Kapitel 8
Der Verkehr in Edinburgh war so dicht, dass Nola sich an London erinnert fühlte, als sie zum zweiten Mal einen Kreisverkehr durchfuhr, um die richtige Ausfahrt zu finden. Sie hatte von der Autovermietung, bei der sie sich nach ihrer Ankunft einen Wagen gemietet hatte, einen Stadtplan bekommen und sich den Weg vorher angeschaut. Es hatte einfach ausgesehen, aber sie war sich sicher, bereits jetzt in die Irre gefahren zu sein. Schließlich fand sie aber doch die richtige Ausfahrt, ließ das Zentrum Edinburghs hinter sich und durchquerte die Vorstädte. Hinter Stirling ließ der Verkehr merklich nach. Nola verließ die großen Straßen und schlängelte sich auf kleineren nach Norden. Die Strecke wurde immer schmaler und kurvenreicher, je weiter sie in die Highlands hineinkam. Doch mit jeder Meile, die sie zwischen sich und die Tworeks brachte, fühlte sie sich befreiter. Sie öffnete das Schiebedach und die beiden vorderen Fenster, löste ihre Zopfspange und ließ sich den Wind durch die Haare wehen.
Sie kam durch Dörfer, die kaum einhundert Einwohner zählen mochten, dafür aber mindestens die zehnfache Menge Schafe beherbergten. Alte Männer und Frauen saßen vor den Häusern und genossen die Sonne, Hunde dösten zu ihren Füßen. Es war alles so ruhig und friedlich, dass sie sich fragte, ob sie sich noch auf dem gleichen Planeten befand, auf dem auch London lag.
Der kleine Fiat rollte in ein Tal hinunter und quälte sich auf der anderen Seite den Berg wieder hoch. Oben befand sich ein Aussichtspunkt mit einem Parkplatz. Dort brachte Nola den Wagen zum Stehen. Sie stieg aus und sah sich um. Überall Hügel, Täler und Hochmoore, grün und felsig, niedrige Sträucher und dazwischen immer wieder schmutzig-weiße Punkte: Schafe. Sie reckte sich und atmete tief ein. Die Luft roch anders als in Südengland, jede einzelne Komponente trat stärker hervor. Der Geruch nach Sommer, Wind, Heidekraut. Sie streckte die Arme aus, als wollte sie die Hügel vor sich umarmen. Auf der Straße hinter ihr fuhr ein Auto vorbei, doch sie war viel zu versunken in die Landschaft, um sich Gedanken darüber zu machen, was der Fahrer von ihrem seltsamen Gebaren halten mochte. Der Wind spielte mit ihrem Haar. Die Hektik der Großstadt fiel von ihr ab, und sie dachte, wie schön es wäre, auf dem Land zu wohnen, eigenes Gemüse zu ziehen und duftende Kräutertöpfe vor dem Küchenfenster zu haben. Und am ersten Regentag, wenn sich die
Wege in Schlamm verwandelten, würde sie sich Londons Lichter zurückwünschen, die sich auf dem nassen Pflaster spiegelten?!
Nola stieg wieder in den Fiat und zog die Straßenkarte zu Rate. Shavick Castle war nicht eingezeichnet, sie hatte aber ein Kreuz an der Stelle gemacht, wo es liegen musste. Eine Straße führte nicht dorthin, nicht einmal ein Weg war verzeichnet. Sie würde nicht näher rankommen als bis zum Dorf Five o Firth — hoffentlich gab es dort ein Bed & Breakfast!
Was sie auf der Karte für ein Dorf gehalten hatte, war ein einzelner Hof ohne Bed & Breakfast. Sie fuhr zurück in den nächsten Ort und mietete ein Zimmer bei einer Ms. Burden, die ihren jungen Gast viel zu dünn fand und Nola außer einem Zimmer mit Frühstück auch gleich ein Dinner für den Abend anbot. Nola hatte eigentlich im Pub des Dorfs zu Abend essen wollen, war jetzt aber froh, nicht mehr aus dem Haus zu müssen. Die Zugfahrt und die lange Autofahrt hatten sie erschöpft.
Ms. Burden hatte den Tisch gedeckt, als Nola nach einem kurzen Schläfchen herunterkam. Das Dinner begann mit einer Nudelsuppe, gefolgt von einer Lammpastete. Wacker langte Nola zu. Die Pastete war köstlich.
Ms. Burden hatte sich zu ihrem Gast gesetzt, aß selbst jedoch nichts. Ihre Finger strichen nervös über die Tischdecke.
»Schmeckt sehr gut«, bestätigte Nola, und ihr Lob zauberte ein Lächeln auf das Gesicht ihrer Gastgeberin.
»Was hat Sie in diese Gegend verschlagen, Kindchen? Es kommen nicht viele junge Frauen allein her.«
»Ich will Shavick Castle besuchen. Leider konnte ich keine Karte finden, auf der es verzeichnet ist. Können Sie mir den Weg beschreiben?«
Ms. Burden nickte. »Nicht viele kommen aus dem Süden, um Shavick Castle zu sehen. Sie können nicht mit dem Wagen hinfahren, sondern müssen das letzte Stück zu Fuß gehen. Das Auto lassen Sie am besten neben dem Hof der Montereys stehen. Die Straße hört da auf.«
Nola nickte und schob sich eine weitere Gabel Lammpastete in den Mund, obwohl sie bereits zum Platzen satt war.
Ms. Burden beschrieb ihr den Weg, den sie zu Fuß bis zur Burg nehmen musste. »Es war nicht immer so, dass die Straße beim Hof der Montereys aufhörte. Meine Großmutter hat von Zeiten erzählt, als der Earl noch auf der Burg wohnte, damals gab es den Hof der Montereys gar nicht.« »Wann war das?«
»Es ist mehr als fünfzig Jahre her, dass meine Großmutter mir das erzählt hat. Den Earl soll man zuletzt Anfang des 19. Jahrhunderts gesehen haben. Damals ist was Merkwürdiges auf der Burg passiert: Eben war noch Leben dort — und plötzlich nichts mehr, von einer Stunde auf die andere. Es muss eine stürmische Winternacht gewesen sein. Der Earl verschwand und alle anderen mit ihm. Bald darauf kamen die Montereys und bauten den Hof auf.«
»Was wurde aus der Burg?« Nola legte die Gabel hin. Ms. Burden verstand den Wink und räumte ab. Anschließend brachte sie eine Schüssel Eis mit Kompott.
»Was wurde nun aus Shavick Castle?«, wiederholte Nola ihre Frage.
»Oh, ja — es steht leer. Der Earl hatte keine Frau, keine Kinder, keinen Erben. Die Burg verfällt seitdem.«
»Hat niemand versucht, sie zu kaufen? Irgendwem muss sie doch gehört haben nach dem Verschwinden des letzten Earls.« Nola dachte an neureiche Londoner, die sich gern im fernen Schottland mit Landsitzen schmückten.
»Ich weiß nicht. Die Leute sagen, es gehe dort nicht mit rechten Dingen zu.« Ms. Burden senkte die Stimme. »Nachts sind Fackeln im Schloss zu sehen, obwohl dort niemand wohnt, und man hört die Stimme einer Frau übers Moor heulen. Es soll die heimliche Geliebte des Earls sein, die in ihrem unbekannten Grab keine Ruhe finden kann.«
Nola kam es vor, als sei es im Zimmer dunkler geworden und als rüttele der Wind an den Fenstern, während in ihrer Kompottschale das Eis schmolz.
»Die Leute behaupten das«, fügte Ms. Burden beruhigend hinzu. »Ich selbst habe nie etwas gesehen oder gehört. Es wird der Wind sein, der über das Moor heult und sich anhört wie die Schreie einer Frau.«
»Oder es ist ein Werwolf«, unterbrach Nola die alte Dame. Eine einsame Ruine wie Shavick Castle wäre der richtige Ort für so ein Untier.
»In Schottland gibt es längst keine Wölfe mehr, Kindchen. Davor brauchen Sie keine Furcht zu haben. Und Werwölfe sind Ammenmärchen. Ich glaube jedenfalls nicht an sie, genauso wenig wie an unheimliche Fackeln nachts auf Shavick Castle.«
Später saß Nola im Bett, den Rücken an das Kopfteil gelehnt. Sie hatte das Gefühl, nicht in ihr Zimmer gegangen, sondern gerollt zu sein. Bestimmt hatte sie mindestens fünf Kilo zugenommen, aber lange nicht mehr so gut gegessen. Auf ihren Oberschenkeln lag ein Reiseführer über Schottland, in dem es nur eine kurze Notiz über Shavick Castle gab: Die Ruine sei seit zweihundert Jahren unbewohnt, und ein Ausflug lohne nicht. Kein Bild, kein Hinweis auf das Schicksal des Grafengeschlechts. Was erwartete sie morgen?
Es konnte nicht stimmen, dass eine Ruine niemandem gehörte, selbst wenn der letzte Earl keinen Erben gehabt hatte. Jeder Fußbreit Land auf den Britischen Inseln gehörte jemandem, und wenn es die Queen oder der National Trust waren.
Es war halb elf Uhr nachts und dunkel. Vielleicht ging gerade in diesem Moment jemand mit einer Fackel in der Burg herum? Eine Gänsehaut überlief Nola bei dem Gedanken, mitten in der Nacht allein, nur mit einer Fackel als Lichtquelle, in der Burgruine zu sein. Es wäre wie im 19. Jahrhundert, als der letzte Earl verschwunden war.
Sie sah von dem Reiseführer auf und zuckte zusammen: Rhodry stand in der Tür. Sehr bleich, das Haar im Nacken zusammengebunden und wie immer in einem schwarzen Anzug. Er sah sie an.
Nola wollte ihm zulächeln, aber ihr Gesicht war wie gelähmt. Seine Miene war ebenfalls unbewegt, seine Augen sahen traurig aus. Wortlos drehte er sich um und verschwand, und das Letzte, was sie von ihm in Erinnerung behielt, waren diese traurigen Augen. Hatte sie ihn enttäuscht, weil sie sich mit den Tworeks eingelassen hatte, oder weil sie nicht schnell genug gekommen war?
»Warte auf mich, Rhodry!«, sagte sie leise. »Ich komme morgen nach Shavick Castle.« Sie betrachtete die Kratzer an ihrem Oberarm, zog den Ausschnitt des Nachthemds herunter, inspizierte den auf ihrer Brust. Bald wären sie verheilt, dann bliebe nichts von ihm zurück. Fast wünschte Nola, einer der Kratzer würde eine Narbe bilden, damit sie eine bleibende Erinnerung an ihr Abenteuer mit ihrem Traummann hatte.
Mit der Zeit wurde der Rucksack schwer, obwohl nur eine Flasche Wasser, eine Regenjacke, eine Taschenlampe und eine Packung Kekse darin waren. Die Karte hielt Nola in der Hand. Ms. Burden hatte sie ihr gegeben, bevor Nola heute Morgen aufgebrochen war;
es war eine Wanderkarte, auf der Shavick Castle neben Lake Shavick eingezeichnet war. Dorthin führte nur ein Trampelpfad. Den Fiat hatte sie, wie von Ms. Burden geraten, beim Hof der Montereys abgestellt. Kein Leben hatte sich geregt, nicht einmal ein Hund hatte gebellt oder ein Huhn auf dem Hof gepickt. Nola hatte einen Augenblick durchs Tor geschaut, dann war sie losgewandert.
Auf der Karte hatte die Strecke nicht weit ausgesehen, mittlerweile kam es ihr allerdings vor, als seien mehrere Stunden vergangen. Tatsächlich waren es etwa zwei, doch von Shavick Castle war noch immer nichts zu sehen.
Der linke Wanderschuh scheuerte an Nolas Ferse. Sie hätte besser nicht in fremden Schuhen loslaufen sollen. Noch konnte sie die Zähne zusammenbeißen, aber der Schmerz quälte sie. Sie entschied sich dennoch dagegen, den Schuh auszuziehen und den Fuß zu untersuchen; die Gefahr war zu groß, dass sie dann jeden weiteren Schritt scheuen würde. Und das wäre ziemlich blöd, schließlich stand sie mitten im Nirgendwo.
»Meine Flucht nach Schottland war eine Schnapsidee«, dachte sie. »Vor den Tworeks hätte mich auch ein Last-Minute-Flug in die Türkei retten können. Dort könnte ich wenigstens am Strand liegen und eisgekühlte Cocktails schlürfen, anstatt durchs Hochland zu humpeln.« Innerlich fluchend zog sie zum wiederholten Male die Karte zu Rate. Hinter dem nächsten Hügel müsste die Burg sein — und länger würde ihre Ferse auch nicht durchhalten.
Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn und holte entschlossen Luft. Nichts in ihrem Londoner Leben hatte sie auf die Highlands vorbereitet. Wenn sie ehrlich war, war ihr die weite menschenleere Landschaft heute geradezu unheimlich. Im Auto mit vierzig Meilen pro Stunde hindurchzufahren und von eigenen Kräutern auf dem Fensterbrett zu träumen, war etwas ganz anderes, als mutterseelenallein unter dem weiten Himmel zu stehen. Und heute schien die Sonne, wie würde es erst an einem wolkenverhangenen Tag oder im Winter sein?
Schweißperlen liefen ihren Rücken hinunter und ihre Ferse pochte, als sie die Kuppe erreichte. Auf der anderen Seite lagen der See und die Burg. Erleichtert ließ sie sich ins Gras fallen und starrte minutenlang auf die Ruine, froh, endlich angekommen zu sein. Sie holte die Wasserflasche aus dem Rucksack und trank in langen Zügen. Danach begann sie den Abstieg. Der Schmerz in ihrem Fuß war auf einmal erträglicher.
Shavick Castle sah genauso aus wie auf dem Bild in ihrem Buch. Die Burg lag auf einem Hügel, eine Brücke und eine ehemals gepflasterte Straße führten dorthin. Alles war aus dem grauen Feldstein der Highlands errichtet. Das Haupthaus und der Turm waren noch einigermaßen erhalten, die Nebengebäude verfallen. Torflügel waren keine mehr vorhanden, stattdessen verkündete ein Schild: Privatbesitz! Betreten verboten!
Nola zögerte nur kurz, bevor sie hineinging.
Eugene hatte sie entdeckt, als sie durch das Tor in seinen Hof geschaut hatte. Er hatte hinter dem Scheunentor gestanden und sie beobachtet. Als sie anschließend auf dem Trampelpfad Richtung Shavick Castle ging, folgte Eugene ihr und wählte den Weg über das Moor. Der Wind trug ihren Geruch herüber: Schweiß, Aufregung, Anstrengung. Er sah sie über die Hügel wandern und immer wieder eine Karte studieren. Sonst schaute sie stur nach vorn, hatte für die Landschaft keinen Blick. Eugene musste sich keine Mühe geben, um sich zu verbergen. Selbst wenn sie ihn entdeckt hätte, wäre er in ihren Augen nichts anderes als ein einheimischer Bauer, der nach seinen Schafen sah.
Erstaunlich, dass Eleonore McDullen hier aufgetaucht war, nachdem er sie in London keinen Schritt ohne die Derenskis an ihrer Seite hatte tun sehen. Etwas ging vor, und er musste herausfinden, was. Das Rudel war auf der Monterey-Farm versammelt und bereit, den Krakauern entgegenzutreten, sobald sie sich auch nur eine Nasenspitze weit nach Schottland hineinwagten. Eugene fragte sich, ob die Frau eine Vorbotin war, und beobachtete, dass das »Betreten verboten«-Schild, das er vor der Burg aufgestellt hatte, sie nur kurz aufhielt. Dann betrat sie den Hof und verschwand aus seinem Sichtfeld. Er rannte lautlos den Hügel hinunter, spähte um den Torpfeiler und sah sie über den Hof gehen.
Das Gefühl, ein Alphaweibchen vor sich zu haben, bemächtigte sich seiner. Prüfend sog er die Luft ein. Sie war aufgeregt, während sie sich umschaute, als suche sie etwas. Sie ging auf das Haupthaus zu, versuchte, durch eine Ritze an einem der vernagelten Fenster zu schauen, gab es schließlich auf und rüttelte an der Eingangstür.
»Schlange«, murmelte Eugene. Sie hatte kein Recht, ins Haus zu gehen, nicht einmal daran denken sollte sie.
Jetzt ging sie um das Haus herum, verschwand um eine Ecke und geriet erneut aus seinem Blickfeld. Drei, vier Sprünge brachten ihn über den Hof und zur Hausecke. Die Frau stand inzwischen an der
Seitentür, die Eugene immer benutzte, um ins Haus und zu Rhodry zu gelangen. Die Tür hatte im oberen Bereich eine Scheibe, und sie spähte hindurch, versuchte, etwas zu erkennen. Vergeblich, denn innen hing eine schwarze Gardine. Moira hatte sie angebracht, damit genau das nicht passierte.
Eleonore McDullen probierte die Klinke aus, und die Tür ging auf.
»Scheiße«, knurrte Eugene. Er musste vergessen haben, abzuschließen, als er das letzte Mal bei seinem Freund gewesen war. Er ballte die Rechte zur Faust und schlug sie gegen die Mauer.
Die junge Frau verschwand im Haus, und seiner Kehle entfuhr ein Knurren. Er wollte hinstürzen und sie herauszerren, sie davonjagen. Stattdessen folgte er ihr lautlos.
Sie hatte bereits die Küche, die Geschirrkammer und den hinteren Flur durchquert. Gerade öffnete sie die Tür, die in die Haupthalle führte. Wenn sie was anfasste oder einsteckte, würde er sie rauswerfen. Und wenn sie sich vor ihm so erschreckte, dass sie einen Herzanfall bekam, um so besser.
Sie ging durch die dunkle Halle. Eugene störte die Finsternis nicht, er sah im Hellen und im Dunklen gleich gut, aber die Frau tastete sich in den Raum hinein. Sie nahm ihren Rucksack ab und kramte darin herum, dann schaltete sie eine Taschenlampe ein. Der Strahl huschte über die Wände. Eugene duckte sich unter die Treppe.
Eleonore McDullen ging zuerst in den rechten Flügel des Hauses. Von der Halle gelangte sie in den Salon, in dem Morgenbesucher empfangen wurden. Oder besser gesagt: empfangen werden sollten, denn Eugene konnte sich nicht erinnern, wann Rhodry jemals Morgenbesucher empfangen hatte. Der Salon war genauso dunkel wie die Halle, der Strahl einer Taschenlampe reichte bei Weitem nicht aus, ihn zu erleuchten. Er huschte hin und her und blieb schließlich an einem Bild hängen: Es war ein großes Porträt von Rhodry aus dem 18. Jahrhundert und zeigte den Führer des Schottlandclans in schwarzen Kniehosen, einer schwarzen Jacke mit breiten Aufschlägen und goldfarbenen Knöpfen. Das Haar hatte er gepudert, als wollte er auf einen Ball gehen. In der Rechten hielt er ein Buch, und zu seinen Füßen spielten zwei Spaniel.
Eugene erinnerte sich, dass es Diskussionen um das Buch gegeben hatte. Der Künstler hatte Rhodry die Bibel in die Hand drücken wollen, denn er kannte sein wahres Wesen nicht. Doch der Werwolf hatte sich strikt geweigert, sich mit dem aus Werwolfsicht unheiligen Buch der Christen malen zu lassen.
Schließlich hatten sie sich auf Ciceros »De re publica« geeinigt. Die Spaniel hatte es in Wirklichkeit auch nicht gegeben; kein Hund spielte friedlich zu Füßen eines Werwolfs.
Nola McDullen trat dicht an das Bild heran.
»Nicht anfassen«, mahnte Eugene in Gedanken.
Der Strahl der Taschenlampe verharrte auf Rhodrys Gesicht. Sie studierte es.
»Rhodry«, murmelte sie. »Was willst du von mir?«
Eugene mit seinem scharfen Gehör verstand die Worte genau. Sie wusste von Rhodry. Was hatte sie mit ihm zu schaffen? Nur die Mitglieder des Schottlandclans und die Krakauer kannten sein Schicksal.
Sie hob eine Hand.
»Nicht anfassen!«, knurrte er leise.
Sie zog den Arm zurück und sah sich um. Hatte sie ihn gehört? Er drückte sich an den Türrahmen, verschmolz mit der Dunkelheit. Wieder näherte sich ihre Hand dem Bild. Eugene wagte kaum, zu atmen. Wenn sie es anfasste, wäre das ihr Ende. Angespannt beobachtete er, wie sie mit der Fingerspitze über den goldenen Rahmen strich … und dann die Leinwand berührte.
Er warf sich mit einem Satz auf sie — und landete auf dem Boden, dort, wo sie gestanden hatte. Er stieß sich die Schulter und stieß ein kurzes Jaulen aus — vor Überraschung, nicht aus Schmerz. Sie war weg. Eben hatte sie noch vor dem Bild gestanden und jetzt . Sie war nicht mehr im Raum, aber in der Luft hing ihr Geruch!
Er suchte sie im gesamten Haus. Vergebens. Außer in der Halle, in der Küche und im Besuchersalon nahm er auch nirgendwo ihren Geruch wahr.
Rätsel in der Finsternis.
Er dehnte die Suche auf den Hof aus — keine Spur von ihr. Als hätte sie sich in Luft aufgelöst. Aber niemand löste sich in Luft auf, nicht einmal Werwölfe beherrschten diesen Trick. Eugene fluchte laut. Wenn er sie nicht fand … Er war verantwortlich für Shavick Castle. Er hetzte zum Tor hinaus, umrundete die Burg. Doch die Frau blieb verschwunden.
Eleonore McDullen, Rhodry, die Derenskis - alles hing irgendwie zusammen, nur gelang es Eugene nicht, die Puzzleteile an die richtige Stelle zu setzen. Vor allen Dingen musste er sich vergewissern, dass bei Rhodry alles in Ordnung war, dann musste er die junge Lady finden. Sie war der Schlüssel zu allem. Er ging zurück zur Burg und in den Keller. Die Tür war auf die übliche Weise verriegelt.
Er atmete auf. Hier konnte sie nicht sein. Vorsichtshalber öffnete er die Riegel und ging hinunter. Der Sarkophag stand an seinem Platz, der Deckel war geschlossen. Alles war, wie er es beim letzten Besuch zurückgelassen hatte, wie es sein sollte.
Das Rätsel um die verschwundene Eleonore McDullen blieb jedoch bestehen.