10. Kapitel
Quinn hatte nur dreißig Sekunden, nachdem er von der Straße mit dem Apartment-Haus abgebogen war, den Aktenkoffer auf den Rücksitz des Golf GTI geworfen. Als er den Koffer, so wie er ihm von Lou Collins übergeben worden war, vor Tagesanbruch geöffnet hatte, hatte er, wie zu erwarten war, kein Peilgerät entdeckt. Wer auch immer im Laboratorium den Koffer präpariert hatte, war schlau genug gewesen, keinerlei sichtbare Spuren des Einbaus zu hinterlassen. Quinn hatte einfach angenommen, daß sich in dem Köfferchen irgend etwas befand, das die Polizei oder die SAS zu dem von ihm und Zack zu vereinbarenden Treffpunkt führen sollte.
Als er an einer Ampel warten mußte, hatte er rasch die Schlösser geöffnet, das Diamantenpäckchen in seine Lederjacke gesteckt, den Reißverschluß hochgezogen und um sich geblickt. Der Golf stand neben ihm. Der Fahrer mit der Pelzmütze über den Ohren hatte überhaupt nichts bemerkt.
Nach einer Fahrt von anderthalb Meilen ließ Quinn das Motorrad stehen; ohne den gesetzlich vorgeschriebenen Sturzhelm konnte er zu leicht einem Polizisten auffallen. Vor dem Brompton Oratory winkte er einem Taxi, ließ sich nach Marylebone fahren, entlohnte den Fahrer in der George Street, und ging zu Fuß weiter.
Seine Taschen enthielten alles, was er unauffällig aus der Wohnung hatte mitnehmen können: seinen amerikanischen Paß und Führerschein – beide allerdings schon bald nutzlos, wenn die Fahndung nach ihm begann –, ein Bündel englischer Geldscheine aus Sams Handtasche, sein Taschenmesser mit den vielen Zusatzklingen und eine Zange aus dem Sicherungsschrank. In einer Drogerie in der Marylebone High Street erstand er eine Brille mit gewöhnlichem Fensterglas und dickem Horngestell, bei einem Herrenausstatter einen Tweedhut und einen Burberry-Trenchcoat.
Weitere Einkäufe machte er in einem Süßwarengeschäft, einem Laden mit Haushaltswaren und in einem Koffergeschäft. Dann sah er auf seine Uhr; fünfundfünfzig Minuten waren vergangen, seit er in Mr. Patels Obstladen den Hörer aufgelegt hatte. Er bog in die Blandford Street ein und fand an der Ecke zur Chiltern Street die zwei Telefonzellen, nach denen er gesucht hatte. Er ging in die zweite; ihre Nummer hatte er drei Wochen vorher auswendig gelernt und eine Stunde vorher Zack diktiert. Der Anruf kam auf die Minute pünktlich.
»So, du Scheißkerl, was hast du eigentlich vor?«
Zack begriff nicht, war mißtrauisch und aufgebracht.
Mit ein paar kurzen Sätzen erklärte Quinn, was er getan hatte. Zack hörte schweigend zu.
»Erzählst du mir da kein Märchen?« fragte er. »Weil nämlich sonst der Junge noch immer in einem Leichensack enden wird.«
»Hör zu, Zack, offen gesagt, ist’s mir scheißegal, ob sie euch erwischen oder nicht. Mir geht’s nur um eines: den Jungen lebend und unversehrt zu seiner Familie zurückzubringen. Und ich hab’ in meiner Jackentasche Rohdiamanten im Wert von zwei Millionen Dollar, die dich schätzungsweise interessieren dürften. Ich hab’ jetzt die Bluthunde abgehängt, weil sie sich immer wieder einmischen wollen. Willst du jetzt, daß wir den Austausch verabreden oder nicht?«
»Die Zeit ist abgelaufen«, sagte Zack, »ich geh’ hier raus.«
»Ich telefoniere zufällig aus einer Zelle in Marylebone«, sagte Quinn, »aber du hast recht, daß du mißtrauisch bist. Ruf mich heut abend unter derselben Nummer noch mal an und sag mir Genaueres. Ich komme, allein, unbewaffnet, mit den Steinen, egal wohin. Aber richte es so ein, daß es schon dunkel ist, weil ich abgehauen bin. Sagen wir, um acht.«
»Einverstanden«, knurrte Zack. »Sei pünktlich.«
Es war derselbe Augenblick, in dem Sergeant Kidd das Mikro seines Funkgeräts in die Hand nahm, um mit Nigel Cramer zu sprechen. Wenige Minuten später erhielt jede Polizeiwache im Bereich der Metropolitan Police die Beschreibung eines Mannes und Instruktionen für alle Beamten, die auf den Straßen Dienst taten, die Augen offenzuhalten, sich dem Verdächtigen, falls sie ihn entdecken sollten, nicht zu nähern, die Polizeiwache zu verständigen, den Mann zu beschatten, doch nicht weiter tätig zu werden. Für die Großfahndung nach ihm war kein Name angegeben und ebensowenig ein Grund, warum er gesucht wurde.
Als Quinn das Telefonhäuschen verlassen hatte, ging er zurück zur Blandford Street und diese entlang bis zum Blackwood’s Hotel. Es war eine jener schon seit langem bestehenden Herbergen, in den Seitenstraßen Londons versteckt, die es irgendwie geschafft hatten, nicht von den großen Hotelketten aufgekauft und zu Tode renoviert zu werden, ein efeubewachsenes Haus mit zwanzig Gästezimmern, getäfelten Wänden und Erkern. Ein Feuer brannte in einem gemauerten Kamin des Empfangsbereichs, in dem kleine Teppiche die unebenen Dielen bedeckten. Quinn näherte sich dem nett aussehenden Mädchen hinter der Rezeption.
»Hi«, sagte er mit seinem breitesten Grinsen.
Sie blickte hoch und lächelte zurück. Hochgewachsen, leicht nach vorne gebeugt, Tweedhut, Burberry und Kalbsledertasche – ein amerikanischer Tourist, wie er im Buche stand.
»Guten Tag, Sir, kann ich Ihnen behilflich sein?«
»Ja, ich hoffe schon, Miss, ja, ganz sicher. Seh’n Sie«, sagte er im breit gedehnten Südstaaten-Amerikanisch, »ich bin gerade aus den Staaten gekommen mit Ihrer British Airways – überhaupt meine Lieblings-Airline und was glauben Sie, was denen passiert ist? Sie haben mein Gepäck verloren, ja, ma’am, sie haben es versehentlich nach Frankfurt weitergeschickt …«
Ihr Gesicht zog sich mitfühlend zusammen.
»Seh’n Sie, sie beschaffen es mir natürlich wieder, spätestens in vierundzwanzig Stunden hab’ ich’s. Nur stecken leider alle Unterlagen für meine Pauschalreise in meiner Reisetasche, und es ist nicht zu fassen, aber ich kann mich einfach nicht mehr erinnern, wo für mich gebucht wurde. Eine Stunde lang bin ich mit dieser Dame von der Airline Namen der Londoner Hotels durchgegangen – wissen Sie, wie viele es davon gibt? –, aber null Chance, daß es mir einfällt, bevor ich meine Tasche wieder habe. Also hab’ ich, um es kurz zu machen, ein Taxi in die Stadt genommen, und der Fahrer meinte, hier bei Ihnen ist’s wirklich nett … äh … und hätten Sie vielleicht zufällig ein Zimmer für diese Nacht frei? Übrigens, ich heiße Harry Russell …«
Sie war ganz bezaubert. Der große Mann wirkte so bekümmert über den Verlust seines Gepäcks und weil er sich nicht erinnern konnte, welches Hotel für ihn gebucht war! Sie ging oft ins Kino und fand, er sah ein bißchen aus wie dieser hagere Amerikaner, der durch die Spaghetti-Western berühmt geworden war, obwohl er wie dieser Mann aus »Dallas«, der mit der komischen Feder am Hut, redete. Sie kam gar nicht auf den Gedanken, ihm seine Geschichte nicht abzunehmen oder auch nur nach seinem Paß zu fragen. Das Blackwood’s Hotel nahm normalerweise keine Gäste ohne Gepäck und Reservierung auf, aber da er sein Gepäck verloren und obendrein den Namen seines Hotels vergessen hatte und mit einer britischen Fluggesellschaft … Sie überflog die Liste der leeren Zimmer – die meisten ihrer Gäste waren Stammgäste aus der Provinz, ein paar Dauergäste.
»Ich habe nur dieses eine, Mr. Russell, leider ein kleines, nach hinten hinaus …«
»Das tut’s längst für mich, young lady. Oh, ich kann bar bezahlen, hab’ gleich am Flughafen ein paar Dollar eingetauscht …«
»Morgen früh, Mr. Russell.« Sie griff nach einem alten Messingschlüssel. »Die Treppe hinauf, im zweiten Stock.«
Quinn ging die ausgetretenen Stufen hinauf, fand Zimmer Nr. und sperrte auf. Klein, sauber und bequem. Mehr als ausreichend. Er zog sich bis auf die Unterhose aus, stellte den Wecker, den er in dem Haushaltswarengeschäft gekauft hatte, auf 18 Uhr und schlief ein.
»Aber warum in aller Welt hat er es getan?« fragte Sir Harry Marriott, der Innenminister. Er hatte gerade in seinem Amtszimmer im obersten Stockwerk des Innenministeriums den ganzen Hergang erfahren und einen zehn Minuten langen Anruf aus der Downing Street über sich ergehen lassen müssen. Die Dame, die dort residierte, war gar nicht entzückt gewesen.
»Ich vermute, daß er der Meinung war, er könnte niemandem vertrauen«, sagte Cramer behutsam.
»Hoffentlich sind nicht wir damit gemeint«, sagte der Minister. »Wir haben getan, was in unseren Kräften stand.«
»Nein, nicht wir«, sagte Cramer. »Er steuerte direkt auf einen Austausch mit diesem Zack zu. In einem Entführungsfall ist das immer die gefährlichste Phase. Sie verlangt ein äußerstes Maß an Fingerspitzengefühl. Nach diesen beiden Rundfunksendungen hier und in Frankreich, mit den durchgesickerten vertraulichen Informationen will er die Sache jetzt anscheinend auf eigene Faust machen. Wir können das nicht zulassen. Wir müssen ihn finden, Innenminister.«
Cramer hatte noch immer nicht verwunden, daß ihm die Verhandlungen mit den Kidnappern entzogen worden waren und er sich auf die Ermittlungsarbeit hatte beschränken müssen.
»Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wie er sich absetzen konnte«, schimpfte der Innenminister.
»Wenn ich zwei meiner Leute in der Wohnung gehabt hätte«, erinnerte ihn Cramer, »wäre es ihm auch nicht geglückt.«
»Ja, schon, aber es ist nun einmal geschehen. Suchen Sie den Mann, aber diskret, ohne Aufhebens.«
Insgeheim sagte sich der Minister, falls es diesem Quinn gelingen sollte, auf sich allein gestellt Simon Cormack zur Freiheit zu verhelfen, schön und gut. Man konnte sie so rasch wie möglich nach Amerika verfrachten. Wenn die Amerikaner aber die Sache verpfuschten, sollten sie dafür geradestehen, nicht er.
Zur selben Stunde erhielt Irving Moss einen Anruf aus Houston. Er notierte die Liste der Preise von Gemüsegärtnereien in Texas, legte den Hörer auf und entschlüsselte die Mitteilung. Dann stieß er vor Verblüffung einen Pfiff aus. Je mehr er darüber nachdachte, desto klarer wurde ihm, daß er an seinen eigenen Plänen nur wenig zu verändern haben würde.
Nach dem Fiasko an der Straße außerhalb von Mill Hill war Kevin Brown überaus gereizt in der Wohnung in Kensington erschienen. Patrick Seymour und Lou Collins begleiteten ihn. Zusammen vernahmen die drei hohen Chargen mehrere Stunden lang ihre beiden Untergebenen.
Somerville und McCrea berichteten ausführlich, was am Morgen geschehen war, wie es geschehen war und warum sie es nicht vorausgesehen hatten. McCrea war wie immer von entwaffnender Demut.
»Wenn er mit Zack wieder telefonische Verbindung aufgenommen hat, haben wir völlig die Kontrolle über ihn verloren«, sagte Brown. »Sollten sie aus öffentlichen Telefonzellen miteinander sprechen, haben die Briten keine Möglichkeit mitzuhören. Wir wissen nicht, was die beiden vorhaben.«
»Vielleicht treffen sie Vorbereitungen, Simon Cormack gegen die Diamanten auszutauschen«, sagte Seymour.
Brown knurrte grimmig.
»Wenn diese Geschichte vorbei ist, nehm’ ich mir den Klugscheißer vor.«
»Wenn er mit Simon Cormack zurückkommt«, wandte Collins ein, »werden wir ihm alle freudig sein Gepäck zum Flughafen tragen.«
Man vereinbarte, daß Somerville und McCrea für den Fall, daß Quinn anrief, in der Wohnung bleiben sollten. Die drei Telefonleitungen sollten freigehalten werden, damit er durchkam. Natürlich würde er abgehört. Die drei Besucher kehrten in die Botschaft zurück, Seymour, um sich bei Scotland Yard zu informieren, was die Fahndung, die inzwischen zu einer Doppelfahndung geworden war, erbracht hatte, die anderen beiden, um sich bereitzuhalten und Gespräche abzuhören.
Quinn erwachte um 18 Uhr, wusch und rasierte sich, wobei er die am Vortag in der High Street gekauften Toilettensachen benutzte, nahm ein leichtes Abendessen zu sich und machte sich um 19.50 Uhr wieder zu dem Telefonhäuschen in der Chiltern Street auf. Es war von einer alten Dame besetzt, die es aber 19.55 Uhr verließ. Quinn ging hinein, stellte sich mit dem Rücken zur Straße und tat so, als suchte er in den Telefonbüchern nach einer Nummer, bis 20.02 Uhr der Apparat klingelte.
»Quinn?«
»Yeah.«
»Vielleicht stimmt’s, daß du abgehauen bist, vielleicht auch nicht. Wenn es ein fauler Trick ist, kommt er dich teuer zu stehen.«
»Es ist kein Trick. Sag mir, wann ich wohin kommen soll.«
»Morgen vormittag um zehn. Ich ruf’ dich um neun unter dieser Nummer an und sag’ dir, wohin. Du hast dann gerade genug Zeit, bis zehn Uhr hinzukommen. Meine Männer werden die Stelle ab Tagesanbruch nicht aus dem Auge lassen. Wenn die Bullen anrücken oder die SAS, wenn sich überhaupt nur irgend etwas dort rührt, werden wir es bemerken und abhauen. Und beim nächsten Anruf ist Simon Cormack tot. Du wirst uns nie zu sehen bekommen; wir werden dich seh’n und jeden andern, der aufkreuzt. Sag das deinen Kumpanen, falls du vorhast, mich reinzulegen: Sie erwischen vielleicht einen oder auch zwei von uns, aber für den Jungen wird es zu spät sein.«
»Du bekommst deine Bedingungen, Zack. Ich komme allein. Keine faulen Tricks.«
»Keine elektronischen Geräte, keine Peilgeräte, keine Mikros. Wir werden dich überprüfen. Wenn du verwanzt bist, zahlt der Junge die Rechnung.«
»Wie ich gesagt habe, keine Tricks. Nur ich und die Diamanten.«
»Sei um neun wieder in deiner Zelle.«
Ein Klicken, und in der Leitung war das Freizeichen zu hören. Quinn verließ das Telefonhäuschen und ging zurück zu seinem Hotel. Er saß eine Zeitlang vor dem Fernseher, leerte dann seine Tragetasche und arbeitete zwei Stunden lang an den Dingen, die er am Nachmittag gekauft hatte. Um 2 Uhr morgens war er schließlich mit seinem Werk zufrieden.
Er duschte noch einmal, um den verräterischen Geruch loszuwerden und legte sich dann aufs Bett. Regungslos lag er da, blickte zur Decke hinauf und dachte nach. Er schlief nie viel, wenn eine entscheidende Sache bevorstand; deswegen hatte er am Nachmittag drei Stunden vorgeschlafen. Kurz vor Morgengrauen nickte er ein, und um 7 Uhr erhob er sich, als der Wecker klingelte.
Die reizende Person am Empfang war im Dienst, als er um halb neun nach unten kam. Er trug seine dickrandige Brille, den Tweedhut und den Burberry, bis zum Hals zugeknöpft. Er erklärte der jungen Dame, daß er in Heathrow sein Gepäck abholen müsse und gerne seine Rechnung hätte.
Um 8.45 Uhr schlenderte er die Straße entlang zu dem Telefonhäuschen. Um diese Zeit waren sicher keine alten Damen unterwegs. Er wartete eine Viertelstunde in der Zelle, bis es Punkt neun klingelte. Zacks Stimme war heiser vor innerer Anspannung.
»Jamaica Road, Rotherhithe«, sagte er.
Quinn kannte die Gegend nicht, hatte aber davon gehört. Die alten Docks, die Gebäude teilweise zu eleganten neuen Häusern und Wohnungen für Yuppies umgebaut, andere Teile hingegen noch heruntergekommen – verlassene Kais und aufgegebene Lagerhäuser.
»Und weiter?«
Zack erklärte ihm den Weg. Von der Jamaica Road in eine Straße abbiegen, die zur Themse führt.
»Es ist ein einstöckiges Lagerhaus aus Stahl, an beiden Enden offen. Über den Toren steht noch der Name ›Babbidge‹. Bezahl das Taxi oben am Anfang der Straße. Geh sie entlang und in die südliche Einfahrt. Geh bis zur Mitte und bleib dann stehen. Wenn dir irgend jemand folgt, lassen wir uns nicht blicken.«
Das Gespräch war zu Ende. Quinn verließ die Telefonzelle und warf seine leere Kalbsledertasche in eine Mülltonne. Er hielt nach einem Taxi Ausschau. Wegen der morgendlichen Stoßzeit war weit und breit keins zu sehen. Zehn Minuten später erwischte er eins in der Marylebone High Street und ließ sich an der U-Bahn-Station Marble Arch absetzen. Um diese Zeit braucht ein Taxi durch die engen Straßen der City und über die Themse nach Rotherhithe eine Ewigkeit.
Er nahm die U-Bahn Richtung Osten bis zum Bahnhof Bank und dann die Nordlinie, die unter der Themse hindurch nach London Bridge geht. Vor dem Bahnhof London Bridge standen Taxis. Fünfundzwanzig Minuten nach Zacks Anruf war er in der Jamaica Road.
Die Straße, die er hinuntergehen sollte, war schmal, schmutzig und menschenleer. Auf der einen Seite säumten heruntergekommene Tee-Lagerhäuser die Themse. Auf der anderen standen aufgegebene Fabrikgebäude und Wellblechschuppen. Quinn ging in der Straßenmitte, da er wußte, daß er von irgendwoher beobachtet wurde. Die Lagerhalle mit dem verblichenen Namen »Babbidge« über dem einen Eingang stand am Ende. Er ging hinein.
Zweihundert Fuß lang, achtzig Fuß breit. Von Deckenbalken hingen verrostete Ketten herab; auf dem betonierten Boden lag Abfall, in den langen Jahren, die die Halle schon leerstand, vom Wind hereingefegt. Die Tür, durch die er eingetreten war, war für einen Fußgänger groß genug, nicht aber für ein Fahrzeug; das Tor am anderen Ende hingegen war so hoch und breit, daß ein Lastwagen durchfahren konnte. Er ging bis in die Mitte der Halle und blieb stehen. Er nahm die falsche Brille und den Tweedhut ab und warf beides beiseite. Die Tarnung war nicht mehr nötig. Entweder er ging hier mit einer Abmachung über Simon Cormacks Freilassung heraus oder er brauchte ohnehin eine Polizeieskorte.
Eine Stunde lang stand er wartend da, ohne sich zu bewegen. Um 11 Uhr erschien der große Volvo am anderen Ende der Halle, kam langsam auf ihn zugefahren und blieb zwölf Meter von ihm entfernt mit laufendem Motor stehen. Auf den Vordersitzen saßen zwei Männer, beide vermummt, so daß nur ihre Augen durch die Schlitze sichtbar waren.
Das Schlurren von Turnschuhen auf dem Beton hinter ihm war für ihn mehr zu spüren als zu hören, und er warf wie zufällig einen Blick über die Schulter. Dort stand ein dritter Mann; schwarzer Trainingsanzug, eine Balaklawa-Maske über Kopf und Schultern. Er stand auf den Fußballen, hielt die Maschinenpistole lässig in den Händen.
Die Tür am Beifahrersitz des Volvo ging auf, und ein Mann stieg aus. Von mittlerer Größe und mittlerer Statur. Er rief:
»Quinn?«
Zacks Stimme. Unverkennbar.
»Hast du die Diamanten dabei?«
»Hier bei mir.«
»Gib sie her.«
»Hast du den Jungen mitgebracht, Zack?«
»Red keinen Blödsinn. Glaubst du, wir rücken ihn gegen einen Sack voller Glasperlen raus? Wir schau’n uns zuerst die Steine an. Das braucht seine Zeit. Ein einziges Stück Glas, ein einziger Simili – dann ist alles aus. Wenn sie okay sind, bekommst du den Jungen.«
»Das hab’ ich mir gedacht. So geht’s nicht.«
»Spiel keine Spiele mit mir, Quinn!«
»Das ist kein Spiel, Zack. Ich muß den Jungen seh’n. Du könntest Glassplitter bekommen – bekommst du zwar nicht, aber du möchtest sichergeh’n. Ich könnte eine Leiche bekommen.«
»Wirst du nicht.«
»Ich brauche Gewißheit. Deswegen muß ich euch begleiten.«
Hinter seiner Maske starrte Zack sein Gegenüber an, als wollte er seinen Ohren nicht trauen. Er stieß ein krächzendes Lachen aus.
»Siehst du den Mann hinter dir? Ein Wort und er pustet dich weg! Dann nehmen wir uns die Steine auch so.«
»Das könntet ihr versuchen«, räumte Quinn ein. »Schon mal so was geseh’n?«
Er knöpfte den Regenmantel auf, nahm etwas, das an seiner Taille baumelte, und hielt es hoch.
Zack betrachtete Quinn und die Vorrichtung, die er sich über dem Hemd mit Leukoplast an der Brust befestigt hatte, und fluchte leise, aber heftig.
Von einer Stelle unterhalb des Brustbeins bis zur Taille trug Quinn ein flaches Holzkistchen ohne Deckel, das früher einmal Likörbonbons enthalten hatte. Es bildete einen flachen Behälter, der mit Pflaster an der Brust befestigt war.
In der Mitte des Kistchens befand sich das mit den Diamanten gefüllte Samtpäckchen, auf beiden Seiten eingerahmt von kleinen, nicht ganz ein halbes Pfund schweren Klumpen, aus einer zähen, beigefarbenen Substanz. In einen war ein hellgrüner Draht gesteckt, dessen anderes Ende zu einer der Backen der hölzernen Wäscheklammern lief, die Quinn in der linken Hand hochhielt. Der Draht lief durch ein winziges, in die Klammer gebohrtes Loch und endete zwischen den Backen.
In dem Bonbonkistchen befand sich außerdem eine 9-Volt-Batterie PP3, an deren beiden Polen jeweils ein weiteres Stück Schnur befestigt war. Das eine führte durch die beiden kleinen Blöcke der beigefarbenen Substanz und verband sie miteinander. Das zweite Stück führte zur anderen Backe der Wäscheklammer. Die beiden Backen wurden durch einen dazwischen geklemmten Bleistiftstummel getrennt gehalten. Quinn spannte die Finger an, worauf das Bleistiftstück klappernd auf den Boden fiel.
»Theater!« sagte Zack. »Das ist doch nicht echt.«
Quinn zupfte mit der rechten Hand ein bißchen von der beigefarbenen Substanz ab, rollte es zu einem Kügelchen zusammen und ließ es über den Boden zu Zack hin tanzen. Der Verbrecher beugte sich nach vorne, hob es auf und roch daran. Der Geruch von Marzipan füllte seine Nasenlöcher.
»Semtex«, sagte er.
»Das ist tschechisch«, sagte Quinn. »Ich bevorzuge RDX.«
Zack wußte von Plastiksprengstoffen immerhin soviel, daß sie wie harmloses Marzipan aussehen und riechen. Doch damit ist die Ähnlichkeit auch schon erschöpft. Wenn sein Komplize jetzt das Feuer eröffnen sollte, würden sie alle umkommen. Der Sprengstoff in diesem Kistchen reichte aus, den Boden des Lagerhauses rein zu fegen, das Dach abzusprengen und die Diamanten auf die andere Seite der Themse zu befördern.
»Ich wußte, daß du ein mieser Typ bist«, sagte Zack. »Was willst du von mir?«
»Ich hebe den Bleistift auf, stecke ihn in die Wäscheklammer, steige in den Kofferraum des Wagens und ihr bringt mich zu dem Jungen, damit ich ihn sehen kann. Ich kann euch nicht erkennen, jetzt nicht und in Zukunft nicht. Ihr seid völlig sicher. Wenn ich sehe, daß der Junge am Leben ist, baue ich die Bombe auseinander und gebe euch die Diamanten. Ihr überprüft sie; wenn ihr mit dem Ergebnis zufrieden seid, haut ihr ab. Ich und der Junge bleiben in seinem Gefängnis. Vierundzwanzig Stunden später macht ihr einen anonymen Anruf. Die Bullen kommen und befreien uns. Die Sache ist sauber, einfach, und ihr entkommt.«
Zack wirkte unschlüssig. Es war nicht sein Plan, aber er wußte, daß er an die Wand gespielt worden war. Er griff in die Seitentasche seines Trainingsanzugs und zog ein flaches, schwarzes Kästchen heraus.
»Halt die Hände hoch und die Klammer geöffnet. Ich such’ dich jetzt nach Wanzen ab.«
Er kam heran und tastete mit dem Suchgerät Quinns Körper von Kopf bis Fuß ab. Jeder geschlossene Stromkreis eines tätigen Peilsenders oder einer Wanze an Quinns Körper hätte im Detektor ein schrilles Signal ausgelöst. Doch durch die Batterie in der Bombe floß kein Strom. Der ursprüngliche Aktenkoffer hätte das Signal ausgelöst.
»All right«, sagte Zack. Er trat einen knappen Meter zurück. Quinn roch, daß der Mann schwitzte. »Du bist sauber. Steck den Bleistift wieder rein und steig in den Kofferraum.«
Quinn tat wie geheißen. Es wurde dunkel um ihn, als sich der große, rechteckige Kofferraumdeckel schloß. Schon drei Wochen vorher waren für den entführten Simon Cormack Luftlöcher in den Boden gebohrt worden. Es war stickig, aber erträglich in dieser Enge; er hatte trotz seiner Körpergröße ausreichend Platz, solange er in der Position eines Fötus kauerte – allerdings würgte es ihn beinahe, so intensiv war der Mandelgeruch.
Der Volvo wendete, der Ganove mit der MP rannte herbei und stieg hinten ein. Alle drei Männer nahmen ihre Gesichtsmasken ab und zogen die Oberteile der Trainingsanzüge aus, worauf Hemden, Krawatten und Jacketts zum Vorschein kamen. Die Jacken der Trainingsanzüge landeten auf dem Rücksitz, über der Skorpion-MP. Als sie fertig waren, glitt der Volvo, nun von Zack selbst gesteuert, aus der Lagerhalle hinaus.
Nach anderthalb Stunden erreichten sie das Haus mit der eingebauten Garage, vierzig Meilen von London entfernt. Zack hielt immer genau die vorgeschriebene Geschwindigkeit ein, seine Komplizen saßen aufrecht und schweigend auf ihren Sitzen. Seit drei Wochen hatten diese beiden Männer zum erstenmal ihr Versteck verlassen.
Als das Garagentor geschlossen war, zogen alle drei Männer wieder die Oberteile ihrer Trainingsanzüge an und setzten erneut die Masken auf. Einer ging ins Haus, um ihre Ankunft dem vierten Mann zu melden. Erst dann öffnete Zack den Kofferraum des Volvo. Quinn hatte steife Gelenke und blinzelte, als ihn das Licht der Garagenlampe traf. Er hatte den Bleistift aus der Wäscheklammer genommen und hielt sie mit den Zähnen fest.
»Schon gut, schon gut«, sagte Zack. »Das ist nicht nötig. Wir werden dir jetzt den Jungen zeigen. Aber auf dem Gang durchs Haus trägst du das hier.«
Er hielt eine Kapuze hoch. Quinn nickte. Zack zog sie ihm über den Kopf. Es bestand die Möglichkeit, daß sie einen Versuch machen würden, ihn zu überrumpeln, aber es würde nur einen Sekundenbruchteil dauern, die geöffnete Wäscheklammer zuschnappen zu lassen. Sie führten ihn, während er die linke Hand hochhielt, in das Haus, durch einen kurzen Gang und dann ein paar Stufen zum Keller hinab. Er hörte, wie dreimal laut an eine Tür geklopft wurde und nach einer Pause das Knarren einer Tür. Er wurde in einen Raum geschoben. Dann war er allein und hörte, wie Riegel vorgelegt wurden.
»Du kannst jetzt die Kapuze abnehmen«, sagte Zacks Stimme. Er sprach durch das Guckloch in der Kellertür. Quinn zog sich mit der rechten Hand die Kapuze vom Kopf. Er war in einem Kellerraum mit Boden und Wänden aus Beton, vielleicht einem ehemaligen Weinkeller. Auf einem Stahlrohrbett an der Wand gegenüber saß eine schlaksige Gestalt, Kopf und Schultern ebenfalls von einer schwarzen Kapuze bedeckt. Dann ein zweimaliges Klopfen an der Tür. Wie auf Kommando zog die Gestalt auf dem Bett die Kapuze ab.
Simon Cormack starrte verblüfft den hochgewachsenen Mann neben der Tür an, dessen Regenmantel halb aufgeknöpft war und der in der linken Hand eine Wäscheklammer hochhielt. Quinn erwiderte den Blick des Präsidentensohnes.
»Hallo, Simon, bist du okay, Junge?« Eine Stimme aus der Heimat.
»Wer sind Sie?« flüsterte er.
»Ach so, ja. Der Unterhändler. Wir haben uns Sorgen um dich gemacht. Geht’s dir gut?«
»Ja, mir geht’s … ordentlich.«
An der Tür wurde dreimal geklopft. Der junge Mann zog sich die Kapuze über den Kopf. Die Tür ging auf. Zack stand da. Mit Gesichtsmaske. Bewaffnet.
»Also, da ist er. Jetzt die Diamanten.«
»Natürlich«, sagte Quinn, »du hast dein Wort gehalten. Ich halte meins.«
Er steckte den Bleistift zwischen die Backen der Wäscheklammer und ließ die Drähte von der Taille abwärts baumeln, schlüpfte aus dem Regenmantel und riß sich das Holzkistchen von der Brust. Er nahm das flache Samtpäckchen mit den Steinen und hielt es Zack hin. Dieser nahm es und reichte es an einen Mann hinter ihm weiter. Sein Revolver war noch immer auf Quinn gerichtet.
»Die Bombe nehm ich auch mit«, sagte er, »damit du dir nicht den Weg nach draußen freisprengst.«
Quinn bog die Drähte gegeneinander und verstaute sie zusammen mit der Wäscheklammer im Kistchen. Aus der beigefarbenen Substanz zog er die Schnur heraus, an der keine Zünder befestigt waren. Er drehte ein Stückchen von der Masse ab und nahm es in den Mund.
»Hab’ mir nie was aus Marzipan gemacht«, sagte er, »zu süß für meinen Geschmack.«
Zack starrte auf das Sortiment in dem Kistchen, das er in seiner freien Hand hielt.
»Marzipan?«
»Das beste Marzipan, das die Marylebone High Street zu bieten hat.«
»Ich sollte dich abknallen, Quinn!«
»Das könntest du, aber ich hoffe, du tust es nicht. Nicht nötig, Zack. Du hast bekommen, was du wolltest. Wie ich gesagt hab’, Profis töten nur, wenn sie müssen. Untersucht die Diamanten in aller Ruhe, verduftet und laßt den Jungen und mich hier warten, bis ihr die Polizei anruft.«
Zack schloß die Tür hinter sich und schob die Riegel vor. Er sprach durch das Guckloch.
»Das muß man dir lassen, Yank, Mumm hast du.«
Dann schloß sich das Guckloch. Quinn trat zu der Gestalt auf dem Bett und zog ihr die Kapuze ab. Dann setzte er sich neben den Jungen.
»So, jetzt will ich dich mal ein bißchen über die neueste Entwicklung aufklären. Noch ein paar Stunden, wenn alles gutgeht, und wir kommen vermutlich hier raus und sind auf dem Weg nach Hause. Übrigens, deine Eltern lassen dich herzlichst grüßen.«
Er fuhr dem jungen Mann durch das zerzauste Haar. Simon Cormacks Augen füllten sich mit Tränen, und er begann hemmungslos zu weinen. Er versuchte, sein Gesicht mit einem Ärmel des karierten Hemds abzuwischen, aber es nützte nichts. Quinn legte ihm einen Arm um die mageren Schultern und erinnerte sich an einen lange zurückliegenden Tag in den Dschungeln am Mekong: an das erste Mal, als er im Kampf gestanden und überlebt hatte, während andere starben, und wie ihm danach die schiere Erleichterung die Tränen heraustrieb, die er nicht zurückzuhalten vermochte.
Als Simon zu weinen aufhörte und ihn mit Fragen zu bombardieren begann, konnte sich Quinn den jungen Mann richtig ansehen. Ein Bart war ihm gewachsen, er war schmutzig, aber im übrigen in guter Verfassung. Sie hatten ihm zu essen gegeben und anständiger-weise auch frische Sachen, Hemd, Bluejeans samt einem breiten Ledergürtel mit einem bossierten Schloß – alles aus einem Campingbedarfsladen, aber ausreichend gegen die Oktoberkühle.
Oben schien es irgendeine Auseinandersetzung zu geben. Quinn hörte erregte Stimmen, vor allem die von Zack. Er konnte zwar die Worte nicht verstehen, aber der Ton war deutlich genug. Zack war zornig. Quinns Stirn furchte sich nachdenklich; er hatte die Steine nicht selbst untersucht – konnte auch echte Diamanten von guten Fälschungen nicht unterscheiden –, betete jetzt aber darum, daß niemand so unbesonnen gewesen war, die Steine mit Similis zu mischen.
Dies war allerdings nicht der Anlaß der Auseinandersetzung. Nach einigen Minuten ebbte sie ab. In einem der Schlafzimmer im Obergeschoß – die Kidnapper mieden in der Regel bei Tageslicht die Räume im Erdgeschoß, trotz der dichten Netzvorhänge, die sie abschirmten saß der Südafrikaner an einem Tisch, der für diesen Zweck nach oben gebracht worden war. Der Tisch war mit einem Bettlaken bedeckt, das aufgeschlitzte Samtpäckchen lag leer auf dem Bett, und alle vier Männer blickten unverwandt auf einen kleinen Berg ungeschliffener Diamanten.
Mit Hilfe eines kleinen Spachtels begann der Südafrikaner, den Haufen in kleinere und noch kleinere Häufchen aufzuteilen, bis er den Berg in fünfundzwanzig Hügelchen verwandelt hatte. Er bedeutete Zack, ein Häufchen auszuwählen. Zack zuckte die Achseln und entschied sich für eines in der Mitte – annähernd 1000 von den 25 000 Steinen auf dem Tisch.
Wortlos begann der Südafrikaner die anderen vierundzwanzig Häufchen nacheinander in ein kräftiges Leinensäckchen zu schieben, an dem oben eine Zugschnur befestigt war. Das von Zack ausgewählte Häufchen blieb als einziges auf dem Laken zurück. Dann schaltete der Südafrikaner eine starke Leselampe über dem Tisch an, zog eine Juwelierslupe aus der Tasche, nahm eine Pinzette in die rechte Hand und hielt den ersten Stein gegen das Licht.
Nach einer Weile knurrte und nickte er und ließ den Diamanten in das offene Säckchen fallen. Es würde sechs Stunden dauern, sämtliche i000 Steine zu untersuchen.
Die Kidnapper hatten klug gehandelt. Diamanten von Spitzenqualität, sogar kleine, werden in der Regel von der Zentralen Verkaufsorganisation, die den Diamantenhandel der Welt beherrscht und durch deren Hände über fünfundachtzig Prozent der Steine auf ihrem Weg von den Bergwerken in den Handel gehen, mit einem Zertifikat versehen, wenn sie für die Branche freigegeben werden. Selbst die UdSSR mit ihren Diamantenfeldern in Sibirien ist klug genug, dieses lukrative Kartell nicht zu sprengen. Auch größere Steine von geringerer Qualität werden im allgemeinen mit einem Ursprungszeugnis verkauft.
Doch mit ihrer Forderung nach einer Mischung von Steinen mittlerer Qualität, die zwischen einem Fünftel und einem halben Karat wogen, hatten die Kidnapper auf ein Segment der Branche gezielt, das beinahe nicht zu kontrollieren ist. Diese Steine sind das tägliche Brot der Juweliere in aller Welt und wechseln in Quantitäten von mehreren hundert Stück ohne Zertifikat den Besitzer. Jeder Schmuck herstellende Juwelier würde durchaus ehrlich handeln, wenn er eine Lieferung von mehreren hundert Steinen akzeptierte, zumal wenn sie ihm mit einem Rabatt von fünfzehn Prozent vom Marktpreis angeboten würden. Eingearbeitet in Fassungen um größere Steine würden sie innerhalb der Branche einfach verschwinden.
Sofern sie echt sind. Ungeschliffene Diamanten funkeln und glänzen nicht wie die geschliffenen und polierten nach dem Bearbeitungsprozeß. Sie sehen aus wie glanzlose Glasstücke und haben eine milchige, undurchsichtige Oberfläche. Aber jemand von einiger Erfahrung und Geschicklichkeit wird sie nicht mit Glas verwechseln.
Echte Diamanten haben an ihrer Oberfläche eine ganz eigene, seifige Textur, auf der sich kein Wasser hält. Wird ein Stück Glas in Wasser getaucht, bleiben mehrere Sekunden lang Tropfen an der Oberfläche haften; bei einem Diamanten hingegen läuft das Wasser sofort ab, und der Stein bleibt knochentrocken.
Außerdem zeigt die Oberfläche von Diamanten unter einem Vergrößerungsglas eine wahrnehmbare trianguläre Kristallographie. Nach diesem Muster suchte der Südafrikaner, um sich zu vergewissern, daß man ihnen kein mit Sandstrahlgebläse behandeltes Flaschenglas oder Zirkon angedreht hatte.
Während er mit dieser Arbeit beschäftigt war, erhob sich Senator Bennett R. Hapgood auf dem Podium des weitläufigen Hancock Centre im Herzen von Austin und registrierte mit Befriedigung die Menge der Zuhörer, die sich eingefunden hatten.
Geradeaus sah er die im Sonnenschein des späten Vormittags glänzende Kuppel des Texas State Capitol vor sich, des zweitgrößten im Land nach dem Capitol in Washington. Das Publikum hätte zwar zahlreicher sein können, wenn man an die Kosten der massiven Werbekampagne dachte, die diesem wichtigen Start vorangegangen war, doch die Medien der Stadt, des Bundesstaates und der Nation waren gut vertreten, und das erfreute sein Herz.
Er hob beide Hände in der Siegerpose des Boxers als Dank für den Beifallssturm der Cheerleader, der nach Beendigung der einleitenden Lobeshymne auf ihn einsetzte. Während die beinewerfenden Mädchen weiterjubelten und die Zuschauermenge pflichtbewußt einstimmte, schüttelte er, als könnte er eine solche Ehrung nicht fassen, gut gespielt den Kopf und hob, mit den Innenflächen nach außen, die Hände, um zu verstehen zu geben, eine solche Ovation sei für einen unbedeutenden zweiten Senator aus Oklahoma nicht angebracht.
Als sich der Beifall legte, nahm er das Mikrofon und begann zu sprechen. Er benutzte keine Notizen, da er seine Rede wieder und wieder geprobt hatte, seit er aufgefordert worden war, die neue Bewegung, die alsbald Amerika überschwemmen sollte, auf die Beine zu stellen und ihr Präsident zu werden.
»Meine Freunde, meine amerikanischen Mitbürger … überall im Land.«
Zwar bestand das Publikum vor ihm ganz überwiegend aus Texanern, aber er zielte durch die Linsen der Fernsehkameras auf ein viel größeres.
»Wir mögen aus verschiedenen Teilen dieses unseres großen Landes stammen. Wir mögen aus unterschiedlichen Verhältnissen, aus unterschiedlichen Lebensbereichen kommen, unsere Hoffnungen, Befürchtungen und Aspirationen mögen sich unterscheiden. Aber eines ist uns gemeinsam, wo wir auch leben, womit wir auch unser Brot verdienen – wir alle, Männer, Frauen und Kinder, sind patriotische Bürger dieses großen Landes …«
Diese Worte ließen sich nicht widerlegen, der Jubel bestätigte es.
»Vor allem aber ist uns eines gemeinsam – wir wollen, daß unsere Nation stark ist …« – wieder Beifall – »… und stolz …« Frenetischer Jubel.
Er sprach eine Stunde lang. Die Abendnachrichten überall in den Vereinigten Staaten widmeten, je nach Geschmack, der Rede zwischen dreißig Sekunden und zwei Minuten. Als er zum Ende gekommen war und sich wieder setzte, während die Brise das schneeweiße, gefönte und mit Spray fixierte Haar über dem gebräunten Gesicht des »Frontiersman« kaum kräuselte, war die Bewegung »Bürger für ein starkes Amerika« (CSA) auf den Weg gebracht.
Vereinfacht ausgedrückt, hatte sich die CSA der Erneuerung der amerikanischen Selbstachtung und Ehre durch Stärke verschrieben daß es mit alledem niemals bergab gegangen war, wurde ignoriert. Vor allem wollte sie dem Nantucket-Vertrag den Garaus machen und seine Ablehnung durch den Kongreß fordern.
Der Feind der Erneuerung amerikanischer Selbstachtung und Ehre durch Stärke war eindeutig und unwiderlegbar identifiziert worden; es war der Kommunismus, sprich der Sozialismus, vom Gesundheitsfürsorgeprogramm MEDICAID über die Sozialhilfe bis zu Steuererhöhungen. Die Mitläufer des Kommunismus, die darauf aus waren, dem amerikanischen Volk eine Rüstungskontrolle auf niedrigerem Niveau aufzuschwatzen, wurden nicht namentlich genannt, aber wer gemeint war, lag auf der Hand. Die Kampagne sollte auf sämtlichen Ebenen geführt werden, durch regionale Verbindungsbüros, Aktionskomitees zur Beeinflussung der Medien, durch Beeinflussung der Abgeordneten auf landesweiter und Wahlbezirksebene sowie durch öffentliche Auftritte wahrer Patrioten, die ihre Stimme gegen den Vertrag und dessen Urheber erheben würden – eine durchsichtige Anspielung auf den schwergeprüften Mann im Weißen Haus.
Als dann die Zuhörer eingeladen wurden, sich an den am Rand des Parks verteilten Barbecues gütlich zu tun – der Großzügigkeit eines lokalen Philanthropen und Patrioten zu verdanken –, war der Crokkett-Plan angelaufen, die zweite Kampagne mit dem Ziel, John F. Cormack so zu zermürben, daß er sein Amt niederlegte.
Quinn und der Präsidentensohn verbrachten eine unruhige Nacht in ihrem Kellergefängnis. Der junge Mann legte sich, weil Quinn es unbedingt so wollte, auf das Bett, konnte aber nicht einschlafen. Quinn setzte sich auf den Boden, mit dem Rücken an der Betonwand, und hätte ein Nickerchen gemacht, wäre er nicht von Simon mit Fragen bedrängt worden.
»Mr. Quinn?«
»Quinn. Einfach Quinn.«
»Haben Sie meinen Papa geseh’n? Persönlich?«
»Natürlich. Er hat mir von Tante Emily erzählt … und von Mr. Spot.«
»Was für einen Eindruck hat er auf Sie gemacht?«
»Soweit in Ordnung. Bekümmert natürlich. Es war gleich nach der Entführung.«
»Haben Sie Mama gesehn?«
»Nein. Der Arzt des Weißen Hauses war bei ihr. Sie war besorgt, aber okay.«
»Wissen sie, daß mir nichts passiert ist?«
»Vor zwei Tagen habe ich ihnen gemeldet, daß du noch am Leben bist. Jetzt versuch ein bißchen zu schlafen.«
»Okay … Wann, denken Sie, werden wir hier rauskommen?«
»Das kommt drauf an. Ich hoffe, daß sie am Morgen verduften werden. Wenn sie dann vierundzwanzig Stunden später anrufen, müßte die Polizei ein paar Minuten danach hier sein. Es hängt von Zack ab.«
»Zack? Ist das der Anführer?«
»Ja.«
Um 2 Uhr morgens gingen dem überdrehten jungen Mann schließlich die Fragen aus, und er döste ein. Quinn blieb wach und spitzte die Ohren, um die gedämpften Geräusche von oben zu identifizieren. Es war schon fast 4 Uhr morgens, als dreimal laut an die Tür geklopft wurde.
Simon schwenkte die Beine vom Bett und flüsterte: »Die Kapuzen.« Als sie nichts mehr sehen konnten, betrat Zack, gefolgt von zwei Männern, den Kellerraum. Jeder von ihnen hatte ein paar Handschellen mitgebracht. Zack deutete mit einem Kopfnicken auf die beiden Gefangenen, denen die Hände hinter dem Rücken gefesselt wurden.
Sie konnten nicht wissen, daß die Untersuchung der Diamanten vor Mitternacht zur vollen Zufriedenheit Zacks und seiner Komplizen abgeschlossen worden war. Die vier Männer hatten die Nacht damit verbracht, in ihrem Quartier einen gründlichen Hausputz zu veranstalten. Jede Fläche, auf der sich vielleicht ein Fingerabdruck befand, wurde sorgfältig abgewischt, jede nur denkbare Spur beseitigt. Sie machten sich nicht die Mühe, das angeschraubte Bettgestell im Keller oder das Stück Kette zu beseitigen, mit der Simon mehr als drei Wochen daran gefesselt gewesen war. Ihre Sorge galt nicht dem Umstand, daß das Haus eines Tages als das Versteck der Kidnapper identifiziert werden könnte; es sollte nur niemals ans Licht kommen, wer die Entführer gewesen waren.
Einer der Männer befreite Simon Cormack von seiner Fußkette, worauf er zusammen mit Quinn die Treppe hinauf, durchs Haus und in die Garage geführt wurde. Dort wartete der Volvo. Der Kofferraum war mit den Tragetaschen der Kidnapper so vollgestopft, daß kein Platz mehr blieb. Quinn mußte sich vor dem Rücksitz auf den Boden legen und wurde mit einer Decke zugedeckt. Seine Position war ungemütlich, seine Stimmung aber optimistisch.
Wenn die Kidnapper vorgehabt hätten, sie beide umzubringen, dann wäre der Keller dafür der richtige Ort gewesen. Er hatte vorgeschlagen, man solle ihn und Simon im Keller zurücklassen und dann aus dem Ausland anrufen, damit die Polizei sie befreien könne. Er tippte richtig, daß die Kidnapper ihr Versteck nicht entdeckt sehen wollten, zumindest vorläufig nicht. So lag er nun zusammengekrümmt auf dem Boden der Limousine und atmete, so gut es ging, durch die dicke Kapuze.
Er spürte den Druck der Kissen auf dem Rücksitz, als Simon Cormack sich der Länge nach darauf legen mußte. Auch über ihn wurde eine Decke gebreitet. Die beiden kleineren der Ganoven stiegen gleichfalls hinten ein. Sie saßen, Simons schlanken Körper hinter sich, auf der Vorderkante des Rücksitzes und stellten die Füße auf Quinn. Der Riese setzte sich auf den Beifahrersitz, Zack hinters Steuer.
Auf sein Kommando nahmen alle vier die Masken ab und warfen sie zusammen mit den Oberteilen der Trainingsanzüge durch die Fenster auf den Garagenboden. Zack setzte den Wagen zurück in die Einfahrt, schloß das Garagentor, fuhr rückwärts auf die Straße und dann davon. Niemand sah den Volvo. Es war noch dunkel – zwei Stunden bis zum Tagesanbruch.
Während dieser beiden Stunden fuhr der Wagen in gleichmäßigem Tempo dahin. Quinn hatte keine Ahnung, wohin es ging. Gegen 6 Uhr früh (später wurde festgestellt, daß es ein paar Minuten vor 6 Uhr gewesen sein mußte) wurde der Volvo langsamer und rollte aus. Keiner hatte während der ganzen Zeit gesprochen, alle saßen kerzengerade und schweigend in Straßenanzug, Hemd und Krawatte auf ihren Sitzen. Als sie anhielten, hörte Quinn, wie die linke hintere Tür aufging. Die vier Füße auf seinem Körper hoben sich. Jemand zog ihn an den Beinen aus dem Wagen. Er spürte nasses Gras unter seinen gefesselten Händen und wußte, daß er sich irgendwo am Rand einer Landstraße befand. Er rappelte sich auf, erst auf die Knie, dann auf die Füße. Er hörte, wie zwei Männer wieder in den Volvo einstiegen und die Tür zugeschlagen wurde.
»Zack«, rief er, »was ist mit dem Jungen?«
Zack stand neben der offenen Fahrertür auf der Straße und blickte übers Wagendach zu Quinn hin.
»Zehn Meilen weiter«, sagte er, »am Straßenrand, genauso wie du.«
Das Summen des kraftvollen Motors und das Knirschen von Kies unter sich drehenden Rädern war zu hören. Dann war der Volvo fort. Quinn spürte die Kühle des Novembermorgens an seinem nur mit einem Hemd bekleideten Oberkörper. Kaum war der Wagen verschwunden, machte er sich ans Werk.
Die anstrengende Arbeit auf den Weinbergen hatte ihn in Form gehalten. Seine Hüften waren schmal, wie die eines fünfzehn Jahre jüngeren Mannes, und seine Arme lang. Als ihm die Handschellen angelegt worden waren, hatte er die Sehnen an den Gelenken angespannt, um möglichst viel Spielraum zu haben, wenn er freigelassen wurde. Er zog die Handschellen so weit wie möglich nach unten und die gefesselten Hände unter sein Hinterteil. Dann setzte er sich ins Gras, schob die Handgelenke unter die Knie, stieß sich die Schuhe von den Füßen und zerrte die Beine, erst das eine, dann das andere, durch die aneinandergefesselten Arme. Dann, als er die Hände vorne hatte, zog er sich die Kapuze herunter.
Die Straße war lang, schmal, schnurgerade und im Dämmerlicht des anbrechenden Morgens ohne jeden Verkehr. Er sog sich die Lungen mit der kühlen, frischen Luft voll und blickte sich nach menschlichen Behausungen um. Es waren weit und breit keine zu sehen. Er zog die Schuhe wieder an, stand auf und begann in der Richtung, die der Volvo genommen hatte, die Straße dahinzujoggen.
Nach zwei Meilen kam er zu einer Tankstelle am Straßenrand, mit altmodischen handbetriebenen Pumpen und einem kleinen Büro. Nach drei Tritten hatte er die Tür offen, und auf einem Regal hinter dem Stuhl des Tankwarts entdeckte er das Telefon. Er hob mit beiden Händen den Hörer ab, beugte sich mit einem Ohr hin, um festzustellen, ob das Freizeichen kam. Dann legte er den Hörer beiseite, wählte die Londoner Vorwahl 01 und dann die Nummer der Blitzleitung in der Wohnung in Kensington.
In London brach binnen drei Sekunden das Chaos aus. Einen englischen Techniker in der Fernmeldezentrale Kensington riß es vom Stuhl hoch. In neun Sekunden hatte er die Nummer des Anrufenden ermittelt.
Im Keller der amerikanischen Botschaft stieß der diensttuende ELINT-Mann einen Schrei aus, als ihm das rote Warnlämpchen ins Gesicht strahlte und er in seinem Kopfhörer den Ton eines klingelnden Telefonapparats hörte. Kevin Brown, Patrick Seymour und Lou Collins sprangen von den Feldbetten, auf denen sie dösend gelegen hatten und rannten in die Lauschstation.
»Ton auf Wandlautsprecher umschalten!« befahl Seymour dem Techniker.
In der Wohnung in Kensington hatte Sam Somerville auf der Couch, Quinns ehemaligem Lieblingsplätzchen, ein Nickerchen gemacht, weil diese gleich neben dem Apparat der Blitzleitung stand.
Als das Telefon klingelte, fuhr sie aus dem Schlaf hoch, brauchte aber zwei Sekunden, bis ihr klar wurde, welcher Apparat klingelte. Das pulsierende rote Lämpchen am Telefon der Blitzleitung sagte es ihr. Beim dritten Klingeln hob sie den Hörer ab.
»Ja.«
»Sam?«
Die tiefe Stimme am anderen Ende der Leitung war nicht zu verwechseln.
»O Quinn«, sagte sie. »Ist alles in Ordnung?«
»Scheiß auf Quinn, was ist mit dem Jungen«, schnaubte Brown in der Lauschstation im Keller der Botschaft, unhörbar für die beiden.
»Sie haben mich freigelassen. Simon wird auch bald frei sein, er ist es vielleicht schon.«
»Wo bist du denn, Quinn?«
»Ich weiß es nicht. In einer vergammelten Tankstelle an einer langen, geraden Landstraße. Die Nummer auf dem Apparat hier ist unleserlich.«
»Eine Nummer in Bletchley«, sagte der Techniker in der Fernmeldezentrale Kensington. »Moment … ich hab’ sie. Sieben-Vier-Fünf – Null-Eins.«
Sein Kollege sprach bereits mit Nigel Cramer, der die Nacht über in Scotland Yard geblieben war.
»Wo zum Teufel steckt er denn?« zischte er.
»Moment … ja: Tubbs-Cross-Tankstelle an der A 421 zwischen Fenny Stratford und Buckingham.«
Im selben Augenblick sah Quinn einen Rechnungsblock der Tankstelle, auf dem die Adresse stand, und gab sie an Sam durch. Ein paar Sekunden danach war die Leitung tot. Sam und Duncan McCrea rasten hinunter auf die Straße, wo auf Anweisung von Lou Collins ein CIA-Wagen stand, falls die Lauscher in der Wohnung ein Fahrzeug brauchen sollten. Schon waren sie unterwegs – McCrea am Steuer, während Sam die Karte studierte.
Nigel Cramer und sechs Beamte verließen Scotland Yard in zwei Streifenwagen. Mit heulenden Sirenen preschten sie durch Whitehall und die Mall hinunter in Richtung auf die Park Lane, dann quer durch London nach Norden. Zur gleichen Zeit rasten zwei große Limousinen aus der Botschaft am Grosvenor Square, in denen Kevin Brown, Lou Collins, Patrick Seymour und sechs von Browns FBI-Leuten aus Washington saßen.
Die A 421 zwischen Fenny Stratford und dem Landstädtchen Bukkingham zwölf Meilen weiter westlich ist eine lange, beinahe schnurgerade Straße, die Ortschaften meidet und durch eine weitgehend flache, landwirtschaftlich genutzte Gegend führt, hin und wieder von einer Baumgruppe unterbrochen. Quinn joggte in einem gleichmäßigen Tempo nach Westen, in der Richtung, die der Volvo genommen hatte. Die ersten schwachen Strahlen des Tageslichts sickerten durch die grauen Wolken, und die Sicht vergrößerte sich allmählich auf 300 Yards. Plötzlich sah er die magere Gestalt, die ihm im Dämmerlicht joggend entgegenkam, und zugleich hörte er hinter sich Motorenlärm, der sich rasch näherte. Er drehte den Kopf – ein englischer Streifenwagen und ein zweiter, zwei schwarze amerikanische Limousinen dicht davor und dahinter ein Fahrzeug der CIA ohne Kennzeichen. Der Fahrer des ersten Wagens sah ihn und drosselte das Tempo. Wegen der schmalen Straße gingen die Fahrzeuge dahinter ebenfalls mit der Geschwindigkeit herunter.
Niemand in den Autos hatte die schwankende Gestalt weiter vorne auf der Straße gesehen. Simon Cormack hatte es ebenfalls geschafft, seine gefesselten Handgelenke nach vorne zu bringen und fünf Meilen zurückgelegt, während Quinn nur viereinhalb hinter sich gebracht hatte. Aber Simon hatte unterwegs nicht telefoniert. Von seiner Gefangenschaft geschwächt, von seiner Freilassung noch wie benommen, lief er langsam und schwankte dabei von einer Seite zur anderen. Der erste Wagen der Botschaft war jetzt neben Quinn.
»Wo ist der Junge?« brüllte Brown vom Beifahrersitz.
Nigel Cramer sprang aus dem rotweißen Streifenwagen und schrie die gleiche Frage. Quinn blieb stehen, sog Luft ein und deutete mit einer Kopfbewegung nach vorne.
»Dort«, keuchte er.
In diesem Augenblick sahen sie ihn. Die amerikanischen und englischen Polizeibeamten waren aus ihren Fahrzeugen auf die Straße gesprungen und begannen der noch 200 Yards entfernten Gestalt entgegenzulaufen. Hinter Quinn bremste der Wagen mit McCrea und Sam Somerville scharf und stellte sich quer.
Quinn war stehen geblieben, denn es gab für ihn nun nichts mehr zu tun. Er spürte, wie Sam auf ihn zugelaufen kam und ihn am Arm packte. Sie sagte irgend etwas, aber er konnte sich später nicht mehr erinnern, was es gewesen war.
Als Simon Cormack sah, daß seine Retter auf ihn zukamen, wurde er langsamer, bis er beinahe nicht mehr joggte. Nur noch knapp hundert Yards trennten ihn von den Polizeibeamten zweier Länder, als er starb.
Die Zeugen sagten später aus, daß der sengende, grellweiße Blitzstrahl mehrere Sekunden lang emporgeflammt sei. Von den Wissenschaftlern erfuhren sie dann, daß diese Spanne gerade drei Millisekunden gedauert habe, doch die Netzhaut des menschlichen Auges hält einen solchen Blitz noch Sekunden danach fest. Der Feuerball, den der Blitz auslöste, hüllte die nach vorne taumelnde Gestalt eine halbe Sekunde lang ein.
Vier der Zeugen, erfahrene, abgehärtete Männer, die nicht so leicht etwas umwarf, mußten sich einer therapeutischen Behandlung unterziehen, nachdem sie geschildert hatten, wie der junge Mann hochgerissen wurde und wie eine Stoffpuppe zwanzig Yards auf sie zu geschleudert wurde, zuerst durch die Luft fliegend, dann hüpfend und als ein Knäuel zerrissener Gliedmaßen auf sie zurollend. Alle hatten die Druckwelle gespürt.
Die meisten erklärten im nachhinein übereinstimmend, alles während und nach der Mordtat habe sich wie in Zeitlupe abgespielt. Die Erinnerung kam stückweise, und die geduldigen Befrager hörten zu und notierten die einzelnen Stücke, bis sie eine Sequenz hatten, die sich bei den meisten teilweise überlagerte.
Nigel Cramer stand da wie erstarrt, kreidebleich und sagte immer wieder: »O Gott, o mein Gott!« Ein FBI-Mann, ein Mormone, fiel am Straßenrand auf die Knie und begann zu beten. Sam Somerville schrie auf, barg den Kopf hinter Quinns Rücken und brach in Tränen aus. Duncan McCrea, hinter den beiden, lag auf den Knien, den Kopf über den Straßengraben gebeugt, die Hände tief im Wasser, um sich abzustützen, und schien sich zu erbrechen.
Quinn, den die meisten Männer aus der Gruppe überholt hatten, hatte trotzdem mitangesehen, was vor ihm auf der Straße geschah, wie die Zeugen später berichteten. Er stand regungslos da, schüttelte ungläubig den Kopf und murmelte: »Nein … nein … nein!«
Als erster brach ein grauhaariger englischer Polizeisergeant den Bann der Erstarrung und des Entsetzens und lief auf den sechzig Yards entfernten zerfetzten Toten zu. Ihm folgten mehrere FBI-Männer, unter ihnen Kevin Brown, bleich und zitternd, dann Nigel Cramer und drei weitere Männer von Scotland Yard. Stumm blickten sie nieder auf die Leiche, dann setzten sich Erfahrung und Routine durch.
»Räumen Sie bitte die Stelle«, sagte Nigel Cramer in einem Ton, dem niemand widersprechen mochte, »und bewegen Sie sich sehr vorsichtig.«
Sie gingen alle zu den Fahrzeugen zurück.
»Sergeant, setzen Sie sich mit dem Yard in Verbindung. Ich brauche den CEO binnen einer Stunde hier, per Hubschrauber. Fotografen, Experten, das beste Team, das Fulham hat. Sie« – damit waren die Männer in dem zweiten Streifenwagen gemeint – »sperren in beiden Richtungen die Straße ab. Alarmieren Sie die Jungs von der Polizei hier – ich brauche Straßensperren hinter der Tankstelle und in Richtung Buckingham. Bis auf weiteres betritt niemand diesen Straßenabschnitt, wenn ich ihn nicht dazu ermächtigt habe.«
Die Beamten, denen das Straßenstück jenseits der Leiche zugeteilt worden war, mußten einen Umweg über die Felder machen, um die Explosionsstelle zu umgehen. Dann rannten sie die Straße entlang, um herankommende Autos am Weiterfahren zu hindern. Der zweite Streifenwagen fuhr nach Osten, in Richtung auf die Tubbs-Cross-Tankstelle, um dahinter die Straße zu sperren. Der erste Streifenwagen blieb seines Funkgeräts wegen an Ort und Stelle.
Binnen einer Stunde würden Polizisten aus Buckingham im Westen und aus Bletchley im Osten mit Stahlbarrieren jeden Verkehr auf der A 421 unterbinden. Weitere Beamte würden über die umliegenden Felder ausschwärmen, um Neugierige fernzuhalten, die den Schauplatz querfeldein zu erreichen versuchten. Wenigstens war diesmal vorläufig nicht mit Journalisten zu rechnen. Man konnte die Straßensperren mit einem geborstenen Hauptwasserrohr erklären das würde die Kleinstadtreporter abschrecken.
Nach fünfzig Minuten näherte sich ein Hubschrauber der Metropolitan Police, und setzte auf der Straße hinter den Wagen einen kleinen, vogelgesichtigen Mann namens Dr. Barnard ab, den CEO (Leiter der Sprengstoffabteilung) der Metropolitan Police, der in England mehr Schauplätze von Explosionen nach Bombenanschlägen der IRA untersucht hatte, als ihm lieb war. Außer seinem »Krempel«, wie er gerne sagte, brachte er eine imponierende Reputation mit.
Von Dr. Barnard hieß es, er könne selbst aus Fragmenten, so winzig, daß sie beinahe einem Vergrößerungsglas entgingen, eine Bombe so weit rekonstruieren, daß er die Fabrik, die die Komponenten herstellte, und den Mann, der sie zusammenbaute, zu identifizieren vermöge. Er hörte Nigel Cramer mehrere Minuten lang zu, nickte und gab dann dem Dutzend Männer, das aus einem zweiten und dritten Helikopter geklettert war, seine eigenen Anweisungen. Es war das Team aus den Polizeilaboratorien in Fulham.
Mit unbewegten Gesichtern machten sich die Männer an ihre Arbeit, und die Maschinerie der wissenschaftlichen Verbrechensaufklärung setzte sich in Bewegung.
Geraume Zeit vor alledem war Kevin Brown, nachdem er lange vor Simon Cormacks Leiche verharrt hatte, zu der Stelle zurückgekehrt, wo Quinn noch immer stand. Er war vor Betroffenheit und Wut grau im Gesicht.
»Sie Schwein!« fauchte er Quinn an. Die beiden hochgewachsenen Männer standen einander Aug’ in Aug’ gegenüber. »Daran sind Sie schuld. Irgendwie haben Sie das zustande gebracht, und ich werd’ Sie dafür zahlen lassen.«
Der Fausthieb, der folgte, überraschte die beiden jüngeren FBI-Männer an seiner Seite, die ihn an den Armen packten und zu beruhigen versuchten. Möglich, daß Quinn den Schlag kommen sah, jedenfalls machte er keinen Versuch, ihm auszuweichen. Da er die Hände noch immer gefesselt hatte, bekam er ihn voll am Unterkiefer ab. Der Hieb schleuderte ihn nach rückwärts, sein Kopf traf auf den Rand des Wagendachs hinter ihm, und er ging bewußtlos zu Boden.
»Schafft ihn in den Wagen«, knurrte Brown, als er sich wieder unter Kontrolle hatte.
Cramer hatte keine Möglichkeit, die Amerikaner aufzuhalten. Seymour und Collins genossen diplomatische Immunität. Er ließ sie eine Viertelstunde später alle in ihren beiden Limousinen nach London zurückfahren, erklärte ihnen aber zum Abschied noch, Quinn, der keinen diplomatischen Status genoß, habe ihm in London für eine ausführliche Zeugenbefragung zur Verfügung zu stehen. Seymour gab sein Wort darauf. Als sie fort waren, benutzte Cramer den Telefonapparat in der Tankstelle, um Sir Harry Marriott unter seiner Privatnummer anzurufen und ihm das Geschehene mitzuteilen – das Telefon war sicherer als eine Polizeifrequenz.
Der Minister war zutiefst erschüttert, gleichwohl aber blieb er der Politiker, der er war.
»Mr. Cramer, waren wir, waren die britischen Behörden in irgendeiner Weise an alledem beteiligt?«
»Nein, Herr Minister. Nachdem Quinn aus dieser Wohnung getürmt war, war dies ganz allein seine eigene Sache. Er hat nach seinem eigenen Kopf entschieden, ohne uns oder seine Leute zuzuziehen, hat auf eigene Faust gehandelt und ist gescheitert.«
»Verstehe«, sagte der Innenminister. »Ich muß sofort die Premierministerin davon unterrichten. Wenigstens …« Er meinte damit, daß die britischen Behörden gänzlich unbeteiligt waren. »Halten Sie vorläufig die Medien heraus, koste es, was es wolle. Schlimmstenfalls werden wir sagen müssen, Simon Cormack sei ermordet aufgefunden worden. Aber jetzt noch nicht. Und natürlich halten Sie mich über alle Einzelheiten der weiteren Entwicklung, selbst die unbedeutendsten, auf dem laufenden.«
Diesmal erhielt Washington die Nachricht von seinen eigenen Leuten in London. Patrick Seymour rief über eine abhörsichere Verbindung Vizepräsident Odell persönlich an. Michael Odell nahm – in der Annahme, der FBI-Verbindungsmann in London werde ihm Simon Cormacks Freilassung melden – die frühe Stunde des Anrufs nicht übel: 5.00 Uhr Washingtoner Zeit. Als er hörte, was Seymour ihm mitzuteilen hatte, wurde er aschfahl im Gesicht.
»Aber wieso denn? Warum? Um Himmels willen, warum?«
»Wir wissen es nicht, Sir«, sagte die Stimme aus London. »Der Junge war unversehrt freigelassen worden. Er kam auf uns zugelaufen und war noch neunzig Yards von uns entfernt, als es geschah. Wir wissen nicht einmal, was dieses ›es‹ war. Aber er ist tot, Herr Vizepräsident.«
Schon nach einer Stunde trat das Komitee zusammen. Alle Mitglieder waren tief erschüttert, als ihnen eröffnet wurde, was geschehen war. Nun ging es darum, wer dem Präsidenten die Nachricht beibringen sollte. Als Vorsitzendem des Komitees, dem Mann, dem Cormack vierundzwanzig Tage vorher die Aufgabe übertragen hatte, »mir meinen Sohn zurückzubringen«, fiel dies Michael Odell zu. Mit schwerem Herzen trat er den Weg aus dem Westflügel ins Mansion an.
Präsident Cormack brauchte nicht geweckt zu werden. Er hatte in den vergangenen dreieinhalb Wochen nur wenig geschlafen, und war häufig noch vor dem Morgengrauen von selbst wach geworden und in sein persönliches Arbeitszimmer gegangen, wo er versuchte, sich auf Staatsdokumente zu konzentrieren. Als Cormack hörte, daß der Vizepräsident unten sei und ihn zu sprechen wünsche, ging er in den Yellow Oval Room und sagte, er werde Odell hier empfangen.
Der Yellow Oval Room im zweiten Stock ist ein geräumiges Empfangszimmer zwischen dem Arbeitszimmer des Präsidenten und dem Treaty Room. Vor seinen Fenstern, die auf die Rasenflächen und zur Pennsylvania Avenue gehen, ist der Truman Balcony. Beide liegen im Zentrum des Mansion, unterhalb der Kuppel und direkt über dem südlichen Portikus.
Odell trat ein. Präsident Cormack stand in der Mitte des Raumes und blickte ihn an. Odell schwieg. Er konnte sich nicht überwinden, die Hiobsbotschaft auszusprechen. Der Ausdruck der Erwartung auf dem Gesicht des Präsidenten erlosch langsam.
»Nun, Michael?« sagte er dumpf.
»Man hat ihn … Simon … ist gefunden worden. Er lebt nicht mehr.«
Präsident Cormack rührte sich nicht, bewegte keinen Muskel. Als er sprach, war seine Stimme klar, aber ausdruckslos.
»Lassen Sie mich bitte allein.«
Odell drehte sich um und ging, hinaus in die Centre Hall. Er schloß die Tür hinter sich und wandte sich der Treppe zu. Hinter sich hörte er einen einzigen Schrei, wie von einem verwundeten Tier in Todespein. Es überlief ihn kalt, und er ging weiter.
Am Ende der Halle stand Secret-Service-Mann Lepinsky neben einem Schreibtisch und hielt einen Telefonhörer in der Hand.
»Die britische Premierministerin ist am Apparat, Herr Vizepräsident«, sagte er.
»Ich gehe ran. Hallo, hier spricht Michael Odell. Ja, Prime Minister, ich habe es ihm soeben gesagt. Nein, Ma’am, er nimmt jetzt keine Anrufe entgegen. Keinerlei Anrufe.«
In der Leitung trat eine Pause ein.
»Ich verstehe«, sagte sie dann leise. »Haben Sie einen Bleistift und ein Stück Papier?«
Odell winkte Lepinsky, der sein amtliches Notizbuch herauszog. Odell kritzelte hinein, was ihm gesagt wurde.
Präsident Cormack bekam den Zettel zu einer Stunde, da die meisten Leute in Washington, nicht ahnend, was geschehen war, sich ihr Frühstück zubereiteten. Er war, noch immer in einem seidenen Morgenmantel, in seinem Amtszimmer und starrte durch die Fenster hinaus in den grauen Morgendunst. Seine Frau schlief noch (sie würde die Nachricht später erfahren). Er nickte, als der Diener sich zurückzog und schüttelte das zusammengefaltete Blatt aus Lepinskys Notizbuch auseinander.
Darauf stand nur: Samuel 2, XIX, 1.
Nach mehreren Minuten erhob er sich und ging zu dem Regal, wo er einige Bücher aus seinem Privatbesitz aufbewahrte, darunter die Familienbibel mit den Namenszügen seines Vaters, seines Großvaters und seines Urgroßvaters. Er fand den Vers am Ende des 2. Buchs Samuel:
»Da ward der König traurig und ging hin auf den Saal im Tor und weinte, und im Gehen sprach er also: Mein Sohn Absalom, mein Sohn, mein Sohn Absalom! Wollte Gott, ich könnte für dich sterben! O Absalom, mein Sohn, mein Sohn!«