Kapitel 17
Ich bringe dich auf dein Zimmer, Prinzessin«, sagte Rhodry, als die meisten anderen gegangen waren; nur Eugene und Moira waren noch da.
Die Musiker hatten das letzte Stück gespielt und packten ihre Instrumente ein. Nola fühlte sich immer noch heiter und beschwingt, die Füße tippten Tanzschritte aufs Parkett, der Fächer wirbelte in ihrer Hand, und ihre Wangen glühten erhitzt. Sie hätte mit Rhodry immer weiter durch die Nacht tanzen mögen.
»Es ist gerade … «
Er gab nichts auf ihren Protest und zog sie aus dem Saal. Im Flur stolperte sie, und sein Arm schlang sich fester um ihre Hüfte. Nola kicherte. Sie wusste, sie war beschwipst, aber war das Leben nicht bunt und leicht und der Mann an ihrer Seite sexy?
»Hier ist dein Zimmer.«
Er öffnete eine Tür und schob sie in den Raum dahinter. Sie sorgte dafür, dass er nicht auf dem Flur zurückblieb. Drinnen ließ er sie los.
»Ich will tanzen.« Nola griff seine Hand und begann, sich zu drehen.
»Nola.«
»Nun sei doch nicht so wie jemand, der schon ewig lebt.« Sie trippelte um ihn herum, ließ eine Hand über seine Schultern, seinen Rücken gleiten.
»Nola, sei ein artiges Mädchen.«
Seine Stimme klang aber schon nicht mehr so abweisend, wie bei dem ersten »Nola«. Sie schlang die Arme um seinen Hals und schmiegte sich an ihn, und sie drehten sich im Kreis.
»Will nicht artig sein. Hörst du die Musik?«
»Ich höre sie, Prinzessin.«
Seine Hände lagen fest auf ihrem Hintern, und sie glaubte, sein Herz schlagen zu hören. Sie hob ihm den Kopf mit halb geöffneten Lippen entgegen. Rhodry widerstand der Versuchung nicht. Ihre Münder fanden einander, verschmolzen miteinander.
Nola hing in seinen Armen, und in ihrem Kopf drehte sich alles. Und das lag nicht nur an dem genossenen Wein, der Kuss ließ sie alles andere vergessen. Sie taumelte, fiel rückwärts aufs Bett und zog Rhodry mit sich. Ihr Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben im 21. Jahrhundert war nicht mehr wichtig, wenn sie einen Werwolf haben konnte, der so küsste. Sie gab dem Drängen seiner Zunge nach.
Atemlos beendeten sie den Kuss. Rhodry stemmte den Oberkörper ein wenig hoch und schauten auf sie herab. Sein Blick war verhangen, sie erkannte die Lust darin und die Liebe. Nola zog ein paar Nadeln aus dem Haar, damit es wie ein goldener Wasserfall über die Bettdecke floss, anschließend sorgte sie dafür, dass ihr Kleid über eine Schulter herunterrutschte. Rhodry zog scharf den Atem ein.
Ihr Busen hob und senkte sich heftig und fing Rhodrys Blick so sicher ein wie ein Magnet ein Stück Eisen.
»Mir ist schrecklich heiß«, maulte sie mit zuckersüßer Stimme. Gleichzeitig rollte sie sich unter ihm hervor und setzte sich auf. Sie mühte sich mit den Haken ab, mit denen das Kleid im Rücken geschlossen war. Was so einfach war, wenn es sich um die zwei Schließen eines BHs handelte, stellte sich beim Ballkleid als unüberwindliches Hindernis heraus. Oder es war eine schlaue Erfindung der Schneider, denn Rhodry machte sich mit Begeisterung daran, ihr zu helfen.
Ein Haken nach dem anderen sprang auf, und jeden quittierte er mit einem heißen Kuss.
»Ist dir warm, Prinzessin?«, flüsterte er, als sie mit entblößtem Oberkörper auf dem Bett saß.
»Noch viel heißer.« Sie drehte sich zu ihm um. »Und es gefällt mir, Rhodry.«
Wieder fanden sich ihre Lippen zu einem Kuss, wieder fiel sie aufs Bett zurück und zog ihn mit sich. Er küsste ihren Hals, ihre Schultern, den Ansatz ihrer Brüste und entfachte ein Feuer der Gefühle. Sie wollte schmelzen und brennen im selben Augenblick und reckte sich ihm entgegen. Rhodry spielte mit ihr, tupfte überall Küsse auf ihre Haut, nur nicht dorthin, wo sie es am meisten ersehnte. Ihr Schoß brannte, dort wollte sie den Werwolf spüren, tief in sich, und wenn es das Letzte war, was sie erlebte. Sie machte Anstalten, sich das Kleid vom Leib zu streifen.
»Nimm mich, Rhodry. Jetzt, sofort.«
Er löste seine Lippen von ihrer Haut, schaute auf sie herunter. Sein Gesicht war auf einmal ernst. »Du weißt, was es bedeutet, wenn du die meine wirst.«
»Ja, ja, ich kann nicht länger warten.«
»Du willst es?«
»Ja, ja.« Das Kleid hing ihr auf den Oberschenkeln. »Ich brenne, komm und lösche mich.« Sie wollte ihn mit einem dunklen Lachen locken, es geriet zu einem betrunkenen Kichern, und sie musste genau darüber noch mehr lachen.
Rhodry richtete sich ganz auf und streichelte ihre Wange. »Du hast zu viel Punsch getrunken und weißt nicht, was du redest. Ich will mit dir nichts tun, das du bei Tageslicht bereust.«
Unter der Bettdecke zog er ihr züchtiges Nachthemd hervor und streifte es ihr über. Das Ballkleid warf er auf einen Sessel. Zuletzt verfrachtete er Nola unter die Bettdecke und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.
»Schlaf gut, Prinzessin. Ich werde warten, bis du für mich bereit bist.«
Nola wachte davon auf, dass jemand die Tür schloss. Im Raum war niemand, im Kamin brannte ein Feuer, und neben der Kerze auf dem Nachttisch standen ein Glas kalter Minztee und ein Teller mit Biskuits. Sie hatte einen schlechten Geschmack im Mund, ihr Kopf fühlte sich doppelt so groß an wie gewöhnlich und entsprechend schwer. Sie trank den Tee, den Kuchen verschmähte sie.
Die Proteste ihres Körpers ignorierend, schwang sie die Beine aus dem Bett. Dem Feuer war es noch nicht gelungen, den Raum zu erwärmen, die Härchen auf den Armen richteten sich in der Kälte auf; sie griff nach ihrem Morgenmantel. Das gelbe Kleid lag nicht mehr auf dem Sessel. Der Ball — die Gedanken schossen siedend heiß in alle Richtungen - die Zweisamkeit mit Rhodry …
Ihre Kopfschmerzen wichen einem Dröhnen, sie presste die Fäuste gegen die Augen. Sie hatte gestern Abend nicht nur zu viel getrunken, sie hatte sich auch vor dem gräflichen Werwolf erniedrigt und prompt die Quittung bekommen. Wie sie sich ihm an den Hals geworfen und gebettelt hatte, und er sie wie ein törichtes Ding zurechtgewiesen hatte. Noch nie hatte sie sich derart gehen lassen. Die Scham brannte heiß auf ihren Wangen.
Nola zog den Morgenmantel über und stellte sich näher ans Feuer. Angenehme Wärme umschmeichelte sie von vorne, linderte ihre Übelkeit keineswegs. Wie sollte sie Rhodry je wieder unter die Augen treten? Sie verstand sich nicht mehr. Seit sie ins 19. Jahrhundert gerutscht war, war sie eine andere.
Nola drehte sich um und kehrte dem Feuer den Rücken zu. Es klopfte an der Tür, und Rhodry trat ein. Sie schlug die Hände vors Gesicht. Leider verbarg das weder sie vor ihm, noch ließ es ihn verschwinden. Sie schielte durch die Finger. Dalton folgte dem Hausherrn und stellte auf dem Tisch beim Kamin ein Tablett ab. Nola sah eine Teekanne, einen Brotkorb, Butter und Marmelade und die bei Werwölfen unvermeidliche Fleischration.
»Ich wollte sehen, wie es dir heute Morgen geht, Prinzessin«, sagte Rhodry, nachdem der Butler gegangen war und die Tür hinter sich geschlossen hatte.
»Nicht gut. Ich möchte allein sein.«
»Du musst erst ordentlich was in den Magen bekommen, dann wird es besser.« Er glitt in einen der beiden Sessel und schenkte Tee ein. »Setz dich.«
Nola blieb nichts anderes übrig, als der Einladung Folge zu leisten, wollte sie sich nicht zickig gebärden. Sie akzeptierte eine Tasse Tee und wünschte, Rhodry möge gehen. Weich und heiß rann der Tee durch ihre Kehle. Rhodry trank ebenfalls.
»Werwölfe trinken nicht viel Tee«, merkte sie an, denn er sah von dem Getränk nicht begeistert aus.
»Nur wenn es die Umstände erfordern. Zu viel Wasser drin.«
»Und jetzt erfordern es die Umstände?«
»Ich dachte, ein heißes Getränk weckt deine Lebensgeister, vertreibt die Kopfschmerzen, und danach bist du bereit, endlich die Räume der Hausherrin in Besitz zu nehmen.«
Nola setzte ihre Tasse mit einem Klirren ab. Sie benahm sich unmöglich, und er bot ihr das an. Das konnte nicht sein Ernst sein. Sie schüttelte den Kopf und sprach aus, was sie dachte.
»Prinzessin, ich nutze die Lage einer Frau nicht aus. Und du bist und bleibst die Herrin meines Herzens. Zieh dich an, oder ich helfe dir.«
Es war klar, was er wollte. Nola wäre am liebsten im Boden versunken. Schlimm genug, dass sie im dünnen Morgenmantel vor ihm saß.
»Ich habe von dir schon alles gesehen«, erriet er ihre Gedanken.
»Trotzdem … «
Er erhob sich, verneigte sich vor ihr und verließ den Raum. Oh Gott, musste sie ständig alles falsch machen? Er reichte ihr die Hand und sie schlug sie aus. Selbst wenn sie sich fest vornahm, freundlich und vernünftig zu sein, schaffte er es mühelos, ihre schlechtesten Seiten zum Vorschein zu bringen. Werwölfe und Menschen, das passte nicht.
Vor der Tür fragte sich der Earl gerade, was zu tun war, damit Menschen und Werwölfe besser zusammenpassten. Er knirschte mit den Zähnen. Nola ließ ihre Launen an ihm aus, und das hatte noch nie eine Frau gewagt, selbst dann nicht, als er noch kein Werwolf gewesen war. Er würde jetzt wieder reingehen und nicht rauskommen, ehe sie ihn angebettelt hatte, ihre Leidenschaft zu befriedigen.
Er wollte nach der Türklinke greifen, als Eugene hastig die Treppe hochkam. »Endlich finde ich dich. Die Krakauer wurden gesichtet, mindestens zwanzig von ihnen. Ich habe das Rudel versammelt, nur du fehlst noch.«
Rhodry nahm die Hand wieder von der Türklinke. Das Rudel ging vor.
Im Zimmer lief Nola zwischen Tür und Fenster hin und her. Sie war aufgesprungen, sobald der Earl die Tür hinter sich geschlossen hatte. Im letzten Augenblick hatte sie gesehen, wie sehr sie ihn verletzt hatte, und ihm nachgewollt, dann hatte sie der Mut verlassen. Konnte sie mit Rhodry in dieser Zeit leben, so wie Eugene und Moira? Sie hatte die beiden gestern Nacht gesehen, wie ihnen Blicke ausreichten, wo andere Worte brauchten. Konnte es das jemals zwischen ihr und Rhodry geben? Sie musste ihm nach, aber nicht im Morgenmantel, sie musste sich bei ihm entschuldigen, und dann konnte zwischen ihnen noch alles gut werden. Hoffentlich.
Sie warf den Morgenmantel aufs Bett, das Nachthemd flog hinterher, und zog sich ein einfaches weißes Wollkleid über. Sie schlüpfte noch in Pantoffeln und rannte aus dem Zimmer. Rhodry war nirgends zu sehen. Shavick Castle war kein Cottage mit drei Räumen, sondern eine Burg, und sie fand Rhodry nicht. Dafür traf sie auf Dalton, der aus der Küche zu kommen schien und ein Tablett trug, auf dem etwas unter einem Tuch verborgen lag.
»Dalton, Sie schickt der Himmel.«
Er verneigte sich leicht. »Mylady, womit kann ich Ihnen dienen?«
»Ich suche Rhodry. Sie wissen doch bestimmt, wo er ist.«
»Nun, Mylady.« Dalton sah auf einmal unbehaglich aus. »Er ist mit Master Eugene und anderen des Rudels in einer Besprechung. Ihr könnt sie jetzt nicht stören, Mylady. Ich sage Mylord, dass Ihr ihn zu sprechen wünscht, wenn die Besprechung endet.«
»Das bringen Sie zu ihnen?« Sie zeigte auf das Tablett.
»Das ist für Lady Ianthe.«
Rhodry war also direkt von ihr zu Rudelangelegenheiten geeilt, während sie sich Gedanken gemacht hatte, wie sie die Scherben zwischen ihnen kitten konnte. Es würde wohl schwierig werden.
Nola nahm die Hintertreppe in den zweiten Stock zu ihrem Zimmer. Entweder kannte sie Shavick Castles Gänge nicht so gut, wie sie dachte, oder heute ging alles schief: Jedenfalls landete sie in einem Flügel der Burg, in dem sie nie gewesen war. In der Ecke öffnete sich eine der dunklen Türen, und Moira kam heraus. Sie hielt einen etwa zehnjährigen Jungen am Ohr gepackt, drehte ihn neben der Tür mit dem Gesicht zur Wand und sagte: »Hier bleibst du stehen, bis ich dich reinhole.«
Bevor sie wieder im Zimmer verschwand, fiel ihr Blick auf Nola. »Miss Eleonore.« Sie nickte und wollte sich abwenden, überlegte es sich anders und schenkte Nola ein Lächeln. »Sie sehen aus, als könnten Sie eine Stärkung gebrauchen. Kommen Sie.«
»Ihre Schüler?«
Es war offensichtlich, dass die Werwölfin damit beschäftigt war, den Nachwuchs zu unterrichten.
»Sie sind mit einer Schreibaufgabe beschäftigt, und nachdem der junge Lachlain wegen Stören des Unterrichts vor der Tür stehen muss, werden die anderen es nicht wagen, einen Laut von sich zu geben.«
Sie führte Nola in einen Raum, der die Schlossvariante eines Lehrerzimmers im 19. Jahrhundert bildete, und hieß sie in einem verschlissenen Sessel Platz zu nehmen. Anschließend machte sie sich am Buffet zu schaffen.
»Ich bin nicht hungrig.« Nola dachte mit Schaudern an die dicken Scheiben kalten Bratens, die Werwölfe ständig verzehrten.
»Ich habe nicht an Essen gedacht - eher an eine Tasse Tee.« Moira hatte sich halb umgedreht, und jetzt erkannte Nola, dass sie an einem Samowar hantierte. »Wir essen nicht den ganzen Tag Fleisch.«
»Haben Sie meine Gedanken gelesen?«
»Das nicht, aber die meisten Menschen, die näher mit uns bekannt werden, haben damit Schwierigkeiten. Am Anfang jedenfalls.« Sie lächelte.
Nola entspannte sich. »Die Kinder, waren das …?«
»Kleine Werwölfe. Ich unterrichte sie. Sie müssen genauso zur Schule gehen wie Menschenkinder und das spezielle Wissen unserer Art erwerben. Viel zu tun für die Kleinen. Haben Sie sich eingelebt auf Shavick Castle und erholt von der durchtanzten Nacht?«
»Ich weiß nicht«, gestand Nola offen. »Werwölfe, ich weiß nicht, das ist mir immer alles noch so fremd. Ich weiß nicht genau, wie ich hierhergekommen bin. Rhodry hat ständig Rudelangelegenheiten zu klären, die Bedrohung durch die
Krakauer. Ich habe das Gefühl, ich bin zu gar nichts nütze. Das bin ich nicht gewohnt.«
»Das muss Ihnen fremd erscheinen. Bei manchen Menschen, die zu uns kommen, bleibt das immer so, und sie verlassen uns wieder.«
»Kommen viele Menschen hierher?«
»Nicht viele. Manche, die den Bluteid schwören wollen. Jemanden wie Sie hatten wir noch nie hier. Rhodry hat erzählt, Sie sind 200 Jahre aus der Zukunft zu uns gekommen. Ich freue mich, zu sehen, wie die Welt im 21. Jahrhundert aussehen wird.«
Einen Augenblick war Nola verblüfft, bis ihr die Unsterblichkeit der Werwölfe einfiel, die solche Sätze Wahrheit werden ließ. Moira würde es erleben: Autos, zwei Weltkriege, Computer, den 11. September, die Europäische Union, Börsencrashs, Fernsehen, Mondlandung und Flugzeuge. Sie überlegte, ob die Worte der Werwölfin als Wunsch zu verstehen waren, etwas über ihre Zeit zu erfahren, und ob sie als Zeitreisende diese Neugier befriedigen durfte, ohne das Gefüge der Zeit durcheinanderzubringen. Moira reichte ihr eine dampfende Tasse Tee und redete weiter: »Nehmen Sie, Miss Eleonore, das wird Ihnen guttun. Bei Menschen weckt Tee die Lebensgeister nach zu wenig Schlaf.«
»Und bei Werwölfen?«
»Hilft Tee nicht, zu viel Wasser. Zu wenig Schlaf macht uns allerdings auch zu schaffen.« Moira hielt sich eine Hand vor den Mund, gähnte dahinter.
Das über den wässrigen Tee hatte Nola heute doch schon mal gehört. Sie prostete Moira mit ihrer Tasse zu.
»Alkohol wirkt auf uns nicht so stark wie bei Menschen. Wir müssten schon ein Fässchen austrinken, bevor wir unter dem Tisch liegen.«
»Das hätte ich wissen müssen.«
»Rhodry hätte es Ihnen sagen sollen. Aber so ist er, bekommt den Mund nicht auf. Er kann einen manchmal erschrecken, ich weiß das, und mir ergeht es hin und wieder auch so. Sie müssen immer daran denken, dass Sie sich nie vor ihm ängstigen müssen.«
»Das hat mir Brandon Hatherley gestern Nacht auch schon gesagt, dass man sich vor Rhodry leicht ängstigen kann. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.«
»Unser guter Brandon hat einen Hang zur Übertreibung.«
»Er macht mir mehr Angst als Rhodry.«
»Vor Brandon sollten nur seine Feinde Angst haben. Er ist einer der besten Kämpfer des Rudels, aber wir alle legen unsere Hand für ihn ins Feuer.« Moira hatte sich ihr gegenüber auf einen Stuhl gesetzt und leerte ihre Teetasse mit zwei Schlucken. Sie stellte sie auf einem mit Zeichenutensilien übersäten Tisch ab. »Ich weiß, was wir tun, ich zeige Ihnen die Bibliothek.«
»Ich kenne sie schon.«
»Oh, oh. Hat Rhodry sie Ihnen gezeigt?«
Nola schüttelte den Kopf, blies auf ihren Tee und nahm einen weiteren Schluck. »Ich habe sie bei meiner Erkundung der Burg entdeckt.«
»Die meinte ich nicht.« Moira legte die Hände um ihre auf einem wackeligen Stapel Zeichenpapier stehende Tasse.
»Gibt es noch eine?«
»Die Bibliothek, die Sie entdeckt haben, dient menschlichen Interessen und ist nur Tarnung. Es gibt noch eine Zweite, die enthält das spezielle Wissen unserer Rasse. Da Sie bald eine von uns sein werden, kann ich sie Ihnen ruhig zeigen. Kommen Sie.«
Gemeinsam verließen sie das Lehrerzimmer, gingen in den ersten Stock hinunter. Nolas Gedanken vibrierten vor Neugier. Was würde sie gleich zu sehen bekommen?
Moira führte sie zurück in die Bibliothek, den Bücherschränken schenkte sie keinen Blick. Schnurstracks ging sie auf die hintere Wand zu, wo neben dem Kamin die einzige Stelle war, an der kein Schrank stand. Nola zwängte sich um den Schreibtisch herum an Moiras Seite.
»Hier ist ein kleiner Hebel.« Die Werwölfin nahm Nolas Hand und führte sie zu einer Stelle des geschnitzten Wandpaneels, legte ihre Finger um einen Vorsprung. »Nach oben drücken.«
Mit einem Knirschen schwang das Wandpaneel zurück, gab den Blick auf einen weiteren Raum frei. Auf den ersten Blick unterschied er sich nicht von der Bibliothek. Es gab Sessel, Sofas, mehrere Tischchen und an den Wänden Bücherschränke. Auf jedem Tisch standen Kerzenleuchter.
Dennoch war der Raum heller, auf dem Boden lag ein blauweißer Aubusson-Teppich, auf die Wände war eine cremefarbene Tapete gespannt, die Möbel waren aus weißlackiertem Holz. Im Laufe der Jahre war der Lack stumpf geworden, bot dem Auge jedoch einen freundlichen Anblick. Das war der Raum einer Frau, während die vordere Bibliothek eine männliche Ausstrahlung hatte.
»Schauen Sie sich um.« Moira ließ ihre Rechte einen Kreis beschreiben, der den gesamten Raum einschloss. »Und keine
Angst, die Tür hat von innen eine normale Klinke.« Sie zeigte es Nola.
Alleingelassen wanderte sie durch den Raum. Nicht alle Schränke waren vom ersten bis zum letzten Platz gefüllt, offenbar war das spezielle Wissen der Werwölfe nicht so umfangreich wie das menschliche. Sie schloss einen der Schränke auf und nahm ein in blaues Leder gebundenes Buch heraus.
»Von Werwolfjägern«, lautete der Titel. Das versprach, interessant zu werden. Nola kuschelte sich in einen Sessel und begann zu lesen.
Jemand hatte über Jahrzehnte, Jahrhunderte hinweg die Namen und Taten der Werwolfjäger zusammengetragen. Sie suchte nach Pawel Tworek. Natürlich war er in dem Buch vertreten und hatte tatsächlich im 17. Jahrhundert in Danzig sein Unwesen getrieben. Alles, was Rhodry über ihn erzählt hatte, stimmte. Mit spinnwebfeiner Schrift hatte jemand Kommentare ins Buch geschrieben. Bei Pawel Tworek stand: Gnadenlos, bei seinem Tod war Danzig praktisch werwolfsfrei, die zwei oder drei Letzten haben das Rudel aufgelöst und sich den Krakauern angeschlossen.
Danach fand sie ein anderes Buch: »Vom Wesen der Werwölfe«. Vielleicht half ihr das, dieses Ganze hier besser zu verstehen, Rhodry besser zu verstehen. Der Autor war anonym, und er hatte sich offenbar nicht entscheiden können, ob Werwölfe verabscheuungswürdige Bestien oder zu bewundernde Wesen waren. Der Texte schwankte zwischen diesen Extremen. Immerhin erfuhr sie, dass es drei Arten gab, wie ein Werwolf seine Gestalt wandelte. In jeder Vollmondnacht verwandelte er sich in seine Wolfsgestalt und am Ende der Nacht wieder zurück - dagegen konnte nichts und niemand etwas tun. Außerdem verwandelte der Werwolf sich bei heftigen Gefühlen; Hass, Wut, Freude, Gier, Erregung konnten die Verwandlung auslösen, aber bis zu einem gewissen Grad konnte ein Werwolf lernen, sich zu beherrschen. Dann gab es noch die Möglichkeit, dass ein Werwolf lernte, sich zu verwandeln. Dazu gehörte nach Meinung des anonymen Autors viel Übung. Und eine Unterart dessen war, dass ein Werwolf sich nur halb verwandelte; der Körper wurde der eines Wolfes, der Kopf blieb menschlich.
Nola ließ das Buch sinken. Wie war es wohl, wenn man sich in einen Wolf verwandelte? Überall wuchs einem Fell, die Körperform veränderte sich, auf einmal musste man auf vier Pfoten laufen. Und der Geist? Blieb er der eines Menschen oder wurde er zu dem eines Tieres? Am wenigsten konnte sie sich vorstellen, wie die halbe Verwandlung vor sich ging und was daraus für ein Wesen entstand. Konnte sie sich das für sich vorstellen? Denn darauf lief es hinaus, wenn sie ihren Gefühlen zu Rhodry nachgab und an seiner Seite blieb: dass sie ebenfalls zur Werwölfin wurde. Er hatte es ja bereits gesagt.
Lord Sharingham fiel ihr ein, der Werwolfjäger. Er sah nur die dunkle Seite der Werwölfe, und zeigten die Wölfe selbst vielleicht genauso nur ihre helle? Dann erhielte sie nie ein vollständiges Bild. Auf einmal wusste sie, was sie zu tun hatte, bevor sie endgültig entschied, auf Shavick Castle unter Werwölfen zu leben. Sie wollte beide Seiten hören. In jedem Gerichtsverfahren, in jeder Parlamentsdebatte wurden alle Seiten vorgetragen, dann musste sie doch auch das Recht dazu haben. Sie würde mit dem Werwolfjäger Kontakt aufnehmen, ihn treffen und seine Seite hören. Danach würde sie eine Entscheidung treffen. Das war fair, das war vernünftig.
Sie hatte nur den Verdacht, Rhodry würde ihren Plan nicht gutheißen, deshalb würde sie ihm nichts davon sagen. Sie war keine Gefangene auf Shavick Castle. Sie hatte das Recht, ins Dorf zu gehen und sich umzusehen. Das wollte sie morgen machen.