Kapitel 3
Nola strich über das rosa Papier der »Financial Times«, stapelte die Bögen ordentlich aufeinander, faltete die Zeitung zusammen und legte sie zurück zu den anderen drei Exemplaren, die in der Hotelhalle für Gäste auslagen. Dieses war das Einzige, das heute jemand aufgeschlagen hatte. Anders sah das bei der »Times« aus oder bei »Daily 16«; die waren wesentlich zerlesener.
Sie schaute auf die Uhr. Kurz nach Mitternacht; ihr Nachtdienst dauerte noch bis sechs Uhr morgens. Sie warf die »Times« in den Papierkorb und breitete »Daily 16« vor sich aus. Auf der Suche nach einem Artikel, den Violet geschrieben hatte, überflog sie die Überschriften und die Autoren und wurde auf der London-Seite fündig. Neben einem dreispaltigen Artikel über einen 14-Jährigen, der die Katze seiner Schwester gekreuzigt hatte, las sie: »»Verletzungen aus dem Nichts< von Violet Hill«.
Der Artikel handelte von einer jungen Hotelangestellten, die morgens mit Kratzern am ganzen Körper aufgewacht war. Sie und ihre Ärztin waren ratlos, Spuren gewaltsamen Eindringens in das Haus im Südwesten Londons lagen nicht vor. Der Text endete mit der Frage, wer oder was in London sein Unwesen trieb. Nola war einen Moment wie gelähmt. Violet hatte kaum Details verändert — der Text handelte viel zu eindeutig von Nola! Sie fühlte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss und gleich darauf wieder nach unten sackte. Das war … sie musste …
Sie eilte in den Umkleideraum der Damen. Dort fischte ihr Mobiltelefon aus der Handtasche in ihrem Spind und wählte Violets Nummer. Es klingelte bestimmt ein Dutzend Mal, bevor der Anruf angenommen wurde, doch Violet klang ganz und gar nicht, als hätte Nola sie aus dem Bett geholt. Im Hintergrund waren Gelächter, Musik und Gläserklirren zu hören.
»Ah, Süße, du bist es«, begrüßte Violet sie. »Ich bin gerade mit einer lustigen Truppe in Soho, im >Fox in the Night<. Willst du nicht auch herkommen?«
Kein Funken schlechten Gewissens klang in den Worten ihrer Freundin mit.
»Du hast mir was versprochen!«, fauchte Nola.
»Ich verstehe dich nicht, es ist so laut hier.« Violet kicherte und sagte etwas zu jemand anderem, dann war sie wieder am Apparat. »Komm her oder rufe mich morgen an!«
»Ich muss dich aber jetzt sprechen!« »Wo brennt es denn? Warte!«
Die Geräusche im Hintergrund wurden leiser und endeten, als Nola eine Tür zuschlagen hörte.
»Ich bin jetzt auf dem Damenklo. Was ist los, Süße?«
»Du hast es mir versprochen! Und diesmal geht es nicht um ein rosa Plüschherz, und wir sind auch keine Teenager mehr.«
»Ich verstehe immer rosa Plüschherz.«
Nola hatte das Gefühl, ihre Freundin nahm sie nicht ernst. Am liebsten hätte sie das Telefon gegen die Wand gepfeffert, so wütend war sie. »Du hast mir versprochen, mich in deinen Artikel zu verfremden. Ich habe heute deine Zeitung gelesen.«
Nola hörte die Freundin scharf einatmen, der Groschen war endlich gefallen.
»Niemand kann dich identifizieren anhand des Artikels. Nicht einmal deine Eltern.«
»Ich habe mich erkannt und meine Ärztin wird mich auch erkennen. Du hast unsere Freundschaft für dein Schmierenblatt missbraucht.«
Nola fühlte sich schon ein wenig besser, nachdem sie etwas Dampf abgelassen hatte.
»Ich musste. Wir brauchten noch einen kleinen Artikel für die London-Seite, und mein Chef hat mich dazu verdonnert, ihn zu schreiben. Ich hatte nichts anderes. Nola, bitte versteh das! Und mein Chef fand den Artikel sogar richtig gut, gerade mit dieser Frage nach dem Unheimlichen am Ende. Stell dir mal vor, es ist ein Vampir!«
»Vampire beißen ihre Opfer und kratzen sie nicht. Außerdem gibt es keine Vampire.«
Sie schwiegen eine Weile, dann fragte Violet kleinlaut: »Nola — und was nun?«
Ja, was nun? Sie wusste es nicht. Vi war ihre älteste und beste Freundin, und nachdem sie ihren Fehler zugegeben hatte, war Nolas Wut halb verraucht.
»Ich weiß nicht.«
»Aber die Party am Freitag, du kommst doch mit?«
»Vi, ich weiß nicht. Eigentlich lieber nicht.«
»Du musst. Es wird super, ich verspreche es dir! Sexy Männer, die sich alle Finger nach dir lecken werden. Du kannst nicht Nein sagen.«
Das konnte sie wirklich nicht, ohne wie eine Langweilerin zu klingen, obwohl sie keine Lust auf Gedränge, dröhnende Musik und viel zu viele Leute hatte. »Na gut, ich komme.« »Ich freu mich, Nola”, rief Violet begeistert. »Und ich schreibe nie wieder über dich. Heiliges Journalistenehrenwort.«
Skeptisch, dass Violet dieses Versprechen hielt, legte Nola auf.
Die Partygäste, die sich zahlreich in dem Loft in den Londoner Docks eingefunden hatten, waren allesamt extrem hip. Violet trug das neue, grüne Kleid und Nola ein kleines Schwarzes mit einer Fransenborte am Saum, die an die Zwanzigerjahre erinnerte; als farbiges Accessoire hatte sie sich für einen roten Seidenschal, ebenfalls mit Fransen, entschieden.
Nachdem Violet Nola ein paar Freunden vorgestellt hatte — hauptsächlich jungen Männern — und war sie in der Menge verschwunden. Doch Nola blieb nicht lange allein.
»Hallo, willst du tanzen?« Einer der Männer, mit denen Violet sie bekannt gemacht hatte, stand vor ihr. Sein Haar hatte er mit Gel in Form gebracht und die Krawatte gelockert. Er sah wie ein Cityboy aus.
Sie hob ihr beinahe noch volles Glas Prosecco. »Später.«
Als wüsste er, dass sie sich nicht an seinen Namen erinnern konnte, sagte er: »Ich heiße Greg.«
»Nola.«
Er erzählte, dass er als Investmentbanker bei Barclays arbeitete. Cityboy — sie hatte richtig vermutet. Er hörte sich an, als läge die Verantwortung für die Barclays Bank allein bei ihm, und redete ohne Punkt und Komma darüber, was alles Heißes auf den Finanzmärkten der Welt abging, und wie er in diesem Business mitmischte. Nola schaute sich nach Violet um, konnte sie in der Menschenmenge aber nicht ausmachen.
»Wenn du mal einen Tipp brauchst zum Geldanlegen, kannst du mich fragen. Aus Immobilien habe ich mich allerdings immer rausgehalten, das rate ich dir auch. Bringt nur langfristig was und ist eher was für die Spießer vom Land. Was du brauchst sind Aktien; Ökologie, China, Korea, das ist heiß. Heute ganz oben und morgen noch höher, du bist ganz nah dran.«
»Ich habe kein Geld zum Anlegen.«
Ob ihm beim Betrachten der Aktienkurse einer abging?
»Auch mit kleinen Summen lässt sich was machen. So ab fünftausend Pfund bist du dabei, und im Nu habe ich daraus zehntausend gemacht. Ruf mich an, wann immer du willst.« Er hielt ihr seine Visitenkarte hin.
Sie ließ sie in ihrer Handtasche verschwinden, ohne einen Blick darauf zu werfen. Greg redete weiter von globalen Strategien,
Fonds und Aktien und gebrauchte ein Fremdwort nach dem anderen. Nola verlor den Faden und hörte ihm nur mit halbem Ohr zu, stattdessen überlegte sie, wie sie ihm entkommen könnte.
Auf einmal sah sie jemanden, der nicht zu dieser Partygesellschaft passte. Er hatte ein blasses, aristokratisches Gesicht, halblanges dunkles Haar, das zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden war, und trug ein überlanges Jackett mit breiten Revers und goldenen Knöpfen — das ist er, dachte sie. Um ihn herum wogten die Gespräche, doch der Mann schaute sie an, als gäbe es nur sie beide im Raum.
»Was hast du?« Sogar der Cityboy hatte ihre Veränderung bemerkt.
»Da … da ist … ist ein Bekannter. Ich will ihn begrüßen.«
Sie schlüpfte an Greg vorbei, schon ein im Weg stehendes Pärchen zur Seite und rempelte anschließend einen Mann an, der gerade sein Bierglas zum Mund führen wollte. Der Gerstensaft ergoss sich über sein T-Shirt.
»He, kannst du nicht aufpassen! Schweinerei!«
Nola reagierte nicht, sondern ging einfach weiter.
»Hallo. Endlich treffen wir uns«, sagte sie, als sie den Mann aus ihren Träumen endlich erreicht hatte, aber da war nur noch Luft. Er war so plötzlich verschwunden, wie er aufgetaucht war; nur sein Geruch nach Kühle und frischer Luft hing im Raum. Nola schaute sich verwirrt um. Er war da gewesen, hatte genauso fest und stofflich ausgesehen wie alle anderen, und nicht ätherisch wie in ihren Träumen. Diesmal hatte sie sogar sein Gesicht deutlich gesehen.
»Was suchst du denn, Schätzchen?«, fragte ein Kerl, den sie nicht kannte.
»Einen Mann.«
»Darf ich mich anbieten?«
Das war zu viel. Fluchtartig verließ sie das Loft. Sie stützte sich an der Wand ab, als sie die Treppe hinunterrannte. Auf ihren hochhackigen Sandalen knickte sie um, verlor die rechte.
»Nola, warte!«
Das war Violet, die ihr folgte, doch in ihrem engen, grünen Kleid konnte sie nur langsam gehen. Sie hob die Sandale auf, die Nola verloren hatte.
»Warte doch, Nola! Was soll das?«
Nola reagierte nicht und hielt erst an, als sie die Straße erreicht hatte. Sie lehnte sich an die Hauswand und keuchte, als hätte sie einen Zehn-Meilen-Lauf hinter sich. Violet holte sie ein.
»Den hast du verloren, Cinderella.« Sie hielt ihr die Sandale hin.
»Danke.« Nola zog den Schuh an. Immer noch sah sie den Mann aus ihrem Traum vor sich.
»Sag mir, was da oben los war!«
»Ich habe ihn gesehen.« Nola hatte weiche Knie. »Der Mann aus meinen Träumen war auf der Party. Er stand auf einmal da und hat mich angesehen, aber als ich zu ihm gehen wollte, ist er verschwunden. Ich komme mir so blöd vor.«
»Es gibt ihn wirklich?«
»Das, oder ich habe es mir eingebildet. Oh Vi, ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll. Ich habe doch keine Halluzinationen! Er war real! Ich habe sein Gesicht gesehen, sehr männlich und sehr geheimnisvoll.«
»Wie hast du ihn erkannt? Hat er was gemacht?«
»Er hat mich angesehen und passte nicht zum Rest der Leute. Es ist verrückt, aber ich habe das Gefühl, dass er mir näherkommt, im Traum und im Leben. Wir sind wie Yin und Yang.«
»Das passt nicht zu dir. Du bist viel zu sehr in der Realität verwurzelt, als dass dich ein Traummann aus der Bahn werfen könnte. Na ja, jedenfalls einer aus deinen Träumen.« Violet kicherte über ihr Wortspiel. »Denk nicht darüber nach, und komm wieder mit rauf. Wir sind hier, um uns zu amüsieren.«
Nola hob abwehrend die Hände. »Solche Partys sind nicht mein Ding. Ich gehe nach Hause.«
Mit Küsschen auf die Wangen verabschiedeten sich die Freundinnen voneinander, und Nola ging zur nächsten U-BahnStation, die etliche Häuserblocks entfernt war. Die abgekühlte Nachtluft strich über ihren Körper wie seine sanften Hände. Ihre Einbildung konnte sie nicht so narren. Er war da gewesen, sie hatte sich das nicht eingebildet. Oder doch? Je länger sie darüber nachdachte, desto unsicherer wurde sie. Sollte sie wieder zurückgehen und ihn suchen?
»Ach, Rhodry«, murmelte sie, »warum kannst du nicht einfach kommen, wenn du mich willst?« Sein Name war auf einmal da, sie wusste nicht, woher sie ihn kannte.
»Ich kann nicht«, erklang die Antwort in ihren Gedanken. »Du musst zu mir kommen.«
Später in ihrer Wohnung lag sie wach im Bett. Obwohl sie krampfhaft versuchte einzuschlafen, um von ihm zu träumen, wurde sie immer wacher.
»Es ist eine Schande, wie Shavick Castle verfallt«, dachte Eugene Monterey, als er sich der einst stolzen Burg näherte. Sie lag am Ufer eines Sees und herrschte über das sturmzerzauste Hochland. Vor achtzig, hundert Jahren hatte er noch geglaubt, ihren Verfall aufhalten zu können, doch in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts hatte er den Kampf aufgeben müssen. Bis dahin hatte es Mitglieder der Menschenfamilie gegeben, die durch Bluteid geschworen hatten, Rhodry Monroe, Earl of Shavick, zu dienen.
Gegen den Nachthimmel sah die Silhouette der Burg immer noch eindrucksvoll aus. Eugene sah sie bei Nacht so deutlich wie am Tag. Shavick Castle war aus den Bruchsteinen des Hochlands erbaut, der Wind hatte den Putz bis auf klägliche Reste abgeschliffen.
Eugene ging schneller und hielt den Ausschnitt seiner Wachsjacke am Hals zusammen — eine alte Angewohnheit, die er sich trotz seiner mehrhundertjährigen Existenz als Werwolf nicht abgewöhnt hatte, denn er spürte zwar den Wind auf der Haut, aber er fror nie. Er näherte sich der Burg auf der Rückseite, wo ein Teil der Mauer eingestürzt war, und umrundete sie. Brombeergestrüpp und Farne waren durch die Lücke gewuchert. An der einst unüberwindlichen Mauer hatte der Zahn der Zeit genagt. Das Tor von Shavick Castle sah aus wie ein dunkler Schlund, Torflügel existierten keine mehr. Der Schlosshof dahinter war von Unkraut überwuchert, und zwischen den Pflastersteinen hatten sich Birken angesiedelt; die höchste überragte beinahe die Mauer.
Eugene überquerte den Hof und ging auf das Haupthaus zu. Dessen Tür war noch vorhanden; sie war sogar abgeschlossen, selbst wenn sie einem Einbrecher keinen Widerstand entgegenzusetzen hätte. Der Werwolf kontrollierte das Schloss: Es war unangetastet. Er selbst benutzte den Haupteingang nicht, wenn er ins Haus wollte. Er nahm einen Seiteneingang beim ehemaligen Kräuter-und Gemüsegarten und gelangte von dort direkt in die Küche.
Der Wind pfiff hier drin genauso wie draußen, zwei Fensterscheiben waren kaputt, die Öffnungen notdürftig mit Plastik verhängt, das der ewige Wind bereits wieder zerfetzt hatte. Gut, dass Rhodry das nicht sehen musste — der Zustand des Schlosses würde auch einem Mann, der weniger an einem Haus hing als der Earl of Shavick, die Tränen in die Augen treiben. Eugene fand einfach keine Handwerker, die auf Shavick Castle arbeiten wollten, denn dort gingen unheimliche Dinge vor sich, erzählten die Leute in den umliegenden Dörfern. Niemand kam in die Nähe der Burg — außer manchmal ein paar Touristen, und auch die verschwanden schnell wieder.
Der Werwolf durchquerte die Küche, kam an den Kammern vorbei, die einst Geschirr, Besteck und Tischwäsche enthalten hatten, und erreichte die Eingangshalle. Die nach oben führenden geschwungenen Treppen ließ er unbeachtet, stattdessen wandte er sich einer Eichentür mit stabilen Metallbeschlägen zu. Sie war mit drei Riegeln versehen, und alle waren verschlossen. Eugene holte die Schlüssel aus seiner Jackentasche und öffnete nacheinander die Schlösser. Er war erst in der letzten Nacht hier gewesen, aber er musste sich immer wieder überzeugen, dass alles so war wie in jeder anderen Nacht auch.
Hinter der Tür führte eine Treppe in den Keller, der im Gegensatz zum Rest der Burg peinlich sauber und aufgeräumt war. Die zu erwartende zentimeterdicke Staubschicht fehlte ebenso wie altersschwache Regale oder Gerümpel in den Ecken. Dafür standen an die Wand gelehnt Besen, Kehrschaufel und ein Eimer. Wenn es das Einzige war, was Eugene noch für Rhodry tun konnte: Der Freund sollte nicht in einer schmutzigen Umgebung ruhen.
Die Keller waren verwinkelt und reichten bis zu zwei Stockwerke tief in die Erde; die unteren waren in den blanken Fels geschlagen. Früher einmal mochten sie muffige und feuchte Zellen enthalten haben, doch Rhodry hatte sie in Kammern von etwa vier Meter im Quadrat verwandelt und ein raffiniertes Belüftungssystem eingebaut, das selbst nach all der Zeit noch tadellos funktionierte.
Zielstrebig suchte sich Eugene seinen Weg in die letzte dieser Kammern. Die Tür war verschlossen, diesmal mit nur einem Riegel. Er öffnete das Schloss und betrat den Raum dahinter. Der Werwolf brauchte eigentlich kein Licht, dennoch nahm er aus einem Korb neben der Tür eine Fackel und entzündete sie. Als sie brannte, steckte er sie in einen eisernen Halter an der Wand.
In der Mitte des Raums stand ein schmuckloser Sarkophag aus grauschwarzem Granit, den Deckel sorgfältig eingefasst. An der Wand dahinter hatte Eugene eine steinerne Tafel angebracht mit der Aufschrift: Rhodry Monroe, 1. Earl of Shavick geboren 27. Mai 1401 zu Shavick gebannt 6. Januar 1818 zu Shavick
Er musste nicht lesen, was dort stand, er wusste es auswendig. Die schrecklichen Ereignisse in der stürmischen Januarnacht im Jahr 1818 hatten sich in sein Gedächtnis eingebrannt.
Eugene drückte die Hände vor die Augen, als er vor der Kiste mit Rhodrys Leib stand. Er und die anderen Wölfe des Schottlandclans hatten ihren Alpha damals aus dem Broch hierher gebracht, wo er in Sicherheit war. Sie hatten das rote Kreuz vom Deckel abgewaschen, doch am Zustand des Earls hatte das nichts geändert. Wenn man die Deckplatte beiseiteschob, kam darunter nur seine leblose Hülle zum Vorschein. Dennoch fühlte Eugene den Geist seines Freundes in manchen Nächten, und heute war eine dieser Nächte: Er meinte, Rhodry in der Nähe zu spüren.
Damals hatte Eugene die Führung des Schottlandclans übernommen und ohnmächtig mit ansehen müssen, wie das Rudel seine frühere Größe einbüßte. Viele hatten sich den freien Werwölfen zugewandt, die ihren Hauptsitz in Straßburg hatten und sich die politischen Parteien der Menschen zum Vorbild nahmen. Er hatte jeden ziehen lassen, der das Rudel verlassen wollte. Er wusste, dass viele ihm die Schuld an dem gaben, was passiert war — er gab sie sich selbst. Er hätte viel entschlossener gegen die Krakauer vorgehen sollen.
Er schlug sich die Hände gegen den Kopf. Jeden Tag zermarterte er sich das Hirn. Er war um die halbe Welt gereist und hatte Archive nach uraltem Wissen durchstöbert, sogar das des verhassten Vatikans, aber alle Hoffnung war vergebens gewesen. Er hatte nicht einmal herausgefunden, wie Derenski die Bannung geschafft hatte, geschweige denn, wie er die Sache rückgängig machen konnte.
Er hörte Schritte im Kellergang und spürte jemanden den Raum betreten. Ohne sich umzusehen, wusste er, dass es Moira war. Sie schlang von hinten die Arme um ihn.
»Ich wusste, dass ich dich hier finde. Ich finde dich immer hier.«
»Das ist meine Sache, Moira.« Er befreite sich aus ihrer Umarmung.
»Unsere Sache. Du machst es richtig, das Rudel zu führen. Der Earl hätte es nicht anders gewollt, und außerdem haben dich die anderen gewählt.« Moira sprach von Rhodry nie anders als vom Earl.
»Trotzdem! Er ist nicht tot, ich habe ihn auch nicht besiegt, um die Führung des Rudels zu erringen. Ich habe eigentlich kein Recht, seine Position einzunehmen.« Er dachte an den jungen Wolf, seinen Mittelsmann, der sich auf der Farm von einem Streifschuss mit einer Silberkugel erholte. Die Sharingham-Schwestern, diese verdammten Werwolfjägerinnen, waren dafür verantwortlich. Sie hätten den Boten beinahe am Flussufer gestellt, und wäre nicht der Besitzer einer Schafherde dazwischengekommen, dessen Tiere der Werwolf bei seiner Flucht aufgescheucht hatte, wäre er jetzt wohl tot.
Das war es aber nicht, was Eugene so beschäftigte, sondern die Nachrichten, die der junge Wolf aus Krakau gebracht hatte: Maksym Derenski rüstete sich, den Schottlandclan anzugreifen und endgültig zu vernichten. Er hatte junge Werwölfe in einem Ausbildungslager jenseits des Ural schleifen lassen, um zu vollenden, was er vor zweihundert Jahren begonnen hatte. Die ersten Krakauer sollten angeblich schon in England sein. Moira hatte Eugene noch nichts von der drohenden Gefahr gesagt, dafür aber die Mitglieder des Rudels zusammengerufen und mit Raphael Langdon, dem Führer der Freien in London, Kontakt aufgenommen. Er wäre vorbereitet, sollte Derenski es wirklich wagen; die Freien in London machten bereits Jagd auf das Krakauer Geschmeiß, das sich heimlich auf die Insel geschlichen hatte.
Eugene hatte alles getan, was auch Rhodry getan hätte, dennoch hatte er das Gefühl, es war nicht genug, würde nie genug sein. Ach, Rhodry, Freund. Er legte eine Hand auf den Sarkophag. Wieder hatte er das Gefühl, als sei sein Freund ganz nahe, als wehe sein Geist durch diesen Raum, um mit Eugene Zwiesprache zu halten.
»Du führst das Rudel so gut, wie der Earl es sich nur wünschen kann.« Moira legte wieder die Arme um ihn und schmiegte sich von hinten an. Sie wollte ihm Mut machen und konnte doch seine Zweifel nicht vertreiben. Eugene wollte gerade antworten, als er glaubte, etwas zu hören.
»Still, Weib!« Er packte ihren Arm so fest, dass sie vor Schmerz aufkeuchte und versuchte, sich zu befreien. »Hörst du es nicht? Ein leiser Ruf.«
Moira hielt inne und lauschte, dann schüttelte sie den Kopf. »Ich höre nichts! Wenn das wieder einer von deinen Tricks ist … Wer soll hier denn rufen?«
Er legte ihr die andere Hand auf den Mund. Es war nicht mehr als ein Summen in der Luft, selbst für die feinen Ohren eines Werwolfs beinahe unhörbar — er spürte es mehr, als dass er es hörte. Jemand wehrte sich verzweifelt gegen das Vergessen. Eugene hatte schon mehrmals geglaubt, in den Kellern von Shavick Castle einen Ruf zu vernehmen, doch so deutlich wie heute war es noch nie gewesen. Rhodry! Es konnte niemand anders sein.
»Es ist Rhodry. Er versucht, seinem Gefängnis zu entkommen.«
»Wie soll das gehen? Du hast in zwei Jahrhunderten keinen Weg gefunden, ihn zu befreien.« »Er ist immer noch hier, spürst du das denn nicht?« »Nein.« Sie packte ihn am Arm und zog ihn hinter sich her. Eugene ließ es nach einem letzten Blick auf die verschlossene Kammer geschehen.