11. Kapitel
Dr. Barnard lehnte die Mithilfe der hundert jungen Constables ab, die die Thames-Valley-Polizeibehörde für die Suche nach Tathinweisen auf der Straße und im Gras an ihren Rändern anbot. Er vertret die Auffassung, daß große Suchaktionen in Ordnung seien, wenn es galt, die versteckte Leiche eines ermordeten Kindes oder auch nur eine Mordwaffe wie ein Messer, einen Revolver oder einen Knüppel zu finden. Doch für diese Arbeit wurden Geschick, Erfahrung und ein hochentwickeltes Fingerspitzengefühl gebraucht. Deshalb setzte er nur seine geschulten Spezialisten aus Fulham ein.
Sie sicherten einen Kreis mit einem Durchmesser von hundert Yards um den Schauplatz der Explosion – er war viel zu weit gezogen, wie sich zeigte. Sämtliches Beweismaterial wurde schließlich innerhalb eines Kreises von dreißig Yards gefunden. Seine Männer krochen buchstäblich auf Händen und Knien, mit Plastiktüten und Pinzetten über den Untersuchungsbereich.
Jedes Fitzelchen Faser wurde mit Pinzetten vom Boden aufgehoben und in den Tüten deponiert. An manchen klebten Haare, Stückchen von Körpergewebe oder andere Materie. Auch blutbeschmierte Grashalme wanderten in die Plastiktüten. Ultraempfindlich eingestellte Metalldetektoren suchten jeden Quadratzentimenter der Straße, der Gräben und der umliegenden Felder ab und förderten unvermeidlich ein Sortiment von Nägeln, Blechdosen, verrosteten Schrauben, Muttern, Bolzen und sogar eine rostbedeckte Pflugschar zutage.
Das Sortieren war eine spätere Sache. Acht große Mülltonnen aus Kunststoff wurden mit durchsichtigen Plastiktüten gefüllt und nach London geflogen. Der ovale Bereich von dort, wo Simon Cormack bei seinem Tod gestanden, bis dorthin, wo seine Leiche zu rollen aufgehört hatte, im Mittelpunkt des größeren Kreises, wurde mit besonderer Sorgfalt untersucht. Es dauerte vier Stunden, bis die Leiche fortgebracht werden konnte.
Zuerst wurde sie aus jedem denkbaren Winkel fotografiert, aus relativ großer, aus mittlerer Entfernung sowie in extremen Nahaufnahmen. Erst als jedes einzelne Stück der Grasnarbe um die Leiche herum gründlich gefilzt war und nur noch das Gras unter der Leiche selbst zu untersuchen blieb, erlaubte Dr. Barnard, daß man den Boden betreten und sich dem Toten nähern durfte.
Dann wurde ein Leichensack neben den Toten gelegt und das, was von Simon Cormack übriggeblieben war, sanft aufgehoben und auf die ausgebreitete Plastikbahn gelegt. Sie wurde zusammengefaltet, der Reißverschluß zugezogen, auf ein Bahre gehoben und von einem Hubschrauber zum Obduktionslabor geflogen.
Der Präsidentensohn war in Buckinghamshire gestorben, einer der drei Grafschaften, für die die Thames Valley Police zuständig ist. Und so kehrte Simon Cormack im Tode nach Oxford zurück, ins Radcliffe Infirmary, dessen Einrichtungen es sogar mit denen des Guy’s Hospital in London aufnehmen können.
Aus dem Guy’s Hospital kam ein Freund und Kollege von Dr. Barnard, der mit dem CEO der Metropolitan Police schon in zahlreichen Fällen zusammengearbeitet hatte und zu Barnard auch in einer engen beruflichen Beziehung stand. Tatsächlich wurden sie oft als ein Zweigespann betrachtet, obwohl sie in unterschiedlichen Disziplinen tätig waren. Dr. Ian Macdonald war einer der führenden Pathologen an dem großen Londoner Krankenhaus, stand in dieser Eigenschaft auch auf der Gehaltsliste des Innenministeriums und wurde zumeist von Scotland Yard zugezogen, wenn er verfügbar war. An ihn wurde nun die Leiche Simon Cormacks übergeben, als sie ins Radcliffe Infirmary eingeliefert wurde.
Während die Männer über das Gras neben der A 421 krochen, fanden den ganzen Tag über zwischen London und Washington Konsultationen darüber statt, wie das Geschehnis den Medien und der Welt mitgeteilt werden sollte. Man einigte sich darauf, daß die Nachricht vom Weißen Haus bekanntgegeben und unmittelbar darauf in London bestätigt werden solle. In der Verlautbarung sollte es nur heißen, daß, wie von den Kidnappern gefordert, ein Austausch unter höchster Geheimhaltung vereinbart, ein Lösegeld in ungenannter Höhe gezahlt worden sei und die Verbrecher ihr Wort gebrochen hätten. Auf einen anonymen Telefonanruf hin habe die britische Polizei am Rande einer Straße in Buckinghamshire Simon Cormack tot aufgefunden.
Die britische Monarchin, die Regierung und die Bevölkerung sprächen dem Präsidenten und dem amerikanischen Volk ihr tiefstes und aufrichtigstes Mitgefühl aus. Um die Täter zu identifizieren, aufzuspüren und dingfest zu machen, sei eine Fahndung von noch nicht dagewesenem Ausmaß eingeleitet worden.
Sir Harry Marriott bestand darauf, daß der Satz über die Vereinbarung des Austausches durch sieben Worte ergänzt werden müsse »zwischen den amerikanischen Stellen und den Kidnappern« –, und das Weiße Haus erklärte sich, wenn auch widerstrebend, damit einverstanden.
»Die Medien werden uns massakrieren«, knurrte Odell.
»Sie wollten ja Quinn haben«, sagte Philip Kelly.
»Eigentlich waren Sie beide es, die Quinn zuziehen wollten«, fuhr der Vizepräsident Lee Alexander und David Weintraub an, die mit am Tisch im Lageraum saßen. »Wo ist er übrigens jetzt?«
»Er wird festgehalten«, sagte Weintraub. »Die Briten haben ihre Einwilligung verweigert, ihn auf amerikanischem Territorium innerhalb der Botschaft einzuquartieren. Ihr MI 5 hat ein Landhaus in Surrey zur Verfügung gestellt. Dort ist er.«
»Nun, er wird allerhand zu erklären haben«, sagte Hubert Reed. »Die Diamanten sind weg, die Kidnapper sind weg, und der arme Junge ist tot. Wie ist er eigentlich gestorben?«
»Die Briten versuchen es festzustellen«, sagte Brad Johnson. »Kevin Brown sagt, es sei beinahe so gewesen, als wäre er von einer Bazooka getroffen worden, direkt vor ihren Augen, aber sie hätten von einer Bazooka oder etwas Ähnlichem nichts gesehen. Vielleicht sei er auch auf eine Art Landmine getreten.«
»Am Rand einer Straße in einer gottverlassenen Gegend?« fragte Stannard.
»Wie ich Ihnen gesagt habe, die Premierministerin wird berichten, was sich abgespielt hat.«
»Ich finde, wenn die Briten ihn vernommen haben, sollten wir ihn zu uns herüberholen«, sagte Kelly. »Wir müssen mit ihm sprechen.«
»Der Deputy Assistant Director unserer Abteilung kümmert sich bereits darum«, sagte Weintraub.
»Wenn er sich weigert zu kommen, können wir ihn dann zur Rückkehr zwingen?« fragte Justizminister Bill Walters.
»Ja, Herr Minister, das können wir«, sagte Kelly. »Kevin Brown glaubt, Quinn könnte in irgendeiner Weise in die Sache verwickelt sein. Wir wissen nicht, wie … noch nicht. Aber wenn wir gegen ihn als unentbehrlichen Zeugen einen Haftbefehl erlassen, werden die Briten ihn wohl ins Flugzeug setzen.«
»Warten wir noch vierundzwanzig Stunden. Mal seh’n, was die Briten herausbekommen«, sagte Odell schließlich.
Die Verlautbarung des Weißen Hauses wurde um 17 Uhr Washingtoner Zeit herausgegeben und erschütterte die Vereinigten Staaten wie kaum etwas seit den Attentaten auf Bobby Kennedy und Martin Luther King. Die Medien gerieten außer Rand und Band, und die Weigerung des Pressesprechers Craig Lipton, die 200 Zusatzfragen der Journalisten zu beantworten, war wenig dazu angetan, sie zu zügeln. Wer das Lösegeld bereitgestellt habe, wollten sie wissen, wie hoch es gewesen, in welcher Form und wie es übergeben worden sei, von wem, warum kein Versuch unternommen worden sei, die Kidnapper bei der Übergabe zu verhaften, ob das Päckchen oder Paket mit dem Lösegeld »verwanzt« worden sei, ob die Kidnapper zu auffällig verfolgt worden seien und den Jungen während der Flucht getötet hätten, welche Nachlässigkeiten die Behörden sich hätten zuschulden kommen lassen, ob das Weiße Haus Scotland Yard die Schuld gebe und wenn nicht, warum, weshalb die USA die Sache nicht von Anfang an Scotland Yard überlassen hätten, ob irgendwelche Beschreibungen der Kidnapper vorlägen, ob die britische Polizei sie schon im Netz habe … Die Fragen nahmen kein Ende. Lipton faßte den Entschluß, sein Amt niederzulegen, bevor er gelyncht wurde.
In London war es fünf Stunden später als in Washington, aber die Reaktion fiel ähnlich aus; die Spätnachrichten im Fernsehen wurden durch Kurzmeldungen unterbrochen, die wie eine Bombe einschlugen. Die Telefonzentralen in Scotland Yard, im Innenministerium, in Downing Street Nr. 10 und in der amerikanischen Botschaft waren blockiert. Journalisten, die um 22 Uhr eben im Begriff waren, nach Hause zu gehen, erhielten Weisung, die Nacht durchzuarbeiten, da bereits für 5 Uhr morgens Sonderausgaben vorbereitet wurden. Schon bei Tagesanbruch belagerten Pulks von Reportern das Radcliffe Infirmary, die amerikanische Botschaft, Downing Street und Scotland Yard. In gecharterten Hubschraubern schwebten sie über der leeren Straße zwischen Fenny Stratford und Buckingham und fotografierten beim ersten Licht den blanken Asphalt und die letzten paar Barrieren und Polizeifahrzeuge, die dort noch geparkt waren.
Nur wenige taten ein Auge zu. Angespornt von einer dringlichen Bitte des Innenministers persönlich, arbeiteten Dr. Barnard und sein Team die ganze Nacht hindurch. Der Sprengstoffexperte hatte beim letzten Tageslicht schließlich den Schauplatz des Geschehens verlassen, überzeugt, daß dieser nichts mehr hergab. Zehn Stunden lang war der Tatort im Umkreis von dreißig Metern gründlichst abgesucht worden und nun sauberer als irgendein Fleckchen englischen Bodens. Was diese Suche erbracht hatte, lagerte nun in einer Reihe grauer Kunststoffbehälter an der Wand in seinem Labor. Für ihn und sein Team war diese Nacht die Nacht der Mikroskope.
Nigel Cramer verbrachte die Nacht in einem schlichten, kaum möblierten Zimmer auf einem Landsitz aus der Tudorzeit im Herzen von Surrey, der durch eine dichte Baumreihe gegen die nächste Straße abgeschirmt war. Trotz seines eleganten Äußeren war das alte Gebäude für Vernehmungszwecke sehr gut ausgestattet. Der British Security Service benutzte die uralten Kellergewölbe als Ausbildungsstätte für solche delikaten Aufgaben.
Brown, Collins und Seymour waren auf eigenen Wunsch anwesend. Cramer hatte dagegen nichts einzuwenden – er war von Sir Harry Marriott angewiesen worden, mit den Amerikanern zusammenzuarbeiten, wo und wann immer dies möglich war. Sämtliche Informationen, über die Quinn verfügte, würden ohnehin beiden Regierungen vorgelegt werden. Auf dem Tisch neben ihnen lösten die Tonbandgeräte einander bei den Aufzeichnungen ab.
Quinn hatte eine lange, bläuliche Beule am Unterkiefer und ein großes Pflaster auf dem Hinterkopf. Er trug noch immer dasselbe, inzwischen schmutzige Hemd und die Baumwollhose. Seine Schuhe wie auch Gürtel und Krawatte waren ihm abgenommen worden. Er war unrasiert und machte einen erschöpften Eindruck. Aber er antwortete klar und gelassen auf die Fragen.
Cramer fing mit dem Anfang an: warum er die Wohnung in Kensington verlassen habe. Quinn legte seinen Grund dar. Brown blickte ihn finster an.
»Mr. Quinn, hatten Sie irgendeinen Grund für die Annahme, daß eine unbekannte Person, beziehungsweise Personen versucht haben könnten, sich in den Austausch einzumischen, wodurch die Sicherheit Simon Cormacks hätte gefährdet werden können?«
Nigel Cramer hatte es streng nach Vorschrift formuliert.
»Instinkt«, antwortete Quinn.
»Nur Instinkt, Mr. Quinn?«
»Darf ich Sie etwas fragen, Mr. Cramer?«
»Eine Antwort kann ich Ihnen nicht versprechen.«
»Der Aktenkoffer mit den Diamanten darin – er war mit einer Wanze präpariert, hab’ ich recht?«
Die Mienen der vier Männer in dem Raum gaben ihm die Antwort.
»Wenn ich bei einem Austausch mit diesem Köfferchen angekommen wäre«, sagte Quinn, »wären sie dahintergekommen und hätten den Jungen umgebracht.«
»Was sie auch so getan haben, Sie Klugscheißer«, knurrte Brown.
»Ja, das haben sie getan«, sagte Quinn düster. »Ich gebe zu, ich dachte nicht, daß sie so etwas tun würden.«
Cramer ging mit ihm zu dem Augenblick zurück, als er die Wohnung verlassen hatte. Quinn berichtete ihnen über Marylebone, die Nacht in dem Hotel, die Bedingungen, die Zack für das Treffen festgelegt hatte, und wie er gerade noch rechtzeitig hingekommen war. Für Cramer war das Interessante die Konfrontation Zack – Quinn in der aufgegebenen Lagerhalle. Quinn beschrieb ihm den Wagen, eine Volvo-Limousine, und nannte ihm das Kennzeichen; beide nahmen zu Recht an, daß die Nummernschilder für diese Begegnung gegen andere ausgetauscht und diese später wieder gegen die echten vertauscht worden waren. Ebenso die innen an die Windschutzscheibe geklebte Plakette, die anzeigte, daß die Straßensteuer bezahlt war. Diese Männer hatten bewiesen, daß sie sehr sorgfältig zu Werke gingen.
Quinn konnte die Männer nur so beschreiben, wie er sie gesehen hatte, vermummt und in einfachen Trainingsanzügen. Den vierten hatte er überhaupt nicht zu Gesicht bekommen, da dieser im Versteck zurückgeblieben war, um auf einen Anruf hin oder falls seine Kumpanen länger als vereinbart ausblieben, Simon Cormack zu töten. Quinn schilderte die äußere Erscheinung der beiden Männer, die er in voller Größe gesehen hatte: Zack und den Mann mit der Waffe. Mittelgroß, mittelkräftig. Das war’s schon. Leider.
Er identifizierte die Skorpion-Maschinenpistole und natürlich das Lagerhaus der Firma Babbidge. Cramer verließ den Raum, um zu telefonieren. Ein zweites Expertenteam aus Fulham fuhr noch vor Tagesanbruch zu dem Lagerhaus und verbrachte den Vormittag dort. Die Suche ergab nichts weiter als ein Marzipankügelchen und perfekte Reifenabdrücke im Staub auf dem Boden. Anhand dieser Spuren wurde der Volvo dann schließlich identifiziert, allerdings erst zwei Wochen später.
Von besonderem Interesse war das Haus, das die Kidnapper als Versteck benutzt hatten. Eine Kieseinfahrt – Quinn hatte das Knirschen der Reifen auf dem Kies gehört –, ungefähr acht Yards lang, führte vom Eingangs- zum Garagentor, automatisches Öffnungssystem, ins Haus integrierte Garage, ein Haus mit einem betonierten Keller hier konnten die Immobilienmakler weiterhelfen. Aber in welcher Richtung, von London aus gesehen – er wußte es nicht. Er hatte beim erstenmal im Kofferraum und beim zweitenmal mit einer Kapuze über dem Kopf auf dem Boden vor dem Rücksitz gelegen. Fahrzeit: anderthalb Stunden das erste Mal, zwei Stunden das zweite Mal. Wenn sie einen Umweg genommen hatten, konnte das Haus weiß Gott wo stehen, im Herzen von London ebensogut wie in jeder beliebigen Richtung bis zu fünfzig Meilen davon entfernt.
»Wir können ihm nichts zur Last legen, Herr Minister«, berichtete Cramer seinem Minister am nächsten Morgen. »Wir können ihn nicht einmal länger festhalten. Und, offen gesagt, ich finde auch nicht, daß wir es tun sollten. Ich glaube nicht, daß er als Komplize an dem Verbrechen beteiligt war.«
»Nun ja, er hat die Sache anscheinend gründlich verpatzt«, sagte Sir Harry. Der Druck aus Downing Street Nr. 10, in der Sache weiterzukommen, verstärkte sich.
»Es scheint fast so«, sagte Cramer. »Aber wenn die Verbrecher entschlossen waren, den Jungen zu töten, und im Rückblick hat man den Eindruck –, sie hätten das jederzeit tun können, vor oder nach der Übergabe der Diamanten, im Keller des Hauses, an der Straße oder in irgendeinem einsamen Moor in Yorkshire. Und Quinn mit ihm. Rätselhaft ist, warum sie Quinn am Leben ließen und warum sie den Jungen zuerst freiließen und dann doch umbrachten. Es wirkt beinahe so, als wären sie darauf aus, sich zu den verhaßtesten und am meisten verfolgten Männern der Welt zu machen.«
»Nun ja«, sagte der Innenminister seufzend. »Mr. Quinn hilft uns nicht weiter. Halten die Amerikaner ihn noch fest?«
»Formell ist er ihr Gast und freiwillig bei ihnen«, sagte Cramer vorsichtig.
»Schön, Sie können ihn nach Spanien zurückfahren lassen, wann Sie wollen.«
Während dieses Gespräch stattfand, redete Sam Somverville bittend auf Kevin Brown ein. Sie saßen mit Collins und Seymour in dem eleganten Salon des Landsitzes.
»Warum zum Teufel wollen Sie ihn denn sprechen?« fragte Brown. »Er hat doch auf der ganzen Linie versagt.«
»Schauen Sie«, sagte sie. »Ich bin ihm in den letzten drei Wochen näher gekommen als sonst jemand hier. Wenn er irgend etwas verheimlicht, egal was es ist, könnte ich es vielleicht aus ihm herausbekommen, Sir.«
Brown schien zu schwanken.
»Könnte ja nichts schaden«, sagte Seymour. Brown nickte.
»Er ist unten. Eine halbe Stunde.«
Noch am Nachmittag nahm Sam Somerville den Linienflug von Heathrow nach Washington, wo die Maschine kurz nach Einbruch der Dunkelheit landete.
Als Sam Somerville von Heathrow abflog, saß Dr. Barnard in seinem Labor in Fulham und blickte auf eine kleine Sammlung verschiedener Fragmente, die über ein schneeweißes Blatt Papier verteilt auf einer Tischplatte lagen. Er war sehr müde. Seitdem ihn am Vortag kurz nach Tagesanbruch der dringliche Anruf in seinem kleinen Haus in London erreicht hatte, war er ununterbrochen beschäftigt gewesen. Ein großer Teil dieser Arbeit, mit Vergrößerungsgläsern und Mikroskopen, war anstrengend für die Augen. Doch wenn er sich an diesem Spätnachmittag die Augen gerieben haben sollte, dann weniger aus Erschöpfung als aus Überraschung.
Er wußte jetzt, was geschehen, wie es geschehen und welche Wirkung es gehabt hatte. Flecke auf Stoff und Lederfetzen waren analysiert worden, und diese Analysen hatten die exakte chemische Zusammensetzung des Sprengstoffs enthüllt; das Ausmaß der Verbrennungen an den Fetzen und die Wirkung der Detonation auf sie hatten ihm gezeigt, wieviel Sprengstoff verwendet, wo er plaziert und wie er gezündet worden war. Einiges war natürlich für immer verloren, anderes würde bei der Obduktion der Leiche ans Licht kommen, und Dr. Barnard stand in ständigem Kontakt mit Ian MacDonald, der in Oxford noch an der Arbeit war. Die Resultate aus Oxford würden binnen kurzem eintreffen. Aber er wußte jetzt schon, was da vor ihm lag, obwohl es’ für das ungeschulte Auge nur wie ein Häufchen winziger Fragmente aussah.
Einige davon waren Überbleibsel einer kleinen Batterie, deren Herkunft Dr. Barnard identifiziert hatte. Bei anderen handelte es sich um winzige Stückchen von einem mit PVC isolierten Kunststoffüberzug, Herkunft identifiziert. Strähnen von Kupferdraht, Herkunft identifiziert. Und ein Gewirr von verbogenem Messing, verschmolzen mit dem, was einmal ein kleiner, aber effizienter Impulsempfänger gewesen war. Nichts von einem Zünder. Er war sich zwar hundertprozentig sicher, wollte aber zweihundert Prozent Gewißheit. Vielleicht mußte er noch einmal die Stelle an der Straße inspizieren und von vorne anfangen. Einer seiner Assistenten steckte den Kopf zur Tür herein.
»Dr. MacDonald ruft aus dem Radcliffe an.«
Auch der Pathologe hatte seit dem Nachmittag des Vortages gearbeitet. Seine Aufgabe würden viele als grausig empfinden, für ihn war sie eine Detektivarbeit, faszinierender als alles, was er sich vorstellen konnte. Er lebte für seinen Beruf, und dies so sehr, daß er sich nicht damit begnügte, die Überreste der Opfer von Sprengstoffexplosionen zu untersuchen, sondern auch an den Kursen und Vorträgen über den Bau und das Entschärfen von Sprengsätzen teilnahm, die im Sprengstofflaboratorium der Streitkräfte in Fort Halstead für einige wenige Auserwählte stattfanden. Es genügte ihm nicht zu wissen, daß er nach etwas suchte, er wollte auch wissen, was es war und wie es aussah.
Er hatte zunächst zwei Stunden lang die Fotografien studiert, ehe er die Leiche auch nur berührte. Dann entfernte er vorsichtig die Kleidungsstücke, wobei er auf die Hilfe eines Assistenten verzichtete. Als erstes kamen die Turnschuhe, dann folgten die Söckchen. Das übrige wurde mit einer feinen Schere weggeschnippelt. Sämtliche Stücke wurden in Zellophanbeutel verpackt und direkt an Barnard in London geschickt. Sie trafen bei Sonnenaufgang in Fulham ein.
Als die Leiche nackt war, wurde sie von Kopf bis Fuß geröntgt. Er sah sich die Abzüge eine Stunde lang an und identifizierte vierzig körperfremde Partikel. Dann tupfte er die Leiche mit einem klebrigen Puder ab, wobei ein Dutzend winzig kleine, an der Haut klebende Partikel entfernt wurden. Einige davon waren Grasfitzelchen und Straßenkot, andere etwas anderes. Ein zweiter Streifenwagen brachte diese grausige Ernte zu Dr. Barnard in Fulham.
Er führte eine Inaugenscheinnahme durch und diktierte mit seinem gleichmäßigen schottischen Singsang die Befunde auf ein Tonband. Zu schneiden begann er erst kurz vor Tagesanbruch. Zunächst mußte alles »relevante Gewebe« aus der Leiche herausgeschnitten werden; in diesem Fall betraf es den gesamten mittleren Teil des Körpers, der von den unteren beiden Rippen abwärts bis zum oberen Beckenrand zerfetzt worden war. Unter dem Herausgeschnittenen befanden sich auch die kleinen Fragmente von den unteren fünfzehn Zentimetern des Rückgrats, die es durch den Körper und die Bauchdecke gerissen hatte und die nun in den Jeans steckten.
Die Feststellung der Todesursache war kein Problem. Es handelte sich um massive, durch eine Explosion bewirkte Verletzungen von Rückgrat und Unterleib. Für den vollen Befund reichte das jedoch nicht aus. Dr. MacDonald ließ das exzidierte Material noch einmal, in viel feinerer Körnung, röntgen. Tatsächlich enthielt es Fremdkörper, manche so klein, daß sie mit einer Pinzette nicht zu fassen waren. Das Herausgeschnittene, Gewebe und Knochensplitter, wurde schließlich in einem Gebräu von Enzymen aufgelöst. Das anschließende Zentrifugieren erbrachte dann eine Unze kleiner Metallstücke.
Aus dieser Unze wählte Dr. MacDonald das größte Stück aus, das er auf der zweiten Röntgenaufnahme, in ein Stück Knochen gepreßt, in der Milz des jungen Mannes entdeckt hatte. Er betrachtete es eine Weile, stieß dann einen Pfiff aus und rief in Fulham an. Barnard meldete sich am Apparat.
»Stuart, gut daß Sie anrufen. Gibt’s noch was für mich?«
»Ja. Ich habe hier etwas, was Sie sich anschauen müssen. Wenn ich mich nicht täusche, handelt es sich um etwas, was ich noch nie gesehen habe. Ich meine zu wissen, was es ist, aber ich kann es beinahe nicht glauben.«
»Lassen Sie es gleich mit einem Streifenwagen herbringen«, sagte Barnard.
Zwei Stunden später sprachen die beiden wieder miteinander. Diesmal rief Barnard an.
»Wenn Sie dachten, was ich vermute, dann hatten Sie recht«, sagte er. Barnard hatte seine zweihundert Prozent Gewißheit.
»Es könnte nicht von woanders her kommen?« fragte MacDonald.
»Nein. Es kann nur aus den Händen der Hersteller selbst stammen.«
»O verdammt!« sagte der Pathologe leise.
»Jetzt heißes, den Mund halten, Kollege«, sagte Barnard. »Ich habe meinen Bericht morgen früh beim Innenminister. Können Sie es bis dahin auch schaffen?«
MacDonald warf einen Blick auf seine Uhr. Sechsunddreißig Stunden war er jetzt auf den Beinen. Und noch einmal zwölf.
»Schlaft nicht mehr. Barnard mordet den Schlaf«, parodierte er Macbeth. »Also gut, bis zum Frühstück auf seinem Schreibtisch.«
Noch am Abend gab er die Leiche oder vielmehr die beiden Teile der Leiche für den Leichenbeschauer frei. Am nächsten Vormittag würde dieser dann das gerichtliche Verfahren zur Untersuchung der Todesursache eröffnen und vertagen, was ihm die Möglichkeit gab, die Leiche den nächsten Anverwandten zu übergeben, in diesem Fall Botschafter Fairweather persönlich, als Vertreter von Präsident John F. Cormack.
Während in dieser Nacht die beiden englischen Experten ihre Berichte schrieben, wurde Sam Somerville auf ihre eigene Bitte hin im Lageraum unter dem Westflügel vom Komitee empfangen. Sie hatte sich unmittelbar an den Direktor des Bureau gewandt, und dieser hatte sich, nach einem Anruf bei Vizepräsident Odell, bereit erklärt, sie mitzunehmen.
Als sie den Raum betrat, hatten schon alle ihre Plätze eingenommen. Als einziger fehlte David Weintraub, der in Tokio Gespräche mit seinem japanischen Amtskollegen führte. Sam war es etwas beklommen zumute; hier waren die mächtigsten Männer des Landes versammelt, Männer, die man sonst nur im Fernsehen oder in den Zeitungen zu sehen bekam. Sie holte tief Luft, straffte sich und ging zum Ende des Tisches. Vizepräsigent Odell deutete auf einen Stuhl.
»Setzen Sie sich, young lady.«
»Soviel wir wissen, wollen Sie uns bitten, Mr. Quinn auf freien Fuß zu setzen«, sagte Justizminister Bill Walters. »Dürfen wir nach Ihrem Grund fragen?«
»Meine Herren, ich weiß, manche haben vielleicht den Verdacht, Mr. Quinn sei irgendwie in den Tod von Simon Cormack verwickelt gewesen. Ich bitte Sie, mir Glauben zu schenken. Ich stand drei Wochen lang in Kensington in engem Kontakt mit ihm und bin überzeugt, daß er sich aufrichtig darum bemühte, den jungen Mann heil und unversehrt freizubekommen.«
»Warum hat er sich dann abgesetzt?« fragte Philip Kelly. Er war nicht davon angetan, daß einer seiner Untergebenen hier vor dem Komitee erscheinen und seine Sache selber vertreten konnte.
»Weil in den achtundvierzig Stunden, bevor er die Wohnung verließ, zweimal Falschmeldungen in die Medien gerieten. Weil er sich drei Wochen abgemüht hatte, das Vertrauen dieser Bestie zu gewinnen, was ihm gelungen war. Weil er überzeugt war, Zack sei drauf und dran, sich abzusetzen, wenn er es nicht schaffte, Zack allein und unbewaffnet gegenüberzutreten, ohne von britischen oder amerikanischen Stellen beschattet zu werden.«
Niemandem entging, daß mit »amerikanischen Stellen« Kevin Brown gemeint war. Kelly runzelte die Stirn.
»Es bleibt trotzdem ein Verdacht bestehen, daß er in irgendeiner Weise etwas damit zu tun gehabt haben könnte«, sagte er. »Wir wissen nicht wie, aber die Sache muß untersucht werden.«
»Er konnte nichts damit zu tun haben, Sir«, sagte Sam. »Wenn er sich selbst als Unterhändler angeboten hätte, vielleicht. Aber die Entscheidung, ihn darum zu ersuchen, ist hier in diesem Raum gefallen. Er wollte ja nicht einmal kommen. Und von der Stunde an, in der Mr. Weintraub ihn in Spanien aufsuchte, war er nie allein. Jedes Wort, daß er mit dem Kidnapper sprach, haben Sie mitgehört.«
»Sie vergessen die achtundvierzig Stunden, bevor er am Rand dieser Straße wieder auftauchte«, sagte Morton Stannard.
»Aber warum hätte er während dieser Zeit mit den Entführern einen Deal machen sollen?« fragte sie. »Außer um Simon Cormacks Freilassung auszuhandeln.«
»Weil zwei Millionen Dollar für einen armen Mann ein schöner Batzen Geld sind«, sagte Hubert Reed.
»Aber«, wandte sie hartnäckig ein, »wenn er mit den Diamanten hätte verschwinden wollen, würden wir jetzt noch immer nach ihm suchen.«
»Schön«, mischte sich Odell unerwartet ein, »er ist allein und unbewaffnet zu den Kidnappern gegangen – abgesehen von dem verdammten Marzipan. Wenn er sie nicht schon gekannt hat, hat er viel Mumm bewiesen.«
»Trotzdem ist Mr. Browns Argwohn vielleicht nicht völlig unbegründet«, sagte Jim Donaldson. »Er könnte mit ihnen Verbindung aufgenommen und eine Abmachung getroffen haben. Sie bringen den Jungen um, lassen ihn selbst am Leben, nehmen die Diamanten mit. Später treffen sie sich dann irgendwo und teilen die Beute.«
»Warum hätten sie das tun wollen?« fragte Sam, kühner geworden, da sie offensichtlich den Vizepräsidenten auf ihrer Seite hatte. »Sie hatten die Diamanten, sie hätten ihn ebenfalls töten können. Und selbst wenn sie es nicht getan haben, warum hätten sie mit ihm teilen sollen? Würden Sie denen vertrauen?«
Niemand unter ihnen würde solchen Typen auch nur das geringste Vertrauen schenken. Es herrschte Schweigen, während sie darüber nachdachten.
»Wenn man ihn gehen läßt, was hat er dann vor? Will er zurück nach Spanien, zu seinem Weinberg?« fragte Reed.
»Nein, Sir, er möchte Jagd auf sie machen, sie zur Strecke bringen.«
»Jetzt Moment mal, Agentin Somerville«, sagte Kelly aufgebracht. »Das ist Aufgabe des Bureau. Meine Herren, wir brauchen jetzt keine Zurückhaltung mehr zu üben, um Simon Cormacks Leben zu schützen. Dieser Mord ist nach unseren Gesetzen strafrechtlich verfolgbar, genauso wie damals der auf dem Kreuzfahrtschiff, der Achille Lauro. Wir schicken Fahndungsteams nach England und auf den europäischen Kontinent, die die uneingeschränkte Mitarbeit der Polizei in diesen Ländern haben werden. Wir wollen und wir werden sie erwischen. Mr. Brown dirigiert die Operation von London aus.«
Sam Somerville spielte ihre letzte Karte aus.
»Aber, meine Herren, Quinn hat sicher nicht mit ihnen unter einer Decke gesteckt, aber er ist näher als sonst jemand an sie herangekommen, hat sie gesehen, mit ihnen gesprochen. Sollte er aber doch beteiligt gewesen sein, weiß er, wo er sie finden kann. Das könnte uns am besten auf die Spur bringen.«
»Sie meinen, wir sollten ihn laufen lassen und beschatten?« fragte Walters.
»Nein, Sir, ich möchte ihn begleiten dürfen.«
»Young lady …«, Michael Odell beugte sich nach vorne, um sie besser zu sehen. »Ist Ihnen klar, was Sie da sagen? Dieser Mann hat schon Menschen umgebracht – schön, das war im Krieg –, und wenn er mit ihnen unter einer Decke steckt, könnten Sie am Ende mausetot sein.«
»Ich weiß das, Herr Vizepräsident. Genau das ist der Punkt. Ich halte ihn für unschuldig, und ich bin bereit, das Risiko einzugehen.«
»Hm. Schön, bleiben Sie in Washington, Miss Somerville. Wir werden Ihnen Bescheid geben. Wir müssen darüber beraten – unter uns«, sagte Odell.
Innenminister Marriott las an diesem Vormittag tief beunruhigt die Berichte von Dr. Barnard und Dr. MacDonald. Dann begab er sich damit nach Downing Street Nr. 10. Mittags war er wieder im Innenministerium. Dort wartete Nigel Cramer auf ihn.
»Haben Sie die Berichte schon gesehen?« fragte Sir Harry.
»Ich habe Kopien davon gelesen, Sir.«
»Das ist ja eine gräßliche, eine entsetzliche Geschichte. Wenn die jemals bekannt wird … Wissen Sie, wo Botschafter Fairweather ist?«
»Ja, er hält sich in Oxford auf. Der Leichenbeschauer hat ihm vor einer Stunde die Leiche übergeben. Soviel ich weiß, steht die Air Force One in Upper Heyford bereit, um den Sarg in die Staaten zu fliegen. Der Botschafter wird beim Abflug dabeisein und dann nach London zurückkehren.«
»Hm. Ich werde das Foreign Office darum bitten müssen, ein Gespräch mit ihm zu vereinbaren. Ich möchte, daß niemand Kopien von dem hier bekommt. Scheußliche Geschichte. Gibt’s irgend etwas Neues über die Großfahndung?«
»Nicht sehr viel, Sir. Quinn hat erklärt, keiner der anderen beiden Kidnapper, die er sah, habe ein Wort gesprochen. Möglicherweise handelt es sich um Ausländer. Wir konzentrieren im Augenblick die Fahndung nach dem Volvo auf die großen See- und Flughäfen mit Verbindungen zum Kontinent. Ich fürchte, sie könnten uns entkommen sein. Die Suche nach dem Haus geht natürlich weiter. Diskretion ist nicht mehr nötig – wenn Sie zustimmen, lasse ich heute abend eine Bitte um Mithilfe der Bevölkerung rausgehen. Ein Einzelhaus mit eingebauter Garage und einem Keller, ein Volvo von der betreffenden Farbe – irgend jemand muß doch irgend etwas gesehen haben.«
»Ja, machen Sie nur. Und halten Sie mich auf dem laufenden«, sagte der Innenminister.
An diesem Abend hatte Sam Somerville, voll gespannter Erwartung, ihre Wohnung in Alexandria verlassen, da sie ins Hoover Building bestellt worden war. Sie wurde in das Amtszimmer von Philip Kelly geführt, um die Entscheidung des Weißen Hauses entgegenzunehmen.
»Also gut, Agentin Somerville, Sie haben erreicht, was Sie wollten. Sie können nach England zurückfliegen und Mr. Quinn sagen, daß er ein freier Mann ist. Doch diesmal bleiben Sie bei ihm, weichen ihm keinen Augenblick von der Seite. Und Sie informieren Mr. Brown darüber, was Quinn tut und wo er sich herumtreibt.«
»Ja, Sir. Danke Ihnen, Sir.«
Sie erwischte gerade noch rechtzeitig den letzten spätabendlichen Flug nach Heathrow.
Der Abflug ihrer Linienmaschine vom Dulles International Airport verzögerte sich ein wenig. Ein paar Meilen entfernt, in Andrews, landete gerade die Air Force One mit Simon Cormacks Sarg. Zu diesem Zeitpunkt wurde auf allen amerikanischen Flughäfen für zwei Schweigeminuten der Flugverkehr eingestellt.
Bei Tagesanbruch landete ihre Maschine in Heathrow. Der vierte Morgen seit der Mordtat brach an.
Das Klingeln des Telefons weckte an diesem Morgen Irving Moss zu einer sehr frühen Stunde. Nur eine bestimmte Person konnte der Anrufer sein, denn nur sie hatte seine Nummer. Er blickte auf seine Uhr: 4 Uhr, 22 Uhr am Abend vorher in Houston. Er notierte die umfangreiche Liste von Agrarproduktpreisen, alle in Dollar und Cent, strich die Nullen aus, die für eine Leerstelle im Text standen, und stellte die Zahlenreihe entsprechend dem Tag des Monats vorbereiteten Buchstabenreihen gegenüber.
Als er mit dem Entschlüsseln fertig war, sog er nachdenklich die Wangen ein. Es gab etwas, etwas Besonderes, Unvorhergesehenes, um das er sich kümmern mußte. Unverzüglich.
Aloysius (»Al«) Fairweather jun., Botschafter der Vereinigten Staaten am Hof von St. James, hatte bei seiner Rückkehr vom amerikanischen Luftwaffenstützpunkt Upper Heyford die vom Foreign Office am Vorabend übermittelte Nachricht vorgefunden. Es war ein schlimmer, trauriger Tag gewesen – er hatte vom Coroner in Oxford die Genehmigung erhalten, die Leiche des Sohns seines Präsidenten in seine Obhut zu nehmen, den Sarg bei dem Leichenbestattungsunternehmen abgeholt, wo man sich trotz der geringen Erfolgsaussichten viel Mühe gegeben und die tragische Fracht mit der Air Force One nach Washington auf den Weg geschickt hatte.
Er war beinahe schon drei Jahre auf diesem Posten, auf den ihn die neue Regierung entsandt hatte, und er wußte, daß er mit sich zufrieden sein durfte, obwohl er die Nachfolge des unvergleichlichen Charles Price der Reagan-Jahre hatte antreten müssen. Doch diese vergangenen vier Wochen waren ein Alptraum gewesen, der keinem Botschafter zugemutet werden sollte.
Das Ersuchen des Foreign Office gab ihm Rätsel auf, denn er wurde nicht gebeten, den Außenminister, der normalerweise sein Gesprächspartner war, sondern den Innenminister, Sir Harry Marriott, aufzusuchen. Wie die meisten britischen Minister kannte er auch Sir Harry so gut, daß man unter vier Augen die Titel beiseite ließ und einander mit dem Vornamen anredete. Doch daß er sich ins Innenministerium selbst begeben sollte, und das zur Frühstückszeit, war ungewöhnlich. Die Nachricht aus dem Foreign Office hatte keine Erklärung dafür enthalten. Um 8.55 Uhr bog sein langer schwarzer Cadillac in die Victoria Street ein.
»Mein lieber Al.« Marriott war überaus liebenswürdig, wenn auch sehr ernst, wie es die Umstände geboten. »Ich muß Ihnen hoffentlich nicht sagen, in welch tiefe Betroffenheit die vergangenen Tage unser gesamtes Land gestürzt haben.«
Fairweather nickte. Er hatte nicht den geringsten Zweifel, daß die Reaktion der britischen Regierung und Bevölkerung aufrichtig war. Tagelang hatte sich die Schlange der Menschen, die sich im Vestibül der Botschaft in das Kondolenzbuch eintragen wollten, zweimal um den Grosvenor Square erstreckt. Am Kopf der ersten Seite stand die schlichte Signatur »Elizabeth R«, gefolgt von den Namen sämtlicher Kabinettsmitglieder, der beiden Erzbischöfe, der Oberhäupter aller anderen Religionsgemeinschaften sowie Tausende Unterschriften von Prominenten wie von Unbekannten. Sir Harry schob dem Botschafter über den Schreibtisch zwei in Manilapapier eingeschlagene Berichte zu.
»Ich wollte, daß Sie sich diese beiden Sachen ohne Zeugen ansehen, und schlage vor, Sie tun es gleich hier. Vielleicht sollten wir über ein paar Dinge sprechen, ehe Sie gehen.«
Dr. MacDonalds Bericht war der kürzere der beiden; Fairweather nahm ihn sich zuerst vor. Simon Cormack war an massiven Verletzungen des Rückgrats und des Unterleibs gestorben, verursacht von einer räumlich begrenzten, aber konzentriert wirkenden Detonation an der unteren Rückenpartie. Zur Zeit seines Todes hatte er die Bombe am Körper getragen. Es folgte noch mehr, doch dabei handelte es sich um technische Details über seinen Körperbau, Gesundheitszustand, die, soweit bekannt, zuletzt eingenommene Mahlzeit und so fort.
Mehr zu sagen hatte Dr. Barnard. Die Bombe, die Simon Cormack an seinem Körper getragen hatte, war in dem breiten Ledergürtel versteckt gewesen, den ihm seine Entführer gegeben hatten. Von ihnen waren auch die Jeans besorgt worden.
Der Gürtel war 7,6 Zentimeter breit gewesen und hatte aus zwei an den Rändern zusammengenähten Streifen Rindsleder bestanden. Vorne war eine breite Schmuckschnalle aus Messing befestigt gewesen, gut zehn Zentimenter lang und etwas breiter als der Gürtel selbst, verziert mit der bossierten Nachbildung eines Langhornstierkopfs. Es war ein Gürtel von der Sorte, wie sie in vielen auf Western- oder Campingausrüstung spezialisierten Geschäften verkauft wird. Obwohl die Schnalle massiv wirkte, war sie in Wirklichkeit hohl.
Der Plastiksprengsatz hatte aus einem zwei Unzen schweren Plättchen bestanden, zusammengesetzt aus fünfundvierzig Prozent PETN, fünfundvierzig Prozent RDX und zehn Prozent von einem Weichmacher. Das Plättchen war gut siebeneinhalb Zentimeter lang und knapp vier Zentimeter breit gewesen und zwischen die beiden Lederstreifen des Gürtels hineingeschoben worden, genau an der Stelle, die hinter dem Rückgrat des jungen Mannes zu liegen kam.
In die Plastikmasse war ein Miniaturzünder hineingedrückt worden, der sich später in einem Stück Wirbelknochen wiederfand, das sich in die Milz gebohrt hatte. Er war zwar stark verformt, aber noch zu erkennen – und zu identifizieren.
Von der Sprengstoffmasse mit dem Zünder führte ein Draht den Gürtel entlang an die Stelle, wo er mit einer Lithiumbatterie verbunden war, ähnlich wie die in einer Digitalarmbanduhr und auch nicht größer. Die Batterie hatte sich in einem Hohlraum innerhalb des Gürtels befunden. Derselbe Draht hatte dann zu einem Impulsempfänger geführt, der in der Schnalle versteckt angebracht war. Von diesem aus war ein weiterer Draht als Antenne zwischen den Lederstreifen durch den Gürtel geführt worden.
Der Impulsempfänger dürfte nicht größer als eine Streichholzschachtel gewesen sein und hatte vermutlich ein 72,15 Megahertz starkes Signal von einem kleinen Sendegerät empfangen. Dieses hatte sich natürlich nicht auf dem Schauplatz der Explosion gefunden, aber wahrscheinlich war es eine flache Kunststoffschachtel gewesen, kleiner als eine Zigarettenpackung, mit einem einzigen Knopf auf gleicher Höhe wie die Oberfläche, der auf einen Druck des Daumenballens hin die Detonation ausgelöst hatte. Reichweite rund 300 Yards.
Al Fairweather war die Bestürzung anzumerken.
»Großer Gott, Harry, das ist ja … satanisch.«
»Und hochkomplexe Technologie«, sagte der Innenminister. »Das dicke Ende kommt noch. Lesen Sie die Zusammenfassung.«
»Aber warum?« fragte der Botschafter, als er schließlich aufblickte. »Um Himmels willen, warum, Harry? Und wie haben sie die Bombe hochgehen lassen?«
»Was das Wie angeht, gibt es nur eine einzige Erklärung. Die Bestien taten so, als wollten sie Simon Cormack freilassen. Sie müssen ein Stück weitergefahren sein, dann zu Fuß einen Bogen zurück geschlagen und sich dem Straßenstück von den Feldern her genähert haben. Vermutlich haben sie sich in einer dieser Baumgruppen versteckt, die 200 Yards von der Straße entfernt hinter den Feldern stehen. Das wäre innerhalb der Reichweite gewesen. Wir lassen im Moment die Gehölze nach möglichen Fußspuren absuchen.
Was das Warum betrifft, Al, darauf weiß ich keine Antwort. Keiner von uns weiß eine. Aber die Experten sind sich ganz sicher. Sie täuschen sich nicht. Ich möchte vorschlagen, daß die Berichte vorläufig als höchst vertraulich behandelt werden. Bis wir mehr wissen. Wir bemühen uns darum. Ich bin überzeugt, bei Ihnen wird man das auch versuchen wollen, ehe irgend etwas an die Öffentlichkeit geht.«
Fairweather erhob sich und nahm seine Kopien der Berichte an sich.
»Ich schicke sie nicht per Kurier hinüber«, sagte her. »Ich fliege noch heute nachmittag nach Hause und nehme sie mit.«
Der Innenminister begleitete ihn hinab ins Erdgeschoß.
»Sie sind sich bewußt, welche Folgen es haben könnte, wenn das herauskommt?« fragte er.
»Das müssen Sie mir nicht erst sagen«, antwortete Fairweather. »Es würde zu Ausschreitungen kommen. Ich muß diese Sache Jim Donaldson und vielleicht auch Michael Odell vorlegen. Sie müssen dem Präsidenten davon berichten. Mein Gott, was für eine fürchterliche Geschichte!«
Sam Somervilles Mietwagen stand noch auf dem Kurzzeit-Parkplatz in Heathrow, wo sie ihn zurückgelassen hatte. Sie fuhr sofort zu dem Herrenhaus in Surrey. Kevin Brown las den Brief, den sie mitgebracht hatte, und machte ein finsteres Gesicht.
»Sie sind im Begriff, einen Fehler zu machen, Agentin Somerville«, sagte er. »Auch Direktor Edmonds macht einen Fehler. Der Mann unten im Keller weiß mehr, als er zugibt – das war von Anfang an so, wird immer so sein. Ich finde es ganz verkehrt, daß man ihn freiläßt. Wenn es nach mir ginge, säße er in einem Flugzeug in die Staaten – mit Handschellen.«
Doch die Unterschrift unter dem Brief war eindeutig. Brown schickte Moxon hinab in den Keller, um Quinn heraufzuholen. Er war noch immer in Handschellen, die man ihm nun abnehmen mußte. Und er war ungewaschen, unrasiert und hungrig. Das FBI-Team war dabei, auszuziehen und das Gebäude seinen Gastgebern zurückzugeben. An der Tür wandte sich Brown um und sagte zu Quinn: »Ich will Sie nicht wiedersehen, Quinn. Außer hinter schwedischen Gardinen. Und ich denke, das werde ich eines Tages erleben.«
Auf der Fahrt zurück nach London hörte sich Quinn schweigend an, wie Sam ihm vom Ergebnis ihres Fluges nach Washington und der Entscheidung des Weißen Hauses berichtete, ihm seinen Willen zu lassen, sofern sie ihn begleitete:
»Aber sei auf der Hut, Quinn! Diese Typen müssen Bestien sein. Was sie mit dem Jungen gemacht haben, war grauenhaft …«
»Schlimmer noch«, sagte Quinn. »Es war unlogisch. Das ist es, was ich mir nicht erklären kann. Es ergibt keinen Sinn. Sie hatten doch alles. Sie waren entkommen, außer Gefahr. Warum umkehren, um den Jungen zu töten?«
»Weil sie Sadisten sind«, sagte Sam. »Du kennst doch diese Leute, hast jahrelang mit diesen Typen zu tun gehabt. Sie kennen keine Gnade, kein Mitgefühl. Es macht ihnen Spaß, Menschen leiden zu lassen. Es war von Anfang an ihre Absicht, ihn umzubringen …«
»Warum dann nicht unten im Keller. Warum nicht auch mich? Warum nicht mit einem Revolver, einem Messer oder einem Strick? Warum überhaupt?«
»Das werden wir nie erfahren. Es sei denn, sie werden erwischt. Und die ganze Welt steht ihnen offen, unterzutauchen. Wo möchtest du jetzt hin?«
»Zu unserer Wohnung«, sagte Quinn. »Ich hab’ meine Sachen dort.«
»Ich auch«, sagte Sam. »Ich bin nur mit dem, was ich am Leib hatte, nach Washington geflogen.«
Sie fuhr in nördlicher Richtung die Warwick Road hinauf.
»Du bist zu weit gefahren«, sagte Quinn, der sich in London auskannte wie ein Taxifahrer. »Bieg an der nächsten Kreuzung in die Cromwell Road ab.«
Die Ampeln standen auf Rot. Vor ihnen überquerte ein langer, schwarzer Cadillac mit dem wehenden Sternenbanner-Wimpel die Kreuzung. Im Fond saß Botschafter Fairweather, zum Flughafen unterwegs, und studierte einen Bericht. Er blickte auf, sah die beiden kurz an, ohne sie zu erkennen, und war auch schon fort.
Duncan McCrea war noch da, als wäre er im Durcheinander der letzten Tage vergessen worden. Er begrüßte Quinn wie ein junger Labrador, der wieder mit seinem Herrn vereint ist.
Einige Stunden vorher, berichtete er, hatte Lou Collins die Ausputzer geschickt. Das waren keine Männer, die mit Staubwedeln hantierten. Sie hatten die Wanzen beseitigt. Aus der Sicht der »Company« war die Wohnung verbrannt, für sie fortan nutzlos. McCrea war angewiesen worden, noch zu bleiben, zu packen, aufzuräumen und am nächsten Morgen, wenn er ging, dem Vermieter die Schlüssel zurückzubringen. Er war gerade damit beschäftigt gewesen, Sams und Quinns Sachen zu packen, als sie ankamen.
»Nun, Duncan, entweder bleiben wir hier oder wir gehen in ein Hotel. Haben Sie was dagegen, wenn wir hier noch eine Nacht verbringen?«
»Aber natürlich nicht, kein Problem. Fühlen Sie sich als Gäste der Agency. Es tut mir schrecklich leid, aber morgen früh müssen wir hier raus.«
»Morgen früh, das ist okay«, sagte Quinn. Er spürte die Versuchung, dem Jüngeren mit einer väterlichen Geste durchs Haar zu fahren. McCreas Lächeln war ansteckend. »Ich brauche ein Bad, eine Rasur, was zu essen und ungefähr zehn Stunden Schlaf.«
McCrea verließ die Wohnung, ging hinüber zu Mr. Patels Geschäft und kam mit zwei großen Plastiktüten zurück. Er machte Steaks, Pommes frites, Salat, und dazu gab es zwei Flaschen Rotwein. Quinn bemerkte mit Rührung, daß der junge Mann einen Rioja ausgesucht hatte, zwar nicht aus Andalusien, aber doch aus einem nahen Anbaugebiet.
Sam sah keine Notwendigkeit, ihre Affäre mit Quinn noch länger zu verheimlichen. Sie kam in sein Zimmer, sobald er sich zurückgezogen hatte, und wenn der junge McCrea ihr Liebesspiel hörte, was war dabei? Nach dem zweiten Mal schlief sie ein, auf dem Bauch liegend, das Gesicht an seiner Brust. Er legte eine Hand auf ihren Nacken, und sie murmelte, als sie die Berührung spürte.
Doch so müde er auch war, einschlafen konnte er nicht. Er lag, wie in so vielen vergangenen Nächten, auf dem Rücken, schaute zur Decke hinauf und hing seinen Gedanken nach. Irgend etwas an diesen Männern in dem Lagerhaus war ihm entgangen. In den frühen Morgenstunden kam er darauf. Der Mann hinter ihm, der mit geübter Lässigkeit die Skorpion gehalten hatte, nicht vorsichtig und angespannt wie einer, der den Umgang mit Handfeuerwaffen nicht gewöhnt ist, sondern locker, entspannt, selbstsicher, ein Mann, der wußte, daß er im Bruchteil einer Sekunde seine Maschinenpistole in Schußposition bringen und feuern konnte. Seine gelassene Haltung – Quinn hatte sie schon einmal gesehen.
»Er war ein Soldat«, murmelte er in die Finsternis. Sam brummte etwas, schlief aber weiter. Noch etwas anderes hatte er registriert, als er an der einen Tür des Volvos vorbeigekommen war, um in den Kofferraum zu steigen. Doch es wollte ihm nicht einfallen, und endlich schlief er ein.
Am nächsten Morgen stand Sam als erste auf und ging in ihr Zimmer, um sich anzuziehen. Wenn Duncan McCrea sie aus Quinns Zimmer hatte kommen sehen, so behielt er es jedenfalls für sich. Es war ihm wichtiger, daß seine Gäste ein anständiges Frühstück bekamen.
»Gestern abend … habe ich vergessen, Eier zu kaufen«, rief er und flitzte die Treppe hinunter, um in einem Milchladen um die Ecke, der schon früh geöffnet war, welche zu besorgen.
Sam brachte Quinn das Frühstück ans Bett. Er war in Gedanken verloren. Sie war seine Träumereien schon gewohnt und ließ ihn wieder allein. Lou Collins Ausputzer, dachte sie, haben allerdings nicht sauber gemacht. Vier Wochen waren die Räume nicht gereinigt worden, und überall lag Staub.
Der Staub kümmerte Quinn nicht. Er beobachtete eine Spinne in einer der oberen Zimmerecken ihm gegenüber. Fleißig verknüpfte das kleine Tier die letzten beiden Fäden eines im übrigen schon vollkommenen Netzes, huschte dann in die Mitte des Gebildes und verharrte dort wartend. Diese letzte Bewegung der Spinne brachte Quinn schließlich auf das winzige Detail, daß ihm am Abend vorher nicht hatte einfallen wollen.
Die Mitglieder des Komitees im Weißen Haus hatten Dr. Barnards und Dr. MacDonalds umfangreiche Berichte vor sich liegen. Sie waren gerade mit dem ersten beschäftigt. Einer nach dem andern kamen sie zum Ende der Zusammenfassung und lehnten sich zurück.
»Dreckskerle!« sagte Michael Odell mit Emphase. Er sprach für alle Anwesenden. Am Kopfende des Tisches saß Botschafter Fairweather.
»Besteht irgendeine Möglichkeit, daß die britischen Experten sich getäuscht haben könnten?« fragte Außenminister Donaldson. »Über die Herkunft dieser Dinge?«
»Sie sagen, nein«, antwortete der Botschafter. »Sie fordern uns auf, einen von unseren Leuten hinüberzuschicken, um die Ergebnisse nachzuprüfen, aber sie verstehen ihr Handwerk. Ich muß leider sagen, daß sie wohl recht haben.«
Das dicke Ende, wie Sir Harry Marriott gesagt hatte, kam in der Zusammenfassung. Sämtliche Komponenten, hatte Dr. Barnard mit voller Zustimmung seiner militärischen Kollegen in Fort Halstead erklärt, die Kupferdrähte, ihr Kunststoffüberzug, der Plastiksprengstoff, der Impulsempfänger, die Batterie, das Messing und die zusammengenähten Lederstreifen des Gürtels, alles sei in der Sowjetunion hergestellt worden.
Er räumte die Möglichkeit ein, daß diese Gegenstände, wenn auch aus sowjetischer Produktion, in die Hände von Leuten außerhalb der Sowjetunion gelangt sein könnten. Aber der springende Punkt sei der Miniaturzünder. Solche Kleinzünder, nicht größer als eine Heftklammer, würden nur im Rahmen des sowjetischen Raumfahrtprogramms -in Baikonur verwendet. Sie dienten dazu, winzige Steuerungskorrekturen zu bewirken, wenn die Raumschiffe Saljut und Sojus im Weltraum andocken.
»Aber das ist doch nicht einleuchtend«, protestierte Donaldson. »Warum sollten sie so etwas tun?«
»In diesem ganzen Schlamassel leuchtet einem eine Menge nicht ein«, sagte Odell. »Wenn das zutrifft, sehe ich nicht, wie Quinn davon erfahren haben könnte. Es sieht so aus, als wäre er, als wären wir alle die ganze Zeit hereingelegt worden.«
»Jetzt geht es darum, wie wir darauf reagieren«, sagte Finanzminister Reed.
»Das Begräbnis ist morgen«, sagte Odell. »Zuerst bringen wir das hinter uns. Dann werden wir entscheiden, was wir mit unseren russischen Freunden anfangen werden.«
Im Laufe der vergangenen vier Wochen hatte Odell festgestellt, daß ihm die Bürde, an Stelle des Präsidenten zu handeln, immer leichter wurde. Auch die Männer um diesen Tisch hatten seine Führung akzeptiert, verhielten sich zunehmend so, als wäre er selbst der Präsident.
»Wie geht es dem Präsidenten?« fragte Walters, »seit … er die Nachricht erhalten hat?«
»Schlecht, sagt der Doktor«, antwortete Odell. »Sehr schlecht. Die Entführung war schon furchtbar für ihn, aber daß sein Sohn sterben mußte und unter solchen Umständen, hat ihn wie eine Kugel in den Leib getroffen.«
Bei dem Wort »Kugel« ging jedem am Tisch der gleiche Gedanke durch den Kopf. Doch keiner wagte ihn auszusprechen.
Julian Hayman stand im gleichen Alter wie Quinn. Die beiden hatten einander kennengelernt, als Quinn in London lebte und für die Versicherungsfirma arbeitete, die sich auf Personenschutz und Geiselbefreiung spezialisiert hatte. Ihre Welten hatten einiges gemeinsam, denn Hayman, früher Major bei der SAS, hatte eine Firma, die Alarmsysteme lieferte und Personenschutz einschließlich Leibwächter bereitstellte. Seine Klientel war exklusiv, wohlhabend und auf Vorsicht bedacht. Es waren Leute, die Grund hatten, mißtrauisch zu sein, sonst hätten sie für Haymans Dienstleistungen nicht soviel Geld berappt.
Am späteren Vormittag, nachdem sie die Wohnung verlassen und von Duncan MacCrea endgültig Abschied genommen hatten, ging Quinn mit Sam nach Victoria, wo Haymans Firma residierte, unauffällig und gut abgesichert.
Quinn sagte zu Sam, sie solle sich in einem Café weiter unten an der Straße ans Fenster setzen und auf ihn warten.
»Warum kann ich dich nicht begleiten?« frage sie.
»Weil er dich nicht empfangen würde. Vielleicht läßt er nicht einmal mich vor. Aber ich hoffe, er tut es doch. Wir sind ja alte Bekannte. Für fremde Leute hat er nicht viel übrig, es sei denn, sie legen eine Menge Geld auf den Tisch, was bei uns nicht der Fall ist. Und was Damen vom FBI betrifft, ist er scheu wie Wild.«
Quinn meldete sich durch die Sprechanlage an und bemerkte, daß er von einer Videokamera über dem Eingang kontrolliert wurde. Als die Tür aufging, marschierte er sofort in den hinteren Bereich, vorbei an zwei Sekretärinnen, die nicht einmal den Kopf hoben. Julian Hayman war in seinem Büro am Ende des Erdgeschosses. Der Raum war ebenso elegant wie der Mann, der sich hier aufhielt. Er hatte keine Fenster, öffnete sich nach außen ebensowenig wie Hayman selbst.
»Schau an, schau an«, sagte er gedehnt. »Lang’ ist’s her, alter Krieger.« Er reichte ihm die schlaffe Hand. »Was führt Sie denn in meinen bescheidenen Laden?«
»Ich brauche Informationen«, sagte Quinn. Er erklärte Hayman, was er brauche.
»Früher, mein Junge, wäre das kein Problem gewesen. Aber die Zeiten ändern sich, verstehen Sie? Es ist so, daß nicht gut über Sie gesprochen wird, Quinn. Persona non grata, heißt’s im Klub. Sie stehen bei den Leuten nicht gerade sehr in Gunst, besonders nicht bei Ihren eigenen. Tut mir leid, alter Junge, Ihnen hängt was an. Ich kann Ihnen nicht helfen.«
Quinn nahm den Hörer von einem Apparat auf dem Schreibtisch ab und drückte rasch auf mehrere Knöpfe. Am anderen Ende der Leitung begann es zu klingeln.
»Was machen Sie denn da?« fragte Hayman. Der gemütliche Ton war verschwunden.
»Niemand hat mich hier reingehen sehen, aber die halbe Fleet Street wird mich rausgehen sehn«, antwortete Quinn.
»Daily Mail«, meldete sich eine Stimme am Hörer. Hayman griff herüber und unterbrach den Anruf. Zu seinen zahlungskräftigsten Kunden gehörten viele Niederlassungen amerikanischer Konzerne in Europa, denen er lieber keine mühsam ausgeklügelten Erklärungen geben wollte.
»Sie sind ein Scheißkerl, Quinn«, sagte er schwach. »Waren schon immer einer. Also gut, ein paar Stunden im Archiv, und mitgenommen wird nichts.«
»Das werd’ ich doch Ihnen nicht antun«, sagte Quinn liebenswürdig. Hayman führte ihn in sein Archiv im Souterrain.
Teils aus geschäftlichen Gründen, teils aus persönlichem Interesse hatte Julian Hayman im Laufe der Jahre ein umfassendes Archiv von Rechtsbrechern jeglicher Art angelegt. Mörder, Bankräuber, Gangster, Betrüger, Rauschgifthändler, Waffenschieber, Terroristen, Kidnapper, korrupte Banker, Buchhalter, Anwälte, Politiker und Polizeibeamte, tot, lebend, im Gefängnis oder einfach abgängig – er ließ sie archivieren, wenn ihre Namen gedruckt auftauchten, und oft auch nur einfach so.
»Irgendeine bestimmte Abteilung?« fragte Haymann, als er die Beleuchtung anschaltete. Der ganze Raum war voller Aktenschränke, und dabei wurden hier nur die Karteikarten und die Fotografien aufbewahrt. Die Mehrzahl der Daten war gespeichert.
»Söldner«, sagte Quinn.
»Wie im Kongo?« fragte Hayman.
»Wie im Kongo, im Jemen, im südlichen Sudan, in Biafra, Rhodesien.«
»Von hier bis da«, sagte Hayman und deutete auf acht Meter stählerne Aktenschränke, die einem Mann bis in Kinnhöhe reichten. »Der Tisch ist dort am Ende.«
Quinn brauchte vier Stunden, aber er wurde von niemandem gestört. Das Foto zeigte vier Männer, alle Weiße. Sie standen um den Kühler eines Jeep gruppiert, auf einer schmalen, staubbedeckten Straße, eingerahmt von, wie es aussah, afrikanischem Buschland. Hinter ihnen waren mehrere schwarze Soldaten zu erkennen. Die Weißen trugen Kampfuniformen mit Tarnjacken und Kalbslederstiefel. Drei hatten Tropenhelme auf. Alle hielten belgische automatische FLN-Gewehre in den Händen. Ihre Kampfanzüge waren leopardenartig gefleckt, wie sie die Europäer im Gegensatz zu den gestreiften der Briten und Amerikaner bevorzugen.
Quinn ging mit dem Foto zum Tisch, legte es unter die Leselampe und fand in der Schublade ein starkes Vergrößerungsglas. Darunter trat, obwohl das alte Foto schon vergilbt war, das Muster an der Hand eines der Männer deutlicher hervor. Ein Spinnennetz auf dem linken Handrücken und in der Mitte des Netzes die lauernde Spinne.
Er durchsuchte die Bestände noch weiter, fand aber sonst nichts Interessantes. Nichts, was ihm bekannt vorkam. Er drückte auf den Summer, um hinausgelassen zu werden.
In seinem Büro streckte Julian Hayman die Hand nach dem Foto aus.
»Wer sind die?« fragte Quinn. Hayman betrachtete die Rückseite der Aufnahme. Wie jede andere Karteikarte und Fotografie in seiner Sammlung hatte sie umseitig eine siebenstellige Zahl. Er tippte die Zahl auf das Tastenfeld seines Desk-top-Computers. Auf dem Bildschirm erschien die volle Eintragung.
»Na, da haben Sie ja ein paar reizende Burschen rausgesucht, mein Freund.«
Er las vom Bildschirm ab: »Foto mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in der Provinz Maniema, östlicher Kongo, heute Zaire, irgendwann im Winter 1964 aufgenommen. Der Mann links ist Jacques Schramme, Black Jack Schramme, der belgische Söldner.«
Er geriet in Fahrt. Söldner waren seine Spezialität.
»Schramme war einer der ersten. Er kämpfte 1960 bis 1962 gegen die Einheiten der Vereinten Nationen, als Katanga sich vom Kongo loslösen wollte. Als der Versuch scheiterte, mußte er außer Landes gehen und suchte Zuflucht im benachbarten Angola, damals noch portugiesisch regiert und ultrarechts. Wurde im Herbst 1964 zur Rückkehr aufgefordert, um bei der Niederschlagung der Simba-Revolte mitzuhelfen. Stellte seine alte Leopardengruppe wieder auf die Beine und machte sich daran, die Provinz Maniema zu befrieden. Ja, das ist er. Sonst noch was?«
»Die anderen?«
»Hm. Der eine ganz links ist ebenfalls ein Belgier, Kommandeur Wauthier. Er befehligte damals in Watsa ein Kontingent ausgehobener Katangesen und ungefähr zwanzig weiße Söldner. Muß zu Besuch gewesen sein. Interessieren Sie sich für Belgier?«
»Vielleicht.« Quinns Gedanken kehrten zu dem Volvo in der Lagerhalle zurück. Er war an der offenen Tür vorbeigekommen und hatte den Rauch einer Zigarette gespürt. Keine Marlboro, keine Dunhill. Eher Gauloises. Oder Bastos, die belgische Sorte. Zack rauchte nicht; er hatte seinen Atem gerochen.
»Der ohne Hut, in der Mitte, ist Roger Lagaillarde, ebenfalls ein Belgier. Bei einem Überfall von Simbas auf der Straße nach Punia getötet. Keine Frage.«
»Und der große Typ?« fragte Quinn. »Der Riese?«
»Ja, groß ist der wirklich«, sagte Hayman. »Muß an die zwei Meter sein. Gebaut wie ein Scheunentor. Anfang zwanzig, so wie er aussieht. Leider hat er den Kopf weggedreht. Weil sein Tropenhelm einen Schatten wirft, kann man von seinem Gesicht nicht viel sehen. Vermutlich deswegen hat er keinen Namen. Nur einen Spitznamen – der große Paul. Das ist alles, was hier steht.«
Er schaltete den Bildschirm ab. Quinn hatte etwas auf einen Schreibblock gezeichnet. Er schob es zu Hayman hinüber.
»Haben Sie das schon mal gesehen?«
Hayman blickte auf das Spinnennetz mit der Spinne in der Mitte. Er zuckte die Achseln.
»Eine Tätowierung? Wie sie junge Rabauken, Punks, Fußballschläger tragen. Ziemlich häufig zu sehen.«
»Versuchen Sie zurückzudenken«, sagte Quinn. »Belgien, sagen wir, vor dreißig Jahren.«
»Ah, Moment. Wie zum Teufel, hat das wieder geheißen? Ja, richtig, Arraignee. Das flämische Wort für Spinne fällt mir jetzt nicht ein, nur das französische.«
Er tippte mehrere Sekunden lang auf seine Tasten.
»Schwarzes Netz, rote Spinne in der Mitte, auf dem linken Handrücken?«
Quinn strengte sein Gedächtnis an. Er war an der offenen Beifahrertür des Volvo vorbeigekommen. Zack hinter ihm. Der Mann auf dem Fahrersitz hatte sich hergebeugt und ihn durch die Schlitze in der Kapuze beobachtet. Ein großer Mann, der sitzend beinahe das Wagendach berührte. Zur Seite gelehnt, sich mit der linken Hand abstützend. Und er hatte den linken Handschuh zum Rauchen abgestreift.
»Yeah«, sagte Quinn, »das war’s.«
»Ein belangloser Verein«, sagte Hayman abschätzig, während er vom Schirm ablas. »Rechtsextreme Organisation, Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre entstanden. War gegen die Entkolonialisierung des Kongo, Belgiens einziger Kolonie. Natürlich gegen Schwarze und auch gegen Juden. Rekrutierte junge Ausreißer und Rabauken, Schläger und anderes Pack. Darauf spezialisiert, Schaufenster von jüdischen Geschäften einzuwerfen, linke Redner durch Zwischenrufe zu stören, liberale Abgeordnete zu verprügeln. Schließlich ist es still um sie geworden. Durch die Auflösung der europäischen Kolonialreiche sind ja alle möglichen derartigen Gruppen entstanden.«
»War es eine flämische oder eine wallonische Bewegung?« fragte Quinn. Er wußte, daß es in Belgien zwei große Volksgruppen gibt, die Flämisch sprechenden Flamen, vor allem in der nördlichen, an Holland grenzenden Landeshälfte, und die Wallonen im Süden, die französisch sprechen. Belgien ist ein zweisprachiges Land.
»Genaugenommen beides«, sagte Hayman, nachdem er sein Gerät zu Rate gezogen hatte. »Aber hier heißt es, sie entstand in Antwerpen und war dort immer am stärksten. Also nehme ich an, flämisch.«
Jede andere Frau hätte Gift und Galle gespuckt, wenn man sie viereinhalb Stunden hätte warten lassen. Zum Glück für Quinn war Sam eine geschulte Spezialagentin und hatte gelernt, wie man sich beim Beschatten, der langweiligsten Aufgabe von der Welt, in Geduld übt. Sie saß bei ihrer fünften Tasse schauderhaften Kaffees.
»Wann bringst du deinen Mietwagen zurück?« fragte er.
»Heute abend. Ich könnte ihn länger behalten.«
»Kannst du ihn am Flughafen zurückgeben?«
»Sicher. Warum fragst du?«
»Weil wir nach Brüssel fliegen.«
Das schien sie nicht zu freuen.
»Bitte, Quinn, müssen wir unbedingt fliegen? Ich nehme es auf mich, wenn es nicht anders geht, aber wenn ich kann, drücke ich mich davor. Außerdem bin ich in letzter Zeit zuviel geflogen.«
»Okay«, sagte er. »Gib den Wagen in London zurück. Wir nehmen den Zug und das Hovercraft-Boot. Wir müssen ja sowieso in Belgien einen Wagen mieten. Warum nicht in Ostende? Und wir brauchen Geld. Ich habe keine Kreditkarten.«
»Du hast was nicht?« Das hatte sie noch niemanden sagen hören.
»In Akantara del Rio brauche ich keine.«
»Okay, wir gehen auf die Bank. Ich werde einen Scheck ausschreiben. Hoffentlich habe ich zu Hause genug auf meinem Konto.«
Auf der Fahrt zur Bank schaltete sie das Radio an, das Trauermusik brachte. In London war es 16 Uhr und wurde schon dunkel. In weiter Ferne, jenseits des Atlantik, beerdigte zu dieser Stunde die Familie Cormack ihren Sohn.