ENTSCHEIDENDE ZÜGE
Der Lärm bei diesem Kampf traf sie besonders unerwartet. Es war vermutlich lauter als alles andere, was Finree je vernommen hatte. Ein paar Dutzend Männer brüllten und kreischten, zwar völlig heiser, aber dennoch aus vollem Hals, Holz splitterte, Stiefel trampelten über den Boden, Metall schlug krachend aufeinander, und all dieser Krach wurde durch den engen Raum verstärkt und zur Bedeutungslosigkeit entfremdet. Schmerz, Wut, Gewalt hallten sinnlos von den Wänden wider. So musste es in der Hölle klingen. Befehle hätte hier niemand hören können, aber das spielte ohnehin keine Rolle. Befehle hätten nun auch nichts mehr geändert.
Die Läden eines weiteren Fensters wurden aufgebrochen, und der goldgetünchte Schrank, den man davorgeschoben hatte, begrub einen unglücklichen Leutnant unter sich und spuckte eine Lawine aus zersplitterndem Porzellan über den Boden. Männer drangen durch das helle Viereck ein, schwarze, zerzauste Umrisse zunächst, die an schrecklichem Detail gewannen, als sie ins Innere des Gasthofs drängten. Verzerrte Gesichter, beschmiert mit Farbe, Dreck und Wut. In ihrem wilden, verfilzten Haar steckten Knochen, grob geschnitzte Holzringe und grob geschmiedetes Metall. Sie schwangen Äxte mit gezackten Klingen und Keulen, die mit Spitzen aus mattem Metall beschlagen waren. Wirres Geschrei drang heulend und gurgelnd aus ihren Kehlen, und ihre Augen quollen ihnen vor irrer Kampfeslust aus den Höhlen.
Aliz schrie wieder laut, aber Finree war innerlich seltsam kühl. Vielleicht hatte sie bei diesem ersten Mal, dass sie ihre Tapferkeit unter Beweis stellen musste, eine Art Anfängerglück? Oder vielleicht hatte sie einfach noch nicht richtig begriffen, wie schlimm die Lage war. Denn die war sehr, sehr schlecht. Ihre Augen glitten hektisch durch den ganzen Raum, um sich einen Überblick zu verschaffen, und sie wagte es nicht einmal zu blinzeln, damit sie auch nichts übersah.
In der Mitte des Saales kämpfte ein alter Korporal mit einem grauhaarigen Wilden. Sie hatten gegenseitig ihre Handgelenke gepackt, so dass die Waffen mal links, mal rechts in Richtung Decke zuckten, als vollführten beide einen trunkenen Tanz, bei dem nicht ganz klar war, wer eigentlich führte. Daneben schlug einer der Musiker mit seinem zerstörten Instrument um sich, bis die Geige nur noch ein Haufen Trümmer aus Holz und Saiten war. Draußen auf dem Hof erzitterten die Tore, und Splitter flogen von den Innenseiten, während die Wächter verzweifelt versuchten, sie mit ihren Hellebarden zuzudrücken.
Finree erkannte überrascht, wie gern sie jetzt Bremer dan Gorst an ihrer Seite gehabt hätte. Dabei hätte sie sich wohl eher Hal wünschen sollen, aber irgendwie hatte sie das Gefühl, dass Mut, Pflichtbewusstsein und Ehre in dieser Lage wenig nützen würden. Hier waren brutale Kraft und wilde Wut gefordert.
Sie sah einen rundlichen Hauptmann, angeblich der uneheliche Sohn irgendeines wichtigen Würdenträgers, dem ein Kratzer quer über sein Gesicht lief und der nach einem Mann stach, der eine Kette aus Knochen trug; beide waren rotverschmiert. Sie sah einen netten Major, der ihr früher, als sie noch ein kleines Mädchen war, immer schlechte Witze erzählt hatte, und der nun einen harten Schlag auf den Hinterkopf bekam. Er stolperte zur Seite, die Beine bogen sich nach außen wie bei einem Possenreißer, und mit einer Hand griff er nach der leeren Scheide. Dann wurde er von einem Schwertstreich getroffen, Blut spritzte auf, und er stürzte zu Boden. Einer der Unionsoffiziere hatte ihn beim Ausholen mit der Klinge unglücklich erwischt, wie Finree erkannte.
Ein Schrei erhob sich über den Lärm. »Über uns!«
Die Wilden waren irgendwie auf die Galerie gelangt und beschossen die Menschen unten mit Pfeilen. Gleich neben Finree fiel ein Offizier mit einem Schaft im Rücken gegen einen Tisch, riss im Sturz einen Wandbehang mit sich, und sein langes Eisen fiel ihm klappernd aus der schlaff herunterhängenden Hand. Bebend streckte sie die Hand aus und zog sein kurzes Eisen aus der Scheide, trat hurtig wieder zurück an die Wand und versteckte die Waffe in den Falten ihres Rocks. Als ob sich in dieser Lage irgendjemand über einen solchen Diebstahl aufgeregt hätte.
Die Tür flog auf, und aus allen Teilen des Gasthofs drangen nun die Wilden in den Saal. Sie hatten offenbar den Innenhof eingenommen und die Wächter getötet. Die Männer, die eben noch versucht hatten, die Angreifer von den Fenstern zurückzutreiben, fuhren herum, die erstarrten Gesichter von Entsetzen gezeichnet.
»Der Lord Statthalter!«, kreischte jemand. »Schützen Sie seine Exzel…« Der Rest des Satzes ging in einem schniefenden Heulen unter.
In dem Gewühl ging es nun völlig drunter und drüber. Die Offiziere kämpften hart um jeden Zoll Boden, aber sie verloren, wurden mit grimmiger Entschlossenheit in eine Ecke gedrängt und einer nach dem anderen getötet. Finree wurde gegen die Wand geschoben, vielleicht aus letzter Ritterlichkeit, wahrscheinlich aber lediglich aus Zufall, weil es sich im Kampf so ergab. Neben ihr war Aliz, bleich und schluchzend. Auf ihrer anderen Seite stand Lord Statthalter Meed, der in kaum besserer Verfassung war. Sie bekamen immer wieder Stöße und Tritte von den Männern, die direkt vor ihnen standen und hoffnungslos ums Überleben kämpften.
Finree konnte kaum über die gerüstete Schulter eines Wächters blicken, bis er fiel und ein Wilder in die Lücke drängte, ein schartiges Eisenschwert in der Faust. Sie erhaschte einen schnellen, deutlichen Blick auf sein Gesicht. Hager, gelbes Haar, Knochensplitter im äußeren Rand einer Ohrmuschel.
Meed hob die Hand und sog hart die Luft ein. Vielleicht wollte er sprechen, schreien oder betteln. Das gezackte Schwert erwischte ihn zwischen Hals und Schlüsselbein. Er machte einen wankenden Schritt, verdrehte die Augen zur Decke, bis das Weiße sichtbar wurde, seine Zunge quoll aus dem Mund, und seine Finger zupften an der gezackten Wunde, bis Blut zwischen ihnen hervordrang und die zerfetzten Tressen seiner Uniform herunterlief. Dann kippte er vornüber, riss dabei einen Tisch mit und schleuderte das Möbelstück fast in die Luft. Ein Stapel Papiere verteilte sich über seinem Rücken.
Aliz stieß erneut einen durchdringenden Schrei aus.
Finree ging ein Gedanke durch den Kopf, als sie Meeds Leiche anstarrte: dass das alles ihre Schuld gewesen sein mochte. Dass die Schicksalsgöttinnen ihr damit ihre Rache gewährten. Es erschien etwas übertrieben, um es vorsichtig auszudrücken. Sie wäre mit wesentlich weniger Aufwand zufrieden gewes…
»Ah!« Jemand packte sie am Arm und drehte ihn schmerzhaft um. Sie starrte in ein lüstern grinsendes Gesicht mit einem Mund voller spitz zugefeilter Zähne; die pockennarbige Wange daneben war mit einem blauen Handabdruck und roten Flecken bemalt.
Sie schob den Mann beiseite, und er schrie laut auf; erst jetzt wurde ihr klar, dass sie das kurze Eisen in der Hand hielt und es ihm in die Rippen gestoßen hatte. Er drängte sie gegen die Wand und riss ihr den Kopf hoch. Endlich bekam sie das Eisen wieder frei, ganz feucht jetzt, und es gelang ihr, die Waffe zwischen sich und den Angreifer zu bringen. Sie keuchte, als sie die Spitze unterhalb des Kinns in seinen Kopf stieß. Und dann sah sie, wie die Haut über der blauen Wange sich durch das Metall dahinter leicht ausbeulte.
Der Wilde stolperte zurück, eine Hand suchte nach dem blutigen Griff unter seinem Kinn, und sie lehnte sich keuchend gegen die Wand. Ihre Knie zitterten so stark, dass sie kaum noch stehen konnte. Plötzlich fühlte sie, wie ihr der Kopf zurückgerissen wurde, und ein scharfer Schmerz fuhr durch ihre Kopfhaut, ihren Hals. Sie schrie und verstummte, als ihr Schädel gegen die …
Kurz war alles gleißend hell.
Der Boden traf sie hart an der Seite. Stiefel scharrten und knirschten.
Finger um ihren Hals.
Sie bekam keine Luft, zerrte mit ihren Nägeln an der Hand, den eigenen hämmernden Herzschlag dröhnend laut in den Ohren.
Ein Knie drückte gegen ihren Bauch und schmetterte sie gegen einen Tisch. Heißer, fauliger Atem schrammte über ihre Wange. Es war, als müsste ihr der Kopf zerspringen. Sie konnte kaum sehen, alles war so hell.
Dann herrschte Schweigen. Die Hand an ihrer Kehle lockerte sich ein winziges Stück, gerade genug, damit sie kurz erschauernd einatmen konnte. Husten, würgen, husten. Sie glaubte, taub geworden zu sein, aber dann erkannte sie, dass sich tödliche Stille im Raum ausgebreitet hatte. Die Toten beider Parteien lagen zwischen zertrümmerten Möbeln, verstreutem Besteck, zerrissenen Papieren und herabgefallenen Putzbrocken. Schwaches Stöhnen war von den Sterbenden zu hören. Nur drei Offiziere schienen überlebt zu haben, einer hielt sich den blutigen Arm, die beiden anderen saßen mit erhobenen Händen da. Einer weinte leise. Die Wilden standen still wie Statuen da und blickten auf sie herab. Beinahe nervös, als ob sie auf etwas warteten.
Finree hörte von draußen vom Korridor einen knarrenden Schritt. Dann noch einen. Als ob sich die Dielenbretter unter einem schweren Gewicht bogen. Noch ein Knarren. Sie verdrehte die Augen zur Tür, bemüht, um jeden Preis etwas zu sehen.
Ein Mann trat in den Saal. Zumindest war er von seiner Gestalt her ein Mann, wenn auch nicht von der Größe. Er musste sich unter dem Türrahmen hindurchbücken und blieb danach misstrauisch vornübergebeugt stehen, als befände er sich unter Deck eines kleinen Schiffes und fürchtete, sich den Kopf an den niedrigen Balken zu stoßen. Schwarzes Haar, mit grauen Strähnen durchzogen, klebte an seinem knorrigen Gesicht, aus dem ein schwarzer Bart hervorragte, und um seine Schultern lag ein verfilzter, schwarzer Pelz. Er betrachtete das Ausmaß der Zerstörung mit einem seltsam enttäuschten Gesichtsausdruck. Beinahe ein wenig verletzt. Als sei er zu einer Teegesellschaft eingeladen worden und habe stattdessen unerwartet einen Schlachthof vorgefunden.
»Wieso ist alles kaputt?«, fragte er mit seltsam sanfter Stimme. Dann beugte er sich hinunter und hob einen der heruntergefallenen Teller auf, der sich in seiner riesigen Hand allenfalls wie eine Untertasse ausnahm, benetzte eine Fingerspitze, rieb ein paar Blutstropfen vom Zeichen der Manufaktur auf der Rückseite und betrachtete sie wie ein vorsichtiger Käufer. Sein Blick streifte Meeds Leichnam, und sein Gesicht verfinsterte sich noch mehr. »Habe ich nicht gesagt, ich möchte ein paar Trophäen? Wer hat diesen alten Mann getötet?«
Die Wilden starrten einander an, und die Augen quollen ihnen aus den bemalten Gesichtern. Sie hatten panische Angst, wie Finree erkannte. Einer hob einen zitternden Arm und zeigte auf den Kerl, der sie festhielt. »Das war Saluc!«
Die Augen des Riesen glitten zu Finree, dann zu dem Mann, der ihr immer noch das Knie gegen den Bauch presste, dann verengten sie sich. Er stellte den Teller auf einen Tisch, so sanft und vorsichtig, dass es kein Geräusch gab. »Was machst du da mit meiner Frau, Saluc?«
»Nichts!« Die würgende Hand zuckte zurück, und Finree richtete sich am Tisch ein wenig auf, während sie nach Atem rang. »Sie hat Bregga getötet, ich wollte nur …«
»Du hast mich beraubt.« Der Riese neigte den Kopf leicht zur Seite und machte einen Schritt auf den Mann zu.
Saluc sah sich mit verzweifeltem Blick um, aber seine Freunde rückten bereits von ihm ab, als habe er sich mit der Pest angesteckt. »Aber … ich wollte doch nur …«
»Ich weiß.« Der Riese nickte traurig. »Aber Regeln sind nun einmal Regeln.« In einem Wimpernschlag hatte er das letzte Stück zu ihnen zurückgelegt. Mit einer großen Hand packte er den Unterarm des Wilden, die andere schloss sich um dessen Hals, wobei sich die Finger und der Daumen hinter dem Kopf beinahe trafen, und riss ihn zappelnd hoch. Dann schlug er ihm den Kopf mit knackendem Geräusch gegen die Wand, einmal, zweimal, dreimal, und Blut spritzte über den gesprungenen Putz. Es war so schnell vorüber, dass Finree nicht einmal Zeit fand, sich zu ducken.
»Da versucht man, ihnen ein besseres Leben zu zeigen …« Der Riese lehnte den toten Mann sorgfältig in einer sitzenden Haltung gegen die Wand und schob den zertrümmerten Kopf in eine bequeme Position, wie eine Mutter, die über den Schlaf ihres Kindes wacht. »Aber manche Männer lassen sich einfach nicht zivilisieren. Bringt meine Frauen weg. Und macht euch nicht an ihnen zu schaffen. Lebend sind sie etwas wert. Tot sind sie …« Er stieß Meeds Leiche mit einem großen Stiefel an. Der Lord Statthalter rollte auf den Rücken, und die Augen glotzten an die Decke. »Dreck.«
Aliz schrie wieder. Finree fragte sich, wie sie nach all dem Gekreische immer noch so hohe und glockenreine Töne hervorbringen konnte. Sie selbst gab kein Geräusch von sich, als man sie nach draußen schleppte. Zum Teil, weil der Schlag gegen ihren Kopf ihr die Stimme genommen zu haben schien. Zum Teil, weil sie noch immer Schwierigkeiten hatte, überhaupt richtig Luft zu bekommen, nachdem sie beinahe erwürgt worden war. Aber in erster Linie dachte sie verzweifelt darüber nach, wie sie diesen Albtraum würde überleben können.
Draußen tobte immer noch die Schlacht. Beck konnte es hören. Aber im Untergeschoss war alles still. Vielleicht glaubten die Unionisten, dass sie alle getötet hatten. Vielleicht hatten sie die kleine Treppe irgendwie übersehen. Bei den Toten, er hoffte, dass genau das …
Eine der Stufen knarrte, und Beck blieb fast das Herz stehen. Vielleicht klang ein Knarren wie das andere, aber irgendwie wusste er, dass dieses von einem Mann verursacht worden war, der möglichst nicht gehört werden wollte. Ihm brach der Schweiß aus. Rann kitzelnd seinen Hals hinab. Und er wagte nicht die kleinste Bewegung, um sich zu kratzen. Jeden Muskel spannte er an, um nur kein Geräusch zu machen, nicht einmal das leiseste Seufzen in der Kehle oder ein Schlucken. Seine Nüsse, sein Arsch und seine Eingeweide fühlten sich an wie ein riesiges, kaltes Gewicht, das nur darauf bedacht schien, ihn zu verraten.
Noch ein verstohlener, knarrender Schritt. Beck glaubte zu hören, wie der Dreckskerl draußen etwas zischte. Ihn verhöhnte. Also wusste er, dass er dort war. Worte konnte er nicht verstehen, sein Herz pochte so laut in seinen Ohren, so stark, dass es sich anfühlte, als würden ihm die Augen aus dem Kopf springen. Beck versuchte, noch weiter in den Schrank hineinzuschrumpfen, ein Auge fest auf den Spalt zwischen den beiden Türbrettern gerichtet und auf das Stückchen Dachboden, das dahinter sichtbar war. Die Spitze eines Schwerts rückte ins Bild, schimmernde Mordlust, und dann die Klinge, rot befleckt. Von Colvings Blut, von Braits oder Refts. Und auch Becks, schon bald. Es war ein Unionistensäbel, das erkannte er an dem gebogenen Metallstück rund um den Griff.
Noch ein knarrender Schritt, und Beck legte die Spitzen der gespreizten Finger ans raue Holz, fast ohne es zu berühren, damit ihn die rostigen Angeln auf keinen Fall verrieten. Er packte den heißen Griff seines eigenen Schwerts. Ein schmaler Lichtstreifen fiel über die helle Klinge, der Rest schimmerte in der Dunkelheit. Er musste kämpfen. Musste einfach, wenn er seine Mutter, seine Brüder und ihren Hof jemals wiedersehen wollte. Und jetzt wollte er es auch.
Noch ein knarrender Schritt. Er holte tief und abgehackt Luft, dehnte die Brust, und die Zeit zog sich endlos, wie erstarrt. Wie lange konnte denn jemand brauchen, um noch einen Schritt zu machen?
Noch ein leiser Tritt.
Beck sprang hervor, schrie, stieß die Tür zurück. Das schiefe Türblatt blieb an den Dielenbrettern hängen, und er stolperte, kam aus dem Gleichgewicht. Nun hatte er keine Wahl mehr. Er musste angreifen.
Der Unionist stand im Schatten und drehte den Kopf. Beck schlug wild zu, fühlte, wie die Spitze eindrang und ihm die Parierstange gegen die Knöchel schlug, als die Klinge in die Brust des Unionisten fuhr. Sie wirbelten in einer knurrenden Umarmung herum, und irgendetwas schlug Beck gegen den Kopf. Der niedrige Dachbalken. Er kippte nach hinten, und der Unionist fiel in ganzer Länge auf ihn. Der Aufprall presste ihm die Luft aus den Lungen, aber die Hand umklammerte immer noch den Griff seines Schwerts. Becks Augen mussten sich kurz auf die Entfernung einstellen, aber als sie das getan hatten, blickte er direkt in ein verzerrtes Gesicht mit hervorquellenden Augen.
Nur war es überhaupt kein Unionist. Es war Reft.
Er holte tief, langsam und keuchend Luft. Seine Wangen bebten. Dann hustete er Blut auf Becks Gesicht.
Beck wimmerte, trat um sich, kämpfte sich frei, rollte Reft von sich herunter und rutschte von ihm weg. Dann kniete er auf dem Boden und starrte den anderen an.
Reft lag auf der Seite. Eine Hand kratzte über den Boden, ein Auge richtete sich langsam auf Beck. Er wollte etwas sagen, aber es kamen nur gurgelnde Laute. Blut quoll ihm aus Mund und Nase. Blut sickerte unter ihm hindurch und lief in die Maserung der Dielenbretter. Schwarz in den Schatten. Dunkelrot, wenn es auf einen Lichtfleck traf.
Beck legte ihm eine Hand auf die Schulter. Fast flüsterte er seinen Namen, wusste aber, dass es keinen Zweck hatte. Mit der anderen Hand umklammerte er noch immer den Griff seines Schwertes, ganz glitschig vor Blut. Es war viel schwerer herauszuziehen, als es hineingeglitten war. Als es sich endlich löste, machte es ein leises, schmatzendes Geräusch. Beinahe hätte er wieder Refts Namen gesagt, aber er brachte keinen Ton heraus. Refts Finger bewegten sich nun nicht mehr, seine Augen starrten weit geöffnet vor sich hin, rot war auf seinen Lippen, an seinem Hals. Beck presste den Handrücken gegen seinen Mund und merkte, dass alles blutig war. Dass er blutig war, von oben bis unten. Blutgetränkt. Blutrot. Er stand auf, und sein Magen rebellierte. Refts Augen verfolgten ihn noch immer. Er tappte zur Treppe und die Stufen hinunter, und das Schwert kratzte eine rosa Rille in den Putz. Das Schwert seines Vaters.
Unten bewegte sich nichts. Von draußen hörte er Kampfeslärm, vielleicht von der Straße her. Wildes Geschrei. Es hing ein wenig Rauch in der Luft, der in seiner Kehle kratzte. Sein Mund schmeckte nach Blut. Blut und Metall und rohes Fleisch. Die Jungs waren alle tot. Stodder lag bei der Treppe auf dem Bauch und streckte noch die Hand nach einer Stufe aus. Sein Hinterkopf war beinahe gespalten, das Haar in dunklen Locken zusammengeklebt. Colving lehnte gegen die Wand, die Hände um den rundlichen Bauch verkrampft, das Hemd dunkel vor Blut. Brait sah aus wie ein Lumpenbündel in der Ecke. Hatte allerdings nie nach viel mehr ausgesehen, das arme Schwein.
Vier tote Unionisten lagen ebenfalls auf dem Boden, alle nahe beieinander, als hätten sie beschlossen, zusammenzubleiben. Beck stand in ihrer Mitte. Der Feind. Sie hatten so gute Rüstungen und Waffen. Brustpanzer und Armschützer, polierte Helme, allesamt. Und Jungs wie Brait waren krepiert mit einem Stock in der Hand, in dessen gespaltenes Ende man eine Messerklinge geschoben hatte. Es war nicht fair. Nichts war fair.
Einer von ihnen lag auf der Seite, und Beck gab ihm einen kleinen Stoß mit dem Fuß, so dass er mit schlenkerndem Kopf auf den Rücken rollte. Der Tote starrte nun an die Decke, und seine Augen guckten dabei in zwei verschiedene Richtungen. Abgesehen von seiner Ausrüstung sah es nicht so aus, als sei irgendetwas Besonders an ihm. Er war jünger, als Beck erwartet hatte, auf seinen Wangen zeigte sich ein flaumiger, erster Bart. Der Feind.
Ein Krachen ertönte. Die zertrümmerte Tür wurde aufgestoßen, und jemand machte einen langen Satz ins Haus, den Schild vor sich erhoben und einen Streitkolben in der anderen Hand. Beck stand einfach da und glotzte. Er hob nicht einmal sein Schwert. Der Mann humpelte einen Schritt voran und stieß einen langen Pfiff aus.
»Was ist passiert, mein Junge?«, fragte Flut.
»Ich weiß nicht.« Er wusste es wirklich nicht. Nun ja, was passiert war, hätte er vielleicht schon gewusst, aber nicht, wie. Oder warum. »Ich habe ihn umgebracht …« Er wollte die Treppe hinaufdeuten, aber er konnte nicht einmal den Arm heben. Schließlich zeigte er auf die Unionisten zu seinen Füßen. »Tot …«
»Bist du verletzt?« Flut tastete Becks blutgetränktes Hemd ab und suchte nach einer Wunde.
»Das ist nicht von mir.«
»Du hast vier der Arschlöcher erwischt, was? Wo ist Reft?«
»Tot.«
»Verstehe. Tja. Daran darfst du jetzt nicht denken. Zumindest du hast es geschafft.« Flut legte ihm den Arm um die Schultern und führte ihn ins helle Licht nach draußen.
Auf der Straße fuhr der Wind in Becks blutgetränktes Hemd und die pissegetränkten Hosen und ließ ihn erschauern. Das Pflaster war mit Staub und herumfliegender Asche bedeckt, überall lagen zersplittertes Holz und verlorene Waffen. Tote beider Seiten und auch Verwundete. Beck sah einen Unionisten, der am Boden kauerte und den Arm hilflos erhoben hatte, während zwei Hörige mit Äxten auf ihn einschlugen. Rauch trieb noch immer über den Platz, aber Beck konnte erkennen, dass auf der Brücke erneut gekämpft wurde, Schatten von Männern und Waffen, hin und wieder ein surrender Pfeil.
Ein massiger, alter Recke in dunkler Rüstung und mit zerbeultem Helm führte hoch zu Ross einen Keil von Männern an, deutete mit einem abgebrochenen Holzstück über den Platz und brüllte aus vollem Hals mit vom Rauch kratziger Stimme: »Treibt sie über die Brücke zurück! Macht die Ärsche fertig!« Einer der Männer hinter ihm trug eine Stange mit einer Standarte – ein weißes Pferd auf grünem Grund. Reichels Zeichen. Dann war der alte Mann wohl kein Geringerer als Reichel persönlich.
Nur langsam gelang es Beck, alles zu einem großen Bild zusammenzufügen. Die Nordmänner hatten den Angriff erwidert, wie Flut gesagt hatte, und die Union erwischt, als sie zwischen den Häusern und in den engen, gewundenen Gassen gefangen war. Hatten sie wieder über den Fluss getrieben. So wie es aussah, würde er heute nicht sterben, und bei dem Gedanken hätte er am liebsten geweint. Vielleicht hätte er das auch getan, wären seine Augen nicht ohnehin schon vom Rauch gerötet gewesen.
»Reichel!«
Der alte Krieger sah zu ihnen herüber. »Flut! Du lebst noch, du alter Sack?«
»Na, so halbwegs, Häuptling. Hier wurde ziemlich hart gekämpft.«
»Das ist wohl wahr. Mir ist die verdammte Axt zerbrochen! Diese Unionisten haben gute Helme, was? Aber eben doch nicht gut genug.« Reichel warf den geborstenen Stiel beiseite, der klappernd über das Pflaster des zerstörten Platzes rutschte. »Ihr habt hier ziemlich gute Arbeit geleistet.«
»Aber ich habe beinahe all meine Jungs verloren«, seufzte Flut. »Nur der hier hat überlebt.« Damit klopfte er Beck auf die Schulter. »Hat vier von diesen Drecksäcken ganz allein erledigt, jawohl.«
»Vier? Wie heißt du, Junge?«
Beck glotzte zu Reichel und seinen namhaften Männern empor. Sie alle sahen ihn an. Er hätte die Sache richtig stellen müssen. Die Wahrheit sagen. Aber selbst, wenn er den Mumm dazu gehabt hätte, und das war nicht der Fall, dann fehlte ihm der Atem für so viele Worte. Und so sagte er nur: »Beck.«
»Nur Beck?«
»Joh.«
Reichel grinste. »Ein Kerl wie du braucht einen längeren Namen, würde ich doch mal sagen. Wir nennen dich …« Er sah Beck kurz von oben bis unten an, dann nickte er, als habe er die Antwort gefunden. »Den Roten Beck.« Er wandte sich im Sattel um und rief seinen namhaften Männern zu: »Wie gefällt euch das, Jungs? Roter Beck!« Und sie schlugen mit den Schwertgriffen gegen ihre Schilde und mit den Kampfhandschuhen gegen die Brust. Ein lautes Klappern und Lärmen hallte über den Platz.
»Seht ihr das?«, brüllte Reichel. »Das ist ein Junge, wie wir ihn brauchen! Seht ihn euch alle gut an! Lasst uns noch mehr von seiner Sorte finden! Noch ein paar blutrünstige kleine Ärsche, so wie er!« Ringsum Gelächter, Applaus, beifälliges Nicken. Das galt in erster Linie dem Erfolg, die Union wieder über die Brücke getrieben zu haben, aber zum Teil galt es auch ihm und seinen blutigen Taten. Genau das hatte er sich immer gewünscht: Respekt und die Gesellschaft anderer Krieger, vor allem aber einen furchteinflößenden Namen. Jetzt hatte er das alles, und er hatte dafür nichts weiter tun müssen, als sich in einem Schrank zu verstecken und einen der eigenen Leute umzubringen, um dann dessen Lorbeeren einzuheimsen.
»Roter Beck.« Flut grinste stolz wie ein Vater, dessen Söhnchen die ersten Schritte tut. »Was hältst du davon, mein Junge?«
Beck starrte zu Boden. »Weiß nicht.«