Krötengift
Der erste Mai war genauso scheußlich wie der letzte Apriltag. Als Rosanna und Lilli aus ihren Betten krochen, hing der Himmel schon wieder voller Wolken. Grau und schwer schoben sie sich vor das letzte bisschen Blau und bald war das vertraute Klopfen und Tropfen des Regens zu hören. Die Zweige wurden wieder schwer, die Blumen neigten die Köpfe zur Erde.
Die Mädchen setzten sich an den Frühstückstisch.
»Na, wie habt ihr geschlafen?«, fragte Lillis Vater arglos. Er hatte immer noch Musik gehört, als sie sich mitten in der Nacht in Lillis Zimmer geschlichen hatten, und so war ihr Abenteuer unentdeckt geblieben.
Nach dem Frühstück liefen die Mädchen in den Garten und verwischten die Spuren ihres Hexentanzes. Die Tomatensuppe hatte der Regen längst von den Halmen gewaschen. Auf einem einsamen Würstchen saß eine Schnecke. Sie ließen sie sitzen. Der Besen, den die Hexe angezündet hatte, stand unversehrt da. Wie das Skelett einer Vogelscheuche. Nur ein bisschen Ruß klebte auf dem Stielende. Lilli nahm ihn mit in ihr Zimmer. Dort lagen Ramses und Zorro einträchtig nebeneinander auf dem Bett.
Kopfschüttelnd betrachtete Rosanna die beiden. »Ramses«, sagte sie. »Dass du dich plötzlich mit Hunden abgibst. Und dann auch noch mit dem da.«
»Was meinst du, sollen wir zu dem Haus gehen?«, fragte Lilli.
Rosanna nickte. »Wenn wir es wiederfinden.«
»Ich habe mir den Straßennamen gemerkt«, sagte Lilli. »Fingerkrautweg.«
Lillis Eltern saßen noch am Frühstückstisch, im Morgenmantel, die Zeitung vor der Nase. Ihre Schwestern lagen, wie immer um diese Zeit, noch im Bett.
»Wir gehen spazieren«, sagte Lilli.
»Was macht ihr?« Erstaunt guckte ihre Mutter über den Rand ihrer Zeitung. »Es regnet.«
»Ein Regenspaziergang«, sagte Lilli.
Das ließ auch ihren Vater die Zeitung senken. »Wollt ihr Zorro nicht mitnehmen?«, fragte er.
Lilli schüttelte den Kopf. »Der schmust gerade mit Rosannas Kater.«
»Was tut der?«, fragte Lillis Mutter ungläubig.
»Wir müssen los, Lilli.« Rosanna war ungeduldig.
»Hoffentlich wäscht der Regen dir die furchtbare Farbe aus den Haaren!«, rief Lillis Mutter ihnen hinterher.
Aber da waren die Mädchen schon draußen.
Suchend liefen sie durch die Straßen. Am Tag sah alles so anders aus. Fortgewaschen war das Blau der Nacht. Sogar die Blätter waren grau im Regen.
»Macht viel mehr Spaß, über Hecken zu klettern!«, stellte Rosanna fest. Ratlos sah sie sich um. »Meinst du, hier ist es richtig?«
»Dahinten ist es!«, rief Lilli.
Bei Tageslicht sah das verlassene Haus nicht mehr verwunschen, sondern einfach nur schäbig aus. Sie öffneten das quietschende Gartentor und liefen nach hinten in den Garten. Bis zu den Knöcheln standen sie im Waldmeister, der Gundermann kitzelte ihre Waden. Aber von der Hexe war nichts zu sehen.
»Vielleicht haben wir alles nur geträumt«, sagte Rosanna.
»Quatsch, das Haus ist doch da, oder?«, sagte Lilli. »Und dieser Gundermann, oder wie der heißt, auch. Von dem würde ich bestimmt nicht träumen. Komm!« Sie zog Rosanna mit sich. »Bestimmt ist sie im Haus.«
Sie liefen zu dem Fenster, durch das sie in der vergangenen Nacht geklettert waren. Die Bretter lagen noch davor im hohen Gras. Durch die offenen Fensterflügel hörten sie Elfriedes Stimme.
»Ach, nun mach schon, Brunhilde!«, schimpfte sie.
Die Mädchen lugten durchs Fenster. Mitten in dem leeren Zimmer lag die Hexe auf dem staubigen Holzfußboden und redete mit ihrer Kröte.
»Hallo, Elfriede«, sagte Rosanna. Ihr Herz machte einen kleinen Sprung aus Freude darüber, dass die Hexe kein Traum gewesen war.
»Hallo, ihr beiden«, sagte Elfriede und winkte ihnen zu. »Steht nicht da wie angewachsen, kommt rein.« Dann wandte sie sich wieder der Kröte zu. »Also, Brunhilde, letzter Versuch.«
Vor der Kröte stand eine grüne Glasschale. Dumpf glotzte sie hinein.
»Du fiese, schleimige Fliegenfresserin«, sagte Elfriede. »Du schmerbäuchige alte Giftspritzerin. Du warzenübersätes Wabbelgesicht!«
Die Kröte gluckste leise. Es klang, als lachte sie.
»Zaubernuss und Bilsenkraut!«, schimpfte die Hexe. »Mehr fällt mir nun wirklich nicht ein!«
»Was machst du denn da?«, fragte Lilli neugierig.
»Ich versuche, an etwas Krötengift zu kommen«, sagte Elfriede. »Aber die alte Brunhilde spuckt einfach nichts aus.«
»Vielleicht solltest du etwas freundlicher zu ihr sein!«, schlug Rosanna vor.
»Freundlichkeit hilft da gar nichts. Kröten spucken nur Gift, wenn sie wütend sind. Sehr wütend. Und das ist der Haken. Brunhilde wird einfach nicht mehr wütend auf mich. Kennt eben längst alle meine Schimpfwörter. Und neue fallen mir einfach nicht ein.«
Die Kröte blinzelte und schnappte nach einer Fliege.
»Kann ich es mal versuchen?«, fragte Lilli.
»Aber bitte sehr!« Elfriede rutschte ein Stück zur Seite. »Versuch es. Aber komm ihr nicht zu nahe.«
Kichernd kniete Lilli sich vor die Kröte hin. Rosanna setzte sich neben sie.
»Du mickriger Laubfrosch«, sagte Lilli.
Gelangweilt schloss die Kröte die Augen.
»Du grausliger Giftpudding.«
Keine Reaktion.
»Schwabbelige Schweinebacke. Glitschige alte Teichschnecke.«
Die Kröte gluckste. Sie schien sich köstlich zu amüsieren. »Süßes Schnuckelchen«, sagte Rosanna.
Die Kröte öffnete ihre Augen und verzog das breite Maul. Ein bisschen ärgerlich sah sie plötzlich aus.
»Honigkuchen. Schnuckelputz«, flötete Rosanna.
Die Krötenaugen wurden wütende Schlitze.
»Engelchen«, hauchte Rosanna. »Zuckermäulchen.«
Platsch! Das breite Maul spitzte sich und spuckte eine Riesenladung Krötengift in Rosannas Richtung.
Geistesgegenwärtig riss sie die Schale hoch – und das wertvolle Gift klatschte hinein.
Beleidigt drehte Brunhilde sich um und watschelte aus dem Zimmer.
»Bravo!«, rief Elfriede. »Damit hättest du die erste Hexenprüfung schon bestanden.«
»Mann, warum ist mir das nicht eingefallen?«, murmelte Lilli zerknirscht. »Aus mir wird wohl nie eine Hexe, was?«
»Blödsinn!«, sagte Elfriede tröstend. »Du wirst noch eine wunderbare Hexe. Ich bin auch keine gute Krötenbeschimpferin. Jede Hexe hat so ihre Spezialitäten. Aber jetzt …«, sie sprang auf, »jetzt wartet noch ein bisschen Arbeit auf mich. Wo hab ich denn den Zettel?« Wieder suchte Elfriede in ihren unzähligen Kleidertaschen herum. »Ah, da. Ja.« Sie zog einen reichlich verdreckten Zettel hervor. »Habe gestern Nacht einiges vergessen. Typisch.«
»Was ist das für eine Schrift?«, fragte Lilli.
»Hexenschrift, was sonst? Das hier«, sie wedelte mit dem Zettel, »das sind die dreizehn wichtigsten Zaubersprüche für daheim und unterwegs. Samt Zutaten und Kochrezepten.«
»Kochrezepte?«, fragte Rosanna ungläubig.
»Ja, ihr glaubt nicht, wie scheußlich diese Zaubersäfte manchmal schmecken«, erklärte Elfriede. »Da muss schon ein bisschen was Schmackhaftes dran, damit so eine verwöhnte Hexenzunge sie runterkriegt. Heilige Dreizehn, wo haben wir es denn? Da. ›Mittel gegen Zufallszauber und besenlosen Ortswechsel‹.« Ärgerlich klopfte sie sich an den Kopf. »Zehnmal hab ich mir das nun schon durchgelesen, aber ich vergess es immer wieder. Tja, der Lack ist ab. Kann man nichts machen. Gegen Vergesslichkeit ist kein Kraut gewachsen.«
Elfriede kratzte sich hinterm Ohr. »Pfingstrosenwurzeln? Ach was, wozu soll ich mich unsichtbar machen. Alraunen, hm.« Aus einer Tasche zog sie eine seltsam geformte Wurzel. »Die ist nicht mehr ganz frisch, na ja. Elfriedes Spezialmischung Nr. 3? Ein mickriger Rest. Aber es müsste reichen. Tja, dann bleibt nur noch das Hauptproblem. Der Besen. Und mein leerer Magen.«
»Meiner knurrt auch wie verrückt«, stöhnte Lilli.
»Meine Mutter würde uns bestimmt was kochen«, sagte Rosanna.
Lilli kicherte. »Mein Vater auch, aber ich glaub, das hält nicht mal ein Hexenmagen aus. Außerdem könnten wir bei euch noch ein Eis essen. Hast du schon mal Eis gegessen, Elfriede?«
»Was denkst du denn?«, fragte die Hexe zurück. »Ich bin doch nicht von vorgestern. Lasst uns fliegen! Ach nein, hab ja immer noch keinen Besen. Also dann, lasst uns gehen.«
»Die Schlange solltest du vielleicht besser hierlassen«, sagte Rosanna. »Und die Kröte auch.«
»Warum das denn?«
»Na, du könntest damit irgendwie – äh …« Lilli räusperte sich verlegen.
»Auffallen, du könntest irgendwie auffallen«, beendete Rosanna ihren Satz.
»Ich fall gern auf«, sagte die Hexe.
»Aber die Leute. Die würden sich erschrecken vor so einer Schlange«, stotterte Lilli.
»Schon gut, schon gut. Riesenhunde, Katzen, alles nicht so schlimm, aber so eine winzige, nette Schlange.« Ärgerlich wickelte sie sich die Schlange vom Arm und steckte sie in eine kleine Büchse. »Wir verstehen schon, Klara, nicht wahr?« Sie hängte die Schlangenbüchse an ihren Gürtel und ging ins andere Zimmer. »Brunhilde! Brunhilde, komm her. Wir gehen essen.«
»Die Kröte will sie auch mitnehmen!«, flüsterte Lilli.
Schicksalsergeben zuckte Rosanna die Schultern.
»Also, ich bin fertig«, sagte Elfriede und steckte die Kröte in eine Tasche. »Habt ihr vielleicht auch noch was an meinem Kleid zu meckern oder an meiner Nase?«
»Das Messer«, sagte Rosanna kleinlaut. »Könntest du das vielleicht hierlassen?«
»Na gut!«, sagte die Hexe. »Ich weiß zwar nicht, warum, aber ich tu’s.« Seufzend zog sie den schwarzen Dolch aus dem Gürtel und spießte ihn in den Fußboden, neben den kleinen Berg von Zauberzutaten, die sie schon zusammengetragen hatte. Dann kletterte sie mit wehendem Rock aus dem Fenster. Lilli und Rosanna folgten ihr.
Draußen bückte sich Elfriede und malte mit einem Stück Kreide ein seltsames Symbol an die Mauer. Genau unter das offene Fenster. Dann zerrieb sie ein paar graue Blätter zwischen den Fingern und wischte sie am Fensterbrett ab. »Vorsichtshalber!«, sagte sie. »Damit mir keiner meine Zutaten durcheinanderbringt. Und jetzt gehen wir Eis essen.«