Ihnen anderen, was?« Der Hundsmann zeigte den anwesenden Unionisten einen Mund voller scharfer, gelber Zähne. »Dann werde ich mich mal auf den Weg machen. Mit etwas Glück treffen wir uns oben bei den Helden wieder … sagen wir in vier Tagen? Oder fünf?«
»Sechs, wenn sich das Wetter nicht bessert.«
»Wir sind im Norden. Also besser sechs.« Damit verschwand er durch die Tür der niedrigen Stube wie schon zuvor Bayaz.
»Nun, es mag nicht so sein, wie wir es uns gewünscht hätten.« Mitterick stieß mit einer dicken Faust in seine fleischige Handfläche. »Aber jetzt können wir es ihnen mal zeigen, was? Jetzt erwischen wir diese schlüpfrigen Drecksäcke auf freiem Feld und geben es ihnen!« Die Beine seines Stuhls kreischten auf, als er sich erhob. »Ich werde meiner Division Feuer unterm Hintern machen. Wir sollten in der Nacht marschieren, Herr Marschall! Dem Feind entgegen!«
»Nein.« Kroy saß bereits an seinem Schreibpult und tunkte die Feder in die Tinte, um die ersten Befehle zu schreiben. »Bleiben Sie die Nacht über an Ort und Stelle. Auf diesen Straßen und bei diesem Wetter wird Eile uns mehr schaden als nützen.«
»Aber, Herr Marschall, wenn wir …«
»Ich beabsichtige durchaus, mich zu beeilen, Herr General, aber ich will nicht Hals über Kopf in eine Niederlage rennen. Wir dürfen die Männer nicht zu hart antreiben. Sie müssen kampfbereit sein.«
Mitterick riss seine Handschuhe in die Höhe. »Verdammt sollen diese verdammten Straßen sein!« Gorst trat beiseite und ließ ihn und seine Stabsoffiziere nach draußen treten, wobei er sich im Stillen wünschte, ihnen den Weg in einen bodenlosen Abgrund gewiesen zu haben.
Kroy hob beim Schreiben die Augenbrauen. »Vernünftige Männer … laufen vor einer Schlacht … davon.« Seine Feder kratzte präzise über das Papier. »Jemand wird diesen Befehl zu General Jalenhorm bringen müssen. Damit er sich in aller Eile zu den Helden begibt und den Berg für uns sichert, ebenso wie die Stadt Osrung und alle Furten und Brücken über den Fluss, di…«
Gorst trat eilig vor. »Das übernehme ich.« Wenn es zum Kampf kommen würde, dann würde Jalenhorms Division als erste darin verwickelt werden. Und ich will an vorderster Front stehen. Die Geister von Sipani werde ich niemals vertreiben können, wenn ich in einem sicheren Hauptquartier hocken bleibe.
»Es gibt niemanden, dem ich dieses Schreiben lieber anvertraue.« Gorst nahm den Befehl, aber der Marschall ließ das Papier noch nicht los. Er sah ruhig auf, und der gefaltete Bogen verband sie wie eine Brücke. »Bitte behalten Sie jedoch in Erinnerung, dass Sie der Berichterstatter des Königs sind, und nicht sein Kämpe.«
Ich bin weder das eine noch das andere. Ich bin ein hochgejubelter Laufbursche, und ich bin deswegen hier, weil man mich nirgendwo anders haben will. Ich bin ein Sekretär in Uniform. Noch dazu in einer dreckigen. Ich bin ein Toter, der noch zuckt. Haha! Guckt euch den großen Idioten mit der lächerlichen Stimme an! Lasst ihn tanzen! »Jawohl, Herr Marschall.«
»Dann beobachten und berichten Sie, wenn Sie wollen, aber bitte keine weiteren Heldentaten. Nicht wie letztens in Barden. Im Krieg ist kein Platz für Heldentaten. Schon gar nicht in diesem.«
»Jawohl, Herr Marschall.«
Kroy ließ das Schreiben los, wandte sich wieder zu der großen Landkarte um und maß Entfernungen mit Daumen und Zeigefinger ab. »Der König würde es mir niemals verzeihen, wenn wir Sie verlieren würden.«
Der König hat mich hierhin abgeschoben, und es wird niemand einen verirrten Pissetropfen dafür geben, ob ich in Stücke gehauen und mein Hirn im ganzen Norden verspritzt wird oder nicht. Ich selbst am allerwenigsten. »Jawohl, Herr Marschall.« Und Gorst schritt davon, durch die Eingangstür und hinaus in den Regen, wo ihn unvermittelt ein Blitz traf.
Dort war sie. Sie suchte sich den Weg über den schlammigen Vorplatz und kam direkt auf ihn zu. Inmitten all des Schlamms und Drecks leuchtete ihr lächelndes Gesicht weißglühend wie die Sonne. Entzücken überwältigte ihn, ließ seine Haut prickeln und ihn den Atem anhalten. Die Monate, die er von ihr getrennt zugebracht hatte, sie hatten nichts geholfen. Er war so verzweifelt, hoffnungslos und hilflos verliebt wie eh und je.
»Finree«, flüsterte er mit ehrfürchtiger Stimme, so wie ein Zauberer in einer dummen Geschichte vielleicht einen Zauberspruch formulieren mochte. »Was tun Sie denn hier?« Halb erwartete er, sie würde sich in Rauch auflösen und sich lediglich als Gespinst seiner überstrapazierten Einbildungskraft erweisen.
»Ich suche meinen Vater. Ist er dort drinnen?«
»Er schreibt Befehle.«
»Wie immer.« Sie musterte Gorsts Uniformrock und hob eine Augenbraue, die der Regen von ihrem natürlichen Braun beinahe schwarz gefärbt und zu kleinen stachligen Spitzen aufgerichtet hatte. »Sie spielen immer noch im Matsch, wie ich sehe.«
Es war ihm nicht einmal peinlich. Stattdessen verlor er sich in ihren Augen. Ein paar Haarsträhnen klebten auf ihrem nassen Gesicht. Er wünschte, an ihrer Stelle zu sein. Ich dachte, nichts könnte schöner sein als du es warst, aber jetzt übertriffst du dich selbst. Er wagte es nicht, sie anzusehen, traute sich aber noch weniger, den Blick abzuwenden. Du bist die schönste Frau der Welt – nein, in der ganzen Geschichte –, das schönste Ding aller Zeiten. Töte mich jetzt, damit dein Gesicht das Letzte sein wird, was ich je in meinem Leben erblicke. »Sie sehen gut aus«, murmelte er.
Sie sah ihren durchweichten Reisemantel an, den bis hinauf zur Taille Schlammspritzer zierten. »Ich habe den Verdacht, dass Sie da gerade nicht ganz ehrlich sind.«
»Ich würde mich niemals verstellen.« Ich liebe dich ich liebe dich ich liebe dich ich liebe dich ich liebe dich ich liebe dich ich liebe dich …
»Geht es Ihnen gut, Bremer? Ich darf Sie doch Bremer nennen, oder?
Du darfst auch meine Augen mit deinen Absätzen zertreten. Solange du noch einmal meinen Namen sagst. »Natürlich. Ich bin …« Krank an Geist und Körper, mein Schicksal und mein Glück sind ruiniert, voller Hass auf die Welt und allem, was sich in ihr befindet, aber all das spielt keine Rolle, solange du bei mir bist. »… in bester Verfassung.«
Sie streckte die Hand aus, und er beugte sich darüber, um sie zu küssen wie ein Dorfpriester, dem es gestattet wird, den Gewandsaum des Propheten zu berühren …
An ihrem Finger steckte ein goldener Ring mit einem kleinen, funkelnden, blauen Stein.
Gorst drehte sich der Magen so ruckartig um, dass er beinahe die Kontrolle über seine Eingeweide verlor. Mit allergrößter Mühe gelang es ihm, aufrecht stehen zu bleiben. Die nächsten Worte brachte er nur flüsternd heraus. »Ist das …«
»Ein Ehering, aber ja!« Ob sie wohl ahnte, dass ihn kein größeres Entsetzen gepackt hätte, wenn sie ihm einen abgeschlagenen Kopf vor die Nase gehalten hätte?
Er klammerte sich an sein Lächeln wie ein Ertrinkender an das letzte Stückchen Treibholz. Dann fühlte er, wie sich seine Lippen bewegten und hörte seine quiekende Stimme. Seine ekelhafte, weibische, lächerliche Quietschstimme. »Wer ist der Glückliche?«
»Oberst Harod dan Brock.« Ein Hauch von Stolz in ihrer Stimme. Von Liebe. Was würde ich dafür geben, dass sie meinen Namen derart ausspräche? Alles, was ich habe. Und das ist nichts außer der Verachtung anderer.
»Harod dan Brock«, hauchte er, und der Name war wie Sand in seinem Mund. Er kannte den Mann natürlich. Sie waren entfernt verwandt, Vettern vierten Grades oder dergleichen. Vor Jahren hatten sie auch gelegentlich miteinander gesprochen, als Gorst in der Garde von Lord Brock, Harods Vater, gedient hatte. Dann hatte Lord Brock seine Hand nach der Krone ausgestreckt und war gescheitert, woraufhin man ihn des schlimmsten Hochverrats für schuldig erklärt und zum Exil verurteilt hatte. Seinen ältesten Sohn hatte der König jedoch begnadigt. Zwar hatte man Brock seine Ländereien und Titel genommen, aber ihm das Leben gelassen. Wie sehr wünschte Gorst jetzt, der König wäre weniger nachsichtig gewesen.
»Er dient im Stab von Lord Statthalter Meed.«
»Ja.« Brock sah scheußlich gut aus, besaß ein freundliches Lächeln und eine gewinnende Art. Der Drecksack. Er hatte einen guten Ruf und wurde allgemein geschätzt, obwohl sein Vater in Ungnade gefallen war. Der Wurm. Er hatte sich seinen Platz durch Tapferkeit und sein angenehmes Wesen erkämpft. Der Scheißkerl. Harod dan Brock war alles, was Gorst nicht war.
Gorst ballte die rechte Faust, bis sie vor Anspannung bebte, und stellte sich vor, damit das freundliche Lächeln aus Harod dan Brocks Gesicht zu reißen. Mitsamt dem Kiefer. »Ja.«
»Wir sind sehr glücklich«, sagte Finree.
Wie schön für dich. Ich würde mich am liebsten umbringen. Sie hätte ihm keinen größeren Schmerz zufügen können, wenn sie seine Nüsse in einem Schraubstock zerquetscht hätte. Konnte sie denn so naiv sein, dass sie ihn nicht durchschaute? Etwas in ihr musste es doch geahnt haben, und von daher genoss sie es nun vermutlich, ihn zu erniedrigen. Oh, wie ich dich liebe. Oh, wie ich dich liebe. Oh, wie sehr ich dich begehre.
»Meine Glückwünsche für Sie beide«, raunte er.
»Ich werde sie meinem Gatten übermitteln.«
»Ja.« Ja, ja, sag ihm, er soll sterben, er soll brennen, und zwar bald. Gorst hielt sich an dem verkrampften Lächeln fest, während Brechreiz seine Kehle kitzelte. »Ja.«
»Ich muss nun zu meinem Vater. Vielleicht werden wir uns ja bald einmal wiedersehen?«
O ja. Schon sehr bald. Heute Nacht, würde ich sagen, wenn ich mit meinem Schwanz in der Hand wach liege und mir vorstelle, ihn umschlössen nicht meine Finger, sondern dein Mund … »Das hoffe ich sehr.«
Sie ging bereits an ihm vorüber. Für sie ist das nur eine flüchtige Begegnung mit einem alten Bekannten. Ihm jedoch erschien es, dass die Nacht anbrach, als sie sich abwandte. Die Erde wird über mich geworfen, der Beerdigungsstaub füllt meinen Mund. Er sah zu, wie die Tür klappernd hinter ihr ins Schloss fiel, und stand einen Augenblick lang im Regen da. Er wollte weinen und weinen und weinen um all seine gescheiterten Hoffnungen. Am liebsten hätte er sich in den Dreck gekniet und sich alle Haare ausgerissen, die er noch besaß. Gern hätte er jemanden umgebracht, ganz egal, wen. Mich selbst vielleicht?
Stattdessen zog er scharf die Luft ein, die leicht in einem Nasenloch pfiff, und ging mit schmatzenden Schritten durch den Schlamm in die hinaufziehende Dämmerung.
Schließlich hatte er eine Botschaft zu überbringen. Ohne irgendwelche Heldentaten.