Kapitel 10
Nola war in ihre Jeans und die Bluse geschlüpft, die nackten Zehen vergrub sie in dem Schaffell vor ihrer Frisierkommode. An ihrer linken Ferse war
nicht einmal eine Rötung zu entdecken, als hätte sie jemand mit magischen Händen geheilt. Sie trat fest auf - nicht der kleinste Schmerz. Dennoch beäugte sie die Wanderstiefel misstrauisch und ließ sie stehen. Mit langen, gleichmäßigen Strichen bürstete sie ihr Haar. Wenn sie schon in dieses verwirrende Abenteuer gestolpert war und sie nicht wusste, wie ihr geschah, konnte sie wenigstens ordentlich aussehen. Als die Haare wie ein glänzender Vorhang über ihren Nacken fielen, band sie sie mit einem schwarzen Samtband zusammen. Sie studierte die Wirkung im Spiegel, als es an der Tür klopfte.
»Herein!«
Nola drehte sich zu ihrem Besucher. Der Mann, den sie so oft in ihren Träumen gesehen hatte, war nicht tot, er stand leibhaftig vor ihr. Dann war es kein Spuk gewesen, dass er im Sarg die Augen aufgeschlagen und sie geküsst hatte, dass er sich verwandelt hatte und sie in Ohnmacht gefallen war. Sie wich zurück, bis sie mit dem Rücken an den Frisiertisch stieß.
»Ich entschuldige mich, dass ich nicht früher zu dir gekommen bin. Bei Amelia warst du in den besten Händen.«
»Was soll dieses ganze Zeug? Wo bin ich?«
In London hatte sie sich mehr als einmal ausgemalt, was sie zu ihm sagen würde, wenn sie sich endlich begegneten. Nichts davon hatte wie ihre Worte gerade eben geklungen.
»Ich bin dir sehr dankbar, dass du mich aus dieser Schleife außerhalb der Zeit befreit hast. Außer dir hätte das niemand tun können. Wir sind Seelenpartner.«
Nola sah ihn verständnislos an. Was redete er da?
Rhodry stand neben dem Sessel am Kamin, die Hand mit den sorgfältig manikürten Nägeln auf die Lehne gelegt.
»Ich bin Rhodry Monroe, Earl of Shavick, außerdem ein Werwolf und Rudelführer des Schottlandclans. Jeder unserer Rasse strebt danach, seinen Seelenpartner zu finden, mit dem ihn bis in alle Unendlichkeit eine reine, ewige Liebe verbindet. Wir sind füreinander bestimmt, das spürst du genauso wie ich.«
Er formulierte es als Feststellung und nicht als Frage. Nola starrte ihn an. Er war Rhodry Monroe, der Earl of Shavick, sie war auf
Shavick Castle und das Schloss war zumindest innen keine Ruine, an diesen Gedanken klammerte sie sich. »Es gibt keine Werwölfe.«
»Das glauben viele, aber ich weiß es besser, denn ich bin einer.«
»Was willst du von mir?« Sie merkte gar nicht, dass sie ihn ebenfalls vertraulich mit »du« anredete.
»Du wirst mit mir als meine Partnerin auf Shavick Castle leben und das Alphaweibchen des Rudels sein. Ich werde dich vor allen Gefahren beschützen, und alle anderen Werwölfe werden dich als meine Partnerin ehren.«
»Habe ich eine Wahl?«
Er schüttelte den Kopf. »Du gehörst an meine Seite.«
»Wo sind wir?«
»Auf Shavick Castle.«
»Die Burg ist eine Ruine, ich habe es gesehen. Du bist der Herr über einen alten Haufen Steine.« Nola sagte das bewusst abschätzig. »Außerdem hast du tot in einem Sarg gelegen. Wieso stehst du jetzt vor mir?«
»Genau weiß ich nicht, wie alles gekommen ist. Allerdings ist das der beste Beweis, dass wir Seelenpartner sind. Zwischen uns besteht ein Band der gegenseitigen Anziehung, deshalb konntest du durch die Zeit zu mir kommen.«
»Durch die Zeit?« Nola hielt sich mit beiden Händen an der Frisierkommode fest. Wenn er nur nicht so attraktiv wäre. Etwas Wildes ging von ihm aus, weswegen sie sich ihm am liebsten in den Arm werfen wollte … damit er mit ihr das tat, was … wovon sie immer träumte und was sie bei anderen Männern vermisst hatte. Trotzdem musste sie bei klarem Verstand bleiben. »Welchen Tag haben wir heute?«
Er wich ihrer Frage aus. »Zwischen uns besteht ein Band, deshalb konnte ich dich durch die Zeit holen. Glaub mir einfach!«
»Durch die Zeit, so ein Unsinn! Welchen Tag haben wir?«
»Den 23. März 1818, habe ich mir sagen lassen. Mein Freund und Stellvertreter Eugene Monterey ist in solchen Dingen absolut zuverlässig.«
»Na super! Den Ulk kannst du dir sparen«, begehrte sie auf. »Wir haben Juli 2010.«
Er hörte sich nicht an wie jemand aus dem 19. Jahrhundert. Andererseits, was wusste sie schon, wie die Leute damals gesprochen hatten.
»Schau aus dem Fenster. Sieht das nach Sommer aus?«
Der Himmel war bewölkt, nur hier und da stahl sich ein blasser Sonnenstrahl durch die Wolkendecke. Die Natur sah auch nicht nach Sommer aus - nicht einmal nach einem trüben Sommertag. Büsche und Bäume hatten keine Blätter, das Heidekraut war nichts als ein dorniger Teppich. In einer Senke lag ein weißer Fleck, ein Rest Schnee.
»Nicht wirklich«, sagte sie kleinlaut.
»Nola, was muss ich tun, damit du mir glaubst? Soll ich mich noch einmal vor deinen Augen verwandeln? Ich mache es.« Er holte tief Luft.
»Auf keinen Fall.«
»Du traust mir nicht. Ich kann dir auch nicht sagen, warum du hier bist und warum du mich befreien konntest. Ich verstehe es selbst nicht. Auf jeden Fall befinden wir uns im Jahr 1818, und nach Eugenes Aussage war ich etwa mehrere Wochen lang wie tot und bin jetzt wieder aufgewacht. Mir selbst kommt es allerdings so vor, als sei es viel länger gewesen.«
»Leere Behauptungen«, schleuderte sie ihm entgegen. Was er gesagt hatte, wie er es gesagt hatte, wie er ihr Leben verplant hatte — Zorn wallte in ihr auf. »Werwolf, Seelenpartner, das sind nur Hirngespinste oder billige Tricks, um eine Frau rumzukriegen.«
»Das habe ich nicht nötig. Frauen flehen mich an um einen Kuss, und sie bieten mir ihr Leben für eine Nacht.«
Das machte Nola jetzt richtig wütend. »Dann nimm eine von denen.« Sie drehte ihm den Rücken zu, ihre Schultern bebten. Wenn er jetzt ein nettes Wort zu ihr sagte, würde sie anfangen vor Wut zu heulen. Doch er sagte ohnehin nichts. Stattdessen fiel die Tür fiel in Schloss. Rhodry war gegangen.
Nola griff nach einer Porzellandose mit Creme, die auf der Frisierkommode stand, und schmiss sie Rhodry hinterher. Das Gefäß prallte an der Tür ab und zerschellte auf den Dielen, der Geruch nach Maiglöckchen verbreitete sich im Raum. Sie wollte noch mehr werfen und griff nach einem Kamm. Er flog aufs Bett; eine Vase vom Kaminsims zerbarst an der Tür und die Scherben verteilten sich im halben Zimmer.
»Verdammter Bastard! Sargschläfer!«, fauchte sie die geschlossene Zimmertür an. »Ich will nichts mit dir zu tun haben. Seelenpartner, darüber kann ich nur lachen. Deine Seele schmort in der Hölle, und da bist du auch bald.«
Nola holte Luft. Sie merkte, dass ein Großteil ihrer Wut verraucht war, und hockte sich hin, um die Scherben aufzusammeln. Die duftende Creme hatte sich wie ein übergroßer Wassertropfen vor der Tür auf dem Boden verteilt, und bald rochen Nolas Hände intensiv nach Maiglöckchen.
Nachdem sie die Scherben auf die Frisierkommode gelegt hatte, zog sie sich Strümpfe an und ihre Wanderschuhe. Zum Teufel mit dem drückenden Schuhwerk, sie musste hier raus! Also wirklich, das Jahr 1818, Seelenpartner, Werwölfe und Rhodry einer von ihnen. Dass er lebte und nicht nur eine Gestalt aus ihren Träumen war, das war ja schon kaum zu glauben. Sie musste aus dem Haus und frische Luft atmen, das würde ihre Gedanken klären.
Nola verließ das Zimmer, orientierte sich kurz und fand ohne Schwierigkeiten die Treppe, die in die Haupthalle führte. Ein Dienstmädchen bürstete einen Teppich, der dort unten lag, und schaute nicht einmal auf. Nola ging hinunter, und setzte dabei den linken Fuß vorsichtig auf, um die Ferse zu schonen. Sie wollte gerade die Tür öffnen, als auf einmal ein alter Mann neben ihr stand.
»Mylady, nehmen Sie einen Mantel, draußen ist es kalt und trübe.«
Er hielt ihr einen aus grauer Wolle hin, dessen Ränder mit Kaninchenfell verbrämt waren, außerdem einen Muff für die Hände aus demselben Fell. Nola hätte am liebsten beides zurückgewiesen, doch am Ende siegte ihr Verstand über ihren Stolz. Sie ließ sich in den Mantel helfen, verbarg ihre Hände im Muff.
»Danke, Mr. …« Sie schaute ihn fragend an.
»Dalton. Ich bin der Butler auf Shavick Castle.« Er verneigte sich.
Jetzt erkannte sie, dass er die gleichen Augen und die gleiche Stirnpartie hatte wie Amelia. Sie versuchte ein Lächeln. »Ich will ein wenig rausgehen.«
»Sie sollten nicht wie ein Mann gekleidet das Haus verlassen.« Dalton schüttelte mit Blick auf ihre Jeans den Kopf. »Meine Tochter wird Ihnen gerne mit Kleidung aushelfen, bis sich eine bessere Lösung findet. Der Earl wird sich dieses Problems sicher in Kürze annehmen.«
»Der Earl kann mir gestohlen bleiben. Ich trage meine Sachen und sonst keine.« Nola stürmte an ihm vorbei in den Hof.
Schwere Wolken jagten über den Himmel. Der Wind zerrte an ihrem Mantel, und sie vergrub die Hände tiefer im Muff. Shavick Castle kauerte wie ein zum Sprung bereites Tier auf dem Hügel. Die Mauern, die Ställe und Scheunen, die blinden Fenster des Torhauses, alles wirkte einschüchternd und überhaupt nicht wie eine Ruine. Die Burgmauer hatte keine eingestürzte Stelle mehr, die Torflügel waren ganz und hingen fest in den Angeln. In einem gab es eine kleine Pforte, die offen stand, und Nola schlüpfte hindurch. Draußen stieß sie gegen einen Mann. Sie prallte erschrocken zurück. Er war groß, schlank und hatte das braune Haar im Nacken zusammengebunden. Er war ganz in Schwarz gekleidet und hätte eine Kopie von Rhodry sein können.
»Ich entschuldige mich, Mylady.« Er lächelte, und jede Ähnlichkeit mit Rhodry war dahin. Wo der Herr über Shavick Castle auch beim Lächeln noch arrogant wirkte, sah dieser Werwolf freundlich aus. Den Weg gab er dennoch nicht frei.
»Sie sind die junge Lady, die uns unseren Rudelführer zurückgegeben hat.«
Das Lächeln, zu dem Nola hatte ansetzen wollen, gefror auf ihren Zügen. »Ich bin Eleonore McDullen, mehr nicht.«
»Das ist sehr viel. Ich bin Eugene Monterey, mehr nicht.«
Sie hatte den Eindruck, er mache sich über sie lustig. »Erzählen Sie mir nichts über Werwölfe, Seelenpartner und den ganzen Kram. Ich will nichts davon wissen, ich habe genug darüber gehört.«
»Wie Sie wünschen, Mylady. Sie sollten dennoch die Burg nicht allein verlassen. Es ist nicht sicher.«
»Weil es anfangen könnte zu regnen, nachdem aus dem Sommer ein trüber Frühling geworden ist?« Sie trat von einem Fuß auf den anderen, spürte bereits das Ziehen in der Ferse.
»Weil es außerhalb der Burg für eine junge Frau allein nicht sicher ist. Nicht nach dem, was vor einiger Zeit geschehen ist.«
»Was ist passiert?« Gegen ihren Willen war Nolas Neugier erwacht.
»Das hat mit Werwölfen zu tun, von denen Sie nichts wissen wollen. Nur so viel: Shavick Castle wurde im Januar überfallen. Und außerdem sind die Menschen seit dem Clearance Act unruhig.« Als er ihren verständnislosen Blick sah, erklärte er: »Die Leute sollen aus ihren Dörfern im Hochland an die Küste umgesiedelt werden, dort gibt es Arbeit für sie. Die Grundbesitzer wollen das Land nämlich für die Schafzucht an reiche Gutsbesitzer aus dem Süden verpachten. Die meisten Kleinpächter wollen natürlich ihre Heimat nicht verlassen, sodass manche Grundbesitzer zu rabiaten Mitteln greifen: Sie holen englische Dragoner zu Hilfe, die die Leute vertreiben und ihnen die Häuser über dem Kopf anzünden.«
»Und das geschieht auch hier auf Shavick Castle?«
»Nein, hier nicht. Rhodry vertreibt die Menschen nicht aus ihrer Heimat; er stellt es jedem frei, zu gehen oder zu bleiben. Aber überall sonst geschieht es.«
Es wurde immer unglaublicher — als ob die Existenz von Werwölfen nicht bereits unglaublich genug war. Diese Vertreibung hatte im 19. Jahrhundert stattgefunden, so viel wusste Nola von schottischer Geschichte. Aber was hatte das mit ihr zu tun? Außerdem gab es niemanden, der im Jahr 2010 eine Burg überfiel … und selbst im 19. Jahrhundert war die Zeit der Ritter und Raubüberfalle lange vorbei gewesen. Dieser Eugene Monterey war mit einer überreichen Fantasie gesegnet.
Eugene sah offenbar die Zweifel in ihrer Miene, denn er sagte lächelnd: »Sprechen Sie mit Dalton, Amelia und den anderen auf der Burg, wenn Sie mir nicht glauben.«
»Ich muss hier raus aus diesen Mauern.«
»Rhodry wird Sie gerne begleiten, ich lasse ihn holen.«
»Bleiben Sie mir mit dem vom Leib!« Nola rannte an Eugene vorbei, stieß ihn mit der Schulter zur Seite. Mit schnellen Schritten entfernte sie sich von Shavick Castle und sah sich nicht um. Mit Rhodry durch den Park zu schlendern, war das Letzte, was sie wollte. Sie wollte ihn nicht mehr wiedersehen, und am liebsten in ihrem Zimmer bei Ms. Burden aufwachen. Oder noch besser in ihrer Wohnung in London, ohne Geschwätz über Werwölfe und Werwolfjäger. Sie wollte ihr altes, langweiliges Leben zurück!
Auf den kiesbestreuten Wegen des Schlossparks fand Nola ihre Ruhe wieder. Sie hatte die Hände tief im Muff vergraben, ging vorbei an Rosen-und Ligusterhecken sowie an zu Kugeln oder schlanken Säulen geschnittenen Sträuchern. Sie durchquerte ein Geviert von Beeten, die mit wadenhohen Buchsbaumhecken eingefasst waren und in denen dürres Gestrüpp stand, von dem sie nicht wusste, welche Blumen daraus werden sollten. An jeder Seite des Gevierts standen zwei Bänke; doch zum Hinsetzen war es ihr zu kalt.
Sie kuschelte sich tiefer in den Umhang und ging in Richtung See. Je weiter sie sich von der Burg entfernte, desto verwunschener wurde der Garten, die Kieswege wurden zu Trampelpfaden, die stellenweise fast zugewuchert waren von wilden Rosen oder Brombeerhecken. Nola schob sich durch das Gestrüpp, drehte sich dann um und warf einen Blick zurück auf Shavick Castle. Auf dieser Seite gab es nur wenige kleine Fenster, Schießscharten ähnlich. Shavick Castle sah grau und abweisend aus, aber nicht wie eine Ruine, nicht wie im Juli 2010. Nicht so, wie sie es gesehen hatte, als — ja wann eigentlich?
Nola überlegte, wie es möglich sein konnte, dass jetzt erst das Jahr 1818 sein sollte. Das waren beinahe zweihundert Jahre Unterschied. Sie lehnte sich an die raue Rinde eines blattlosen Baums. Das würde bedeuten, sie wäre durch die Zeit gereist. Unmöglich - schon das Wort klang lächerlich. So etwas passierte in Hollywoodfilmen oder Romanen. In der Wirklichkeit gab es das nicht. Sie schaute wieder zur Burg, deren jetziger Zustand ihre Vernunft Lügen strafte: Ihre Augen sagten etwas anderes als ihr Verstand. Es war das Jahr 1818, und sie hatte eine Zeitreise gemacht!
Ihre Gedanken wurden unterbrochen, als Rhodry mit federnden Schritten zum Gärtner trat, der in einigem Abstand eine Hecke schnitt, und ein Gespräch mit ihm anfing. Nola überlegte gerade, ob sie sich bemerkbar machen sollte, als sie Amelia entdeckte, die den beiden entgegenkam. Ihre Röcke wehten, und gegen die Kälte hatte sie sich ein dickes Tuch um die Schultern geschlungen. Aus ihrer strengen Frisur hatten sich ein paar Strähnen gelöst und ließen sie sehr jung und sehr hübsch aussehen. Sie knickste vor Rhodry und begann danach sofort, eifrig auf ihn einzureden. Nola wagte sich noch ein wenig näher; eine Rosenhecke verbarg sie. Sie hörte Amelia öfter das Wort »Mylord« sagen. Der Gärtner wandte sich wieder seiner Arbeit zu und Amelia redete noch eifriger auf Rhodry ein, legte ihm sogar eine Hand auf den Arm. Er war gut eineinhalb Köpfe größer als die zierliche Schottin und sah lächelnd auf sie herunter. Nola wusste nicht warum, aber sie fühlte einen Stich in der Brust. Die beiden wirkten so vertraut miteinander, und ihre Hand lag immer noch auf seinem Arm, als sie zurück zur Burg gingen.
Nola setzte sich auf eine verwitterte Steinbank, die halb versteckt in einer Rosenhecke stand. Was hatte das zu bedeuten — lief etwas zwischen Rhodry und Amelia? Das Mädchen war zierlich und hübsch mit ihren dunklen Locken, und jeden Tag ihres Lebens mit Rhodry zusammen gewesen. Wie sollte er da nicht ihren Reizen erliegen?
Und Nola … sie war allein in dieser fremden Welt gefangen, kannte die Spielregeln des Jahres 1818 nicht, und die der Werwölfe gleich gar nicht. Ob sie zu Hause jemand vermissen würde? Ihre Eltern, ihr jüngerer Bruder, Violet? War sie einfach nicht mehr da, als hätte es sie nie gegeben oder galt sie als vermisst? Hatten ihre Eltern versucht, sie anzurufen?
Nola zog den Umhang dichter um sich und überließ sich düsteren Gedanken. Mit einer Hand fischte sie ihr Mobiltelefon aus einer Tasche ihrer Jeans. Das kleine Gerät war noch an, der Akku noch halb voll. »Kein Netz«, stand auf dem Display, dennoch suchte sie im Telefonbuch die Nummer ihrer Mutter. Das Gerät wählte, und dann war es einfach tot. Niemand sagte: »Die gewählte Nummer ist momentan nicht erreichbar.« Es wäre ja auch zu schön gewesen, wenn man aus dem Jahr 1818 im Jahr 2010 anrufen könnte, obwohl es keine Funkmasten gab. Der letzte Funke Hoffnung in Nola erlosch. So irrational die Idee auch war, insgeheim hatte sie sich gewünscht, die Stimme ihrer Mutter zu hören, die ihr sagte, dass alles wieder gut werden würde. Sie schaltete das nutzlose Handy aus.
Inzwischen hatte es zu nieseln begonnen. Nola bemerkte es erst, als der Regen feucht durch ihren Umhang drang. Die Sonne war weit nach Westen gewandert. Noch nie hatte sie sich so einsam, verloren und hilflos gefühlt. Sie war gefangen in einer fremden Zeit, unter fremden Kreaturen. Tränenblind stolperte sie zur Burg zurück.
»Mylady, Ihr seid ganz kalt. Ihr hättet bei diesem Wetter nicht so lange draußen bleiben sollen. Der Frühling kommt spät in Schottland.«
»Ich … «
»Nein, nein. Lasst mich das machen.« Der Butler nahm ihr den Umhang sowie den Muff ab, und bereitete sie in der Nähe des Kamins zum Trocknen aus. Ein abschätziger Blick traf Nola, die in Jeans, weißer Bluse und Wanderschuhen in der Mitte ihres Zimmer stand. Sie hatte sich ins Haus schleichen und in ihrem Zimmer verkriechen wollen, aber die Rechnung ohne Dalton gemacht. Der Butler hatte sie auf dem Gang abgefangen und mit einem Blick erkannt, was mit ihr los war. Er hatte sich ihrer angenommen und das Feuer im Kamin kräftig geschürt, bis es munter brannte. Das Knistern und Knacken des brennenden Holzes wirkte beruhigend, Nolas Verzweiflung konnte es aber nicht vertreiben.
»Setzt Euch ans Feuer, Mylady, und legt die Füße hoch. Ich werde Euch helfen mit diesen - Schuhen.«
Sie ließ sich von ihm in einen Sessel helfen, aber als er sich bückte und nach den Schnürsenkeln ihrer Wanderstiefel greifen wollte, zog sie hastig die Füße weg.
»Das mache ich selbst.«
»Es ist meine Aufgabe, Mylady, für Euer Wohl zu sorgen, solange Ihr keine Zofe habt. Lasst es mich tun.« In seiner Stimme schwang etwas mit, dem sie sich nicht entziehen konnte.
Sie ließ zu, dass er ihr die Stiefel aufschnürte und ihr aus den Schuhen half. Danach platzierte er ihre Füße auf einem Schemel. Für die Schultern reichte er ihr einen Schal, der schwach nach Veilchen duftete.
»Das wird die äußere Kälte vertreiben, und gegen die innere bringe ich Euch gleich heißen Tee, Mylady. Heute Abend noch einen heißen Ziegel ins Bett, und morgen werdet Ihr Euch nicht mehr an die Kälte erinnern.«
Dalton eilte aus dem Raum und kam gleich darauf mit einer dampfenden Tasse zurück. Der Tee schmeckte nach Bergamotte, und Nola schlürfte ihn dankbar. Die Wärme des Kaminfeuers breitete sich langsam im Raum aus — das und Daltons Fürsorge ließen sie sich entspannen. Es brannten keine Tränen mehr in ihrer Kehle, und sie war in der Lage, die Sache vernünftiger zu sehen. Natürlich musste Rhodry sich mit Amelia Hillier besprechen; er war schließlich der Herr von Shavick Castle, und sie führte ihm den Haushalt. Wie sollte das zu seiner Zufriedenheit erledigt werden, wenn sie nicht miteinander redeten? Was sie im Garten beobachtet hatte, war sicher ganz harmlos gewesen.
Und vielleicht gab es ja doch einen Weg zurück ins Jahr 2010. Wenn sie eine Zeitreise in die eine Richtung machen konnte, ging es vielleicht auch in die andere.
»So ist es besser, Mylady. Ich sehe, dass Ihnen schon viel wohler ist.«
Wieder traf ein abschätzender Blick ihre Jeans. »Ihr benötigt eine Zofe und angemessene Kleidung. Mylord hätte daran denken sollen. Ich werde mich darum kümmern. Es wird Euch in wenigen Tagen an nichts mehr fehlen, was eine vornehme Lady benötigt.«
Nola nickte unbestimmt. Der Butler gab sich damit zufrieden und ließ sie aufgewärmt und gut versorgt am Kamin zurück. Ihre Gedanken wanderten zu Rhodry.
Sollte an seinen Behauptungen über die Seelenpartner etwas Wahres dran sein? Sie hätte Dalton danach fragen sollen. Er sah aus, als diente er schon sein halbes Leben auf Shavick Castle und musste es sicher wissen. Auf der anderen Seite war das kein Thema für ein Gespräch zwischen einer Lady und ihrem Butler.
Ein schwaches Lächeln huschte über Nolas Gesicht. So weit war es mit ihr also gekommen, dass sie sich als Lady sah.