HERZ UND VERSTAND

Wie lange sollten wir denn hier draußen unterwegs sein, Korporal?«

»So kurz wie irgend möglich, Dotter.«

»Wie lange ist das?«

»Bis es so dunkel wird, dass ich Ihr glubschäugiges Gesicht nicht mehr sehen kann, zum Beispiel.«

»Und wir patrouillieren, nicht wahr?«

»Nein, Dotter, wir gehen ein paar Dutzend Schritte und setzen uns eine Weile irgendwo hin.«

»Wo finden wir denn einen Platz, der nicht so nass ist wie ein Otterarsch.«

»Pssst«, zischte Tunny und bedeutete Dotter mit einer Handbewegung, sich zu ducken. Unter den Bäumen auf der anderen Seite der Anhöhe waren Leute unterwegs. Drei Männer, und zwei von ihnen trugen Unionsuniformen. »Puh.« Einer von ihnen war Hauptgefreiter Häcke. Ein schielendes, gehässiges Rattengesicht, der schon seit drei Jahren beim Ersten Regiment diente und sich für einen bösen Buben hielt, dabei aber lediglich ein gemeiner Idiot war. Ein schlechter Soldat, der den richtig schlechten Soldaten den Ruf versaute. Seinen schlaksigen Begleiter kannte Tunny nicht; wahrscheinlich handelte es sich um einen neuen Rekruten, der bei Häcke dem entsprach, was Dotter für Tunny war, und das war wirklich eine höchst beunruhigende Vorstellung.

Sie hatten beide ihre Säbel gezogen und bedrohten damit einen Nordmann, aber Tunny sah sofort, dass das kein Krieger war. Er trug einen dreckigen Mantel, um den er einen Gürtel geschlungen hatte, einen Bogen über der Schulter und einen Köcher auf dem Rücken; ansonsten war keine Waffe zu sehen. Ein Jäger vielleicht oder ein Fallensteller; jedenfalls wirkte er verblüfft und ein bisschen verängstigt. Um all das herauszufinden, musste man kein Genie sein.

»Na, Hauptgefreiter Häcke!« Tunny grinste breit, als er sich erhob und den Hang hinunterschlenderte, die Hand lose auf den Griff seines Säbels gelegt, um ganz nebenbei darauf hinzuweisen, dass er einen trug.

Häcke schielte schuldbewusst zu ihm hinüber. »Halten Sie sich hier raus, Tunny. Den hier haben wir aufgestöbert, der gehört uns.«

»Ihnen? Wo steht denn in den Heeresbestimmungen, dass Sie Gefangene quälen dürfen, nur weil Sie sie gefunden haben?«

»Was kümmern Sie die Bestimmungen? Was machen Sie überhaupt hier, das würde mich doch sehr interessieren!«

»Zufällig hat mich Oberfeldwebel Forest zusammen mit dem Gefreiten Dotter als Patrouille ausgeschickt, um dafür zu sorgen, dass keiner von unseren Männern hinter die Linie der Posten schleicht und irgendetwas anstellt. Und was muss ich sehen da sind Sie doch tatsächlich hinter den Linien unterwegs und versuchen, einen Zivilisten auszurauben. Das nenne ich hinterhältig. Nennen Sie das auch hinterhältig, Dotter?«

»Nun, also …«

Tunny wartete die Antwort nicht ab. »Sie wissen, was General Jalenhorm gesagt hat. Wir sind unter anderem hier, um mit Herz und Verstand für die Union zu werben. Da können Sie nicht einfach hergehen und die Landbevölkerung ausrauben, Häcke. Das kann ich nicht zulassen. Das steht im Gegensatz zu allem, was wir hier zu tun versuchen.«

»Der verdammte General Jalenhorm?« Häcke schnaubte. »Herz und Verstand? Sie? Bringen Sie mich nicht zum Lachen!«

»Sie und lachen?« Tunny runzelte die Stirn. »Sie und lachen? Gefreiter Dotter, heben Sie doch bitte Ihren gespannten Flachbogen und richten Sie ihn auf den Hauptgefreiten Häcke.«

Dotter glotzte ihn an. »Was?«

»Was?«, schnaufte Häcke.

Tunny hob den Arm. »Sie haben mich gehört, richten Sie Ihren Bogen auf ihn!«

Dotter hob die Waffe, bis der Bolzen in etwa auf Häckes Bauch zeigte. »So?«

»Wie denn wohl sonst? So, Hauptgefreiter Häcke, wie sehr ist Ihnen denn jetzt zum Lachen? Ich zähle bis drei. Wenn Sie diesem Nordmann dann nicht seinen Pelz zurückgegeben haben, gebe ich dem Gefreiten Dotter den Befehl zu schießen. Und man weiß nie, er steht ja nur fünf Schritt entfernt, er könnte Sie treffen.«

»Jetzt hören Sie mal!«

»Eins.«

»Hören Sie!«

»Zwei!«

»Schon gut. Schon gut!« Häcke warf dem Nordmann den Pelz ins Gesicht und stürmte empört in Richtung Wald davon. »Aber dafür werden Sie büßen, Tunny, das verspreche ich Ihnen!«

Tunny drehte sich grinsend um und schlenderte ihm hinterher. Häcke öffnete den Mund und wollte gerade noch eine bösartige Bemerkung machen, als Tunny ihm seine Feldflasche mit voller Wucht seitlich gegen den Kopf schlug, die, da sie voll war, ein ordentliches Gewicht hatte. Es ging so schnell, dass Häcke sich nicht einmal ducken konnte, sondern wie ein Stein in den Dreck kippte.

»Dafür werden Sie büßen, Korporal Tunny!«, zischte Tunny und versetzte Häcke einen heftigen Tritt ins Gemächt, um seinen Worten noch etwas Gewicht zu verleihen. Dann nahm er sich Häckes neue Feldflasche und schob ihm im Austausch seine eigene zerbeulte in den Gürtel. »Damit Sie mich in Erinnerung behalten.« Er sah zu Häckes schlaksigem Begleiter hinüber, der vollauf mit Glotzen beschäftigt war. »Wollen Sie noch was hinzufügen, Sie Bohnenstange?«

»Ich ich …«

»Ich? Was soll das denn heißen? Erschießen Sie ihn, Dotter.«

»Was?«, quiekte Dotter.

»Was?«, quiekte der lange Soldat.

»Ich mache doch nur Spaß, ihr Idioten! Verdammt noch mal, denkt denn hier niemand außer mir? Schleppen Sie Ihren Schlappschwanz von Hauptgefreiten wieder hinter die Linien, und wenn ich einen von Ihnen noch mal hier draußen erwische, dann erschieße ich Sie höchstpersönlich.« Der Lange half dem stöhnenden Häcke beim Aufstehen, und die beiden schlichen zum Waldrand, Häcke deutlich o-beinig und mit blutverklebtem Haar. Tunny wartete, bis sie außer Sicht waren. Dann wandte er sich an den Nordmann und streckte die Hand aus. »Und jetzt her mit dem Pelz.«

Eins musste man dem Mann lassen, auch wenn er die Sprache vermutlich nicht beherrschte: Er begriff sofort, worum es ging. Sein Gesicht wurde lang, und er klatschte Tunny das Fell in die Hand. Es war nicht einmal ein besonders gutes, wie er jetzt aus der Nähe sah, es war nur grob abgezogen worden und roch säuerlich. »Was hast du noch?« Tunny kam näher, eine Hand vorsichtshalber auf dem Griff des Säbels, und klopfte den Mann sorgfältig ab.

»Wir plündern ihn aus?« Dotter hatte seinen Bogen jetzt auf den Nordmann gerichtet, sodass er Tunny ein gutes Stück näher war, als dem gefiel.

»Haben Sie ein Problem damit? Sagten Sie nicht, man hätte Sie wegen Diebstahls verurteilt?«

»Ich habe auch gesagt, dass ich es gar nicht war!«

»Genau das, was ein Dieb auch behaupten würde! Das ist kein Raub, Dotter, das ist Krieg.« Der Nordmann hatte ein paar Streifen getrocknetes Fleisch bei sich, die Tunny ihm abnahm. Auch Feuerstein und Zunderbüchse steckte er ein. Geld hatte der Mann keins, aber das war wenig verwunderlich; Münzen hatten sich hier oben noch nicht recht durchgesetzt.

»Er hat eine Klinge!«, quiekte Dotter und wedelte mit seinem Bogen.

»Ein Kürschnermesser, Sie Idiot!« Tunny nahm es dessen ungeachtet an sich und schob es in den eigenen Gürtel. »Wir werden es mit etwas Karnickelblut bekleckern, behaupten, dass es einem namhaften Mann gehörte, der in der Schlacht fiel, und ich wette, dass uns das zu Hause in Adua irgendein Trottel abkauft.« Er nahm dem Nordmann auch Bogen und Pfeile weg. Schließlich wollte er nicht, dass der Kerl aus reiner Gehässigkeit später auf sie schoss. Er sah ein bisschen gehässig aus, aber so hätte Tunny selbst vermutlich auch ausgesehen, wenn man ihn gerade ausgeraubt hätte. Zweimal, noch dazu. Er dachte darüber nach, ihm auch den Mantel abzunehmen, aber der war schon sehr ramponiert und sah außerdem so aus, als habe er ursprünglich einmal einem Unionisten gehört. Tunny hatte vor einiger Zeit um die zwanzig neue Mäntel aus dem Lager des Quartiermeisters von Ostenhorm geklaut und war sie noch nicht alle losgeworden.

»Das war’s«, knurrte er und machte einen Schritt zurück. »War kaum der Mühe wert.«

»Was machen wir denn jetzt?« Dotters großer Flachbogen wackelte in alle möglichen Richtungen. »Soll ich ihn erschießen?«

»Sie blutrünstiger kleiner Drecksack! Wieso sollten Sie das tun?«

»Na ja wird er nicht seinen Freunden auf der anderen Seite dieses Flüsschens erzählen, dass wir hier sind?«

»Seit über einem Tag sitzen lassen Sie mich schnell nachrechnen um die vierhundert Männer hier im Sumpf. Glauben Sie, dass Häcke der Einzige war, der seitdem hier herumgeschlichen ist? Die wissen, dass wir hier sind, Dotter, darauf können Sie wetten.«

»Also dann lassen wir ihn einfach laufen?«

»Wollen Sie ihn vielleicht lieber mit ins Lager nehmen und als Haustier halten?«

»Nein.«

»Wollen Sie ihn erschießen?«

»Nein.«

»Also?«

Einen Augenblick standen die drei einfach nur in der heraufziehenden Dämmerung da. Dann senkte Dotter den Bogen und machte eine Handbewegung. »Verpiss dich.«

Tunny deutete mit dem Kopf zum Wald. »Hopp hopp, mach schon.«

Der Nordmann blinzelte kurz. Erst warf er Tunny einen finsteren Blick zu, dann Dotter, und schließlich schlich er unter zornigem Brummen zum Wald.

»Herz und Verstand«, murmelte Dotter.

Tunny schob das Messer des Nordmanns innen in seinen Mantel. »Ganz genau.«

Heldenklingen
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