Elfriedes Rückkehr
Drei Tage sind eine furchtbar lange Zeit, wenn man auf etwas wartet. Lilli führte pausenlos den Hund spazieren, pflückte Berge von Zaubernussblättern, versuchte ohne jeden Erfolg, einen Besenstiel zu entflammen oder kleine Irrlichter auf ihren Fingernagel zu zaubern – und aß so viel Eis, dass selbst ihr schlecht wurde.
Rosanna half ihren Eltern, gab den Vergissmeinnicht jeden Tag frisches Wasser und beobachtete, wer sich lieber an die Tische mit den Nelken setzte. Das Ergebnis war bemerkenswert. Zu den Nelken zog es eindeutig Gäste, die gern nörgelten, kein Trinkgeld gaben, rumkommandierten und ihre Mundwinkel griesgrämig nach unten zogen. Die aber, die beim Eisessen entzückt die Augen verdrehten und die Mundwinkel nach oben trugen, liebten Vergissmeinnicht. Daraufhin beschloss Rosanna, auch noch die letzten Nelken zu beseitigen, sobald sie wieder bei Kasse war.
Abends saßen beide, Lilli und Rosanna, an ihren Fenstern und sahen zum Mond hinauf. Sie sahen zu, wie er rund und voll wurde und schließlich wie eine Silbermünze am schwarzen Himmel hing. Schon in der nächsten Nacht würde er wieder schwinden.
»Wir rufen Elfriede zu dem verlassenen Haus. Das ist am hexenmäßigsten«, sagte Lilli.
Um zehn Uhr abends holte sie Rosanna ab. Ihre Eltern schliefen schon, völlig erschöpft von 169 Eisbechern mit und 23 ohne Sahne. Lillis Eltern waren im Theater und ahnten nichts von dem Plan ihrer Tochter.
»Warum hast du denn Zorro mitgebracht?«, fragte Rosanna, als sie zusammen durch die Straßen liefen. Jede von ihnen hatte einen Besen dabei, allerdings mit Plastikstiel, das Hexenhaar samt Hexenstoff und jede Menge Zaubernussblätter.
»Ich habe Angst im Dunkeln«, sagte Lilli. »Aber mit Zorro nicht. Er erschrickt zwar bei jedem Schatten, aber er sieht eben auch zum Erschrecken aus, oder?«
Das konnte Rosanna nur bestätigen.
Dann waren sie am Ziel. Still, die zugenagelten Fenster wie geschlossene Augen, stand das leere Haus da, wie am Straßenrand abgestellt und dort vergessen.
Lilli öffnete das Tor. Im Garten war es stockdunkel. Nur ein kleines Stück Wiese war silbrig erleuchtet vom Mondlicht.
»Hast du eine Taschenlampe?«, flüsterte Lilli.
»Nein, du?«
»Hab ich vergessen. Mondlicht passt sowieso besser.«
Rosanna hätte trotzdem gegen ein bisschen mehr Licht nichts einzuwenden gehabt.
»Komm«, sagte Lilli und zog sie zu dem Fleckchen Silberwiese. Zorro band sie an einen Baum. Dann gab sie Rosanna drei Zaubernussblätter.
»Hier, vergiss nicht, sie fest zu drücken.«
Rosanna nickte.
»Und dann«, Lilli zog Elfriedes Abschiedsgeschenk aus der Tasche, »dann pusten wir ganz kräftig auf das hier drauf. Hat sie was von einem magischen Kreis gesagt?«
Rosanna schüttelte den Kopf. »Aber zuerst pusten ist falsch. Erst kam reiben. Dann pusten.«
»Bist du sicher?«
»Ganz sicher.« Vorsichtig zog Rosanna das Bündel mit Elfriedes Haar aus der Tasche und rieb es zwischen den Fingern. Dabei drückte sie die Zaubernussblätter so fest, dass sie ganz matschig wurden.
»Ich glaub, jetzt haben wir genug gerieben«, sagte Lilli. »Jetzt pusten. Sechsmal, hat sie gesagt.«
»Siebenmal.«
»Also, nun hör aber auf!«, rief Lilli. »Ich bin doch nicht blöd. Sechsmal, hat sie gesagt.«
Plötzlich winselte Zorro leise und spitzte die Ohren. Rosanna drehte sich um. »Da war was«, sagte sie. »Ich hab’s auch gehört.«
»Ach was!« Lilli wurde ganz zappelig vor Ungeduld. »Der hat bloß Angst vor der Dunkelheit. Lass uns jetzt endlich weitermachen.« Und sie pustete so heftig auf das Hexenhaar, dass es mitsamt dem dünnen Stoff ins Gras flatterte.
»Oh, verdammt, wo ist es bloß?« Jammernd kroch Lilli auf der Wiese herum. »Los, Rosanna, hilf mir suchen.«
Aber Rosanna stand nur da und kicherte.
»Ist das wieder einer von deinen Kicheranfällen?«, fragte Lilli genervt. Aber dann richtete sie sich plötzlich auf und lauschte. Da kicherte noch jemand.
»Psst!«, zischte Lilli und hielt Rosanna den Mund zu. Im selben Moment riss sich Zorro los. Mit lautem Bellen und wedelndem Schwanz sprang er auf das unvernagelte Fenster zu. So einen Lärm machte er, dass vom Haus nebenan jemand »Ruhe!« brüllte. Mit einem Riesensatz hechtete der Hund durchs Fenster.
Rosanna und Lilli standen im Mondlicht, als wären sie aus Gips.
»He, Zorro, du alter Spielverderber!«, hörten sie jemanden rufen. »Ich hätte die zwei doch so gern noch tanzen gesehn! Hör auf, hör auf! Ich mag keine Hundeküsse.«
Ohne ein Wort schlichen Lilli und Rosanna auf das Fenster zu.
Da saß sie auf dem Fußboden: Elfriede – auf dem Schoß den riesigen Zorro, der ihr pausenlos das Gesicht leckte, und auf der Schulter, schlafend wie immer, Ramses. Neben ihr stand mit brennendem Stiel ihr Besen. Und in einer Zimmerecke war eine Tasche.
»Aber wir … wir waren doch noch gar nicht fertig!«, rief Lilli. »Wieso bist du schon hier?«
»Sie war schon hier«, sagte Rosanna. »Stimmt’s?«
»Kluges Kind.« Kichernd schob Elfriede Zorro zur Seite und stand auf. Ramses sprang von ihrer Schulter und rieb schnurrend seinen Kopf an Zorros Flanke.
»Ich bin schon ein paar Stunden hier«, sagte die Hexe. »Als ihr zwei kamt, dachte ich mir: Elfriede, das wird ein Riesenspaß. Guck den beiden doch ein bisschen beim Hexen zu.«
»Oje«, sagte Lilli.
Und Rosanna murmelte: »Wir waren nicht so gut, was?«
Elfriede kitzelte ihre Schlange. »Och, ich hatte meinen Spaß. Aber ein bisschen Unterricht könnte euch wirklich nicht schaden. Heilige Dreizehn! Warum redet ihr so viel beim Hexen? Ein bisschen Stille muss schon sein.«
Mit betretenen Gesichtern sahen die Mädchen sie an.
»Es ist schön, dass du wieder da bist«, sagte Rosanna plötzlich leise.
»Aber wieso bist du von selber zurückgekommen?«, fragte Lilli. »Ich versteh das nicht.«
»Kommt schon noch.« Elfriede holte einen Stein aus ihrem Beutel und legte ihn auf den Boden. Dann band sie einen kleinen Topf von ihrem Gürtel los und stellte ihn daneben. »Wollt ihr auch einen Tee?«
Verständnislos sahen die Mädchen sie an.
Die Hexe zwinkerte ihnen zu, spuckte auf ihren Mittelfinger und rieb damit langsam über die Oberfläche des Steins.
»Autsch!«, sagte sie plötzlich, zog den Finger zurück – und der Stein begann zu glühen.
Elfriede stellte ihren Topf darauf, warf ein paar Blüten und Blätter hinein und schnipste die Finger Richtung Decke. Tropf, tropf, rann das Wasser herunter, geradewegs in ihren Topf.
»Tja, jetzt dürft ihr schon mal etwas mehr Hexenzauber sehen«, sagte sie zu den sprachlosen Kindern. »Ich bin zurückgekommen, um euch das Hexen zu lehren. War nicht meine Idee, aber gut ist sie trotzdem, oder?«
»Du bringst uns das Fliegen bei?«, hauchte Lilli.
Elfriede nickte. »Das auch. Und ein paar nette andere Dinge. Was haltet ihr zwei davon?«
»Wer hatte denn die Idee?«, fragte Rosanna. Ramses kam zu ihr und rieb sich an ihren Beinen.
Elfriede zuckte die Schultern und rührte mit einem Stöckchen in ihrem Tee herum. »Ein paar Kolleginnen. Habe ihnen von euch erzählt, und was sagen sie? Elfriede, das Hexenhandwerk braucht Nachwuchs. Wie wär’s, wenn du zurückgehst und den beiden ein bisschen was beibringst? Hatte nichts dagegen.«
Kräftig pustete sie gegen den glühenden Stein. Dreimal, dann war er wieder grau und kalt.
»Das heißt, du bleibst länger hier!«, rief Lilli.
»Kann schon sein«, sagte Elfriede und schlürfte vorsichtig ihren heißen Tee.
Lilli aber hüpfte wie ein Frosch durch das leere Zimmer. »Ich werd Hexe, ich werd Hexe!«
»Na, mal sehen!«, murmelte Elfriede. »Leicht ist es nicht.«
»Ich komm jeden Tag hierher«, sagte Lilli. »Jeden Tag.« Rosanna sagte gar nichts.
Neugierig sah die Hexe sie an. »Und du?«, fragte sie. »Große Krötenbeschimpferin? Was ist mit dir?«
»Sie hat keine Zeit«, sagte Lilli.
Rosanna warf ihr einen bösen Blick zu.
»Was soll das denn heißen?« Elfriede stellte ihre Tasse weg und zog Brunhilde aus der Tasche. Schläfrig hockte die Kröte auf ihrem Schoß.
»Ich könnte abends kommen«, sagte Rosanna.
»Abends kann ich aber nicht gut!«, rief Lilli empört. »Wenn meine Mutter zu Hause ist, komm ich nicht weg.«
Nachdenklich sah Elfriede Rosanna an. »Warum kannst du nur abends?«, fragte sie, während sie der Kröte den Kopf kraulte.
»Weil sie helfen muss«, sagte Lilli. »Weil das Eiscafé knallevoll ist, seit die Sonne scheint. Darum.«
»Stimmt«, sagte Rosanna, ohne die Hexe anzusehen.
»Ach, so ist das!« Kichernd setzte Elfriede die Kröte zur Seite. »Ach so! Unser kleiner Wetterzauber!«
»Was ist daran so lustig?«, fragte Rosanna ärgerlich.
Die Hexe kicherte immer noch. »Jeder Zauber hat seinen Preis. Wusstet ihr das nicht? Wo Licht ist, ist Schatten. Oder, wie ich auch gern sage – selbst der beste Zauber hat Stacheln.«
Mit einem Satz war sie auf den Beinen und ging zum Fenster. »Kein Wölkchen am Himmel«, stellte sie zufrieden fest. »Wird sich aber nicht halten. Wenn es euch ein Trost ist, Wetterzauber wirken dreizehn Tage. Genau dreizehn Tage. Und was dann? Sonne ist euch nicht recht, Regen ist nicht gut. Was dann?«
Sie setzte sich aufs Fensterbrett und baumelte mit den Beinen. »Irgendwelche Vorschläge?«
Rosanna schüttelte den Kopf und verbarg ihre Nase zwischen Ramses’ Ohren.
»Keine Ahnung.«
»Na, dann wird die liebe Elfriede sich was einfallen lassen! Schließlich bin ich wegen zwei Schülerinnen hier. Nicht nur wegen einer.« Sie steckte den Kopf nach draußen. »Ziemlich spät schon. Ich glaube, ihr müsst ins Bett. Und ich«, gähnend rekelte sie sich auf dem Fensterbrett, »ich auch.«
Widerwillig gingen die Mädchen auf das offene Fenster zu. Ramses und Zorro machten keine Anstalten, ihnen zu folgen.
»Wenn Rosanna morgen keine Zeit hat«, sagte Lilli, »können wir dann nicht schon mal mit dem Fliegen anfangen? Das will sie doch sowieso nicht lernen.«
Lachend hüpfte Elfriede vom Fensterbrett. »Nein, morgen muss ich mich um Rosannas kleines Problem kümmern! Hab da schon so eine Idee. Aber ich muss das erst mal überschlafen. Also macht, dass ihr rauskommt, sonst schnarch ich gleich im Stehen.«
»Komm, Zorro«, sagte Lilli. Aber der große Hund hatte seine Schnauze auf den Rücken von Ramses gelegt und rührte sich nicht.
»Zorro!«, rief Lilli und stampfte mit dem Fuß auf. »Komm!« Elfriede schnalzte einmal mit der Zunge und Zorro stand steifbeinig auf.
»Bring ich dir auch noch bei«, sagte die Hexe zu Lilli.
Die Mädchen kletterten aus dem Fenster und ihre Tiere folgten ihnen.
»Träumt was Aufregendes«, sagte Elfriede und guckte zum Mond hinauf. »Wir treffen uns morgen im Eiscafé. Um zehn Minuten vor Mitternacht.«
»Im Eiscafé?«, fragte Rosanna verdutzt.
»So spät?«, fragte Lilli.
Die Hexe nickte und zwinkerte ihnen zu.
»Und nicht, dass ihr hier vorher auftaucht. Ich habe einiges vorzubereiten.«
»Wieder ein Zauber mit Stacheln?«, fragte Rosanna besorgt.
»Sicher. Aber es wird ein Weißer Zauber sein. Und die bringen bekanntlich Glück, wenn auch auf krummen Wegen.« Elfriede hielt ihren Arm aus dem Fenster und ihre Schlange kroch hinab ins dunkle Gras. Lautlos verschwand sie in der Dunkelheit. »Meine Tiere müssen sich ihr Abendbrot selber fangen«, sagte Elfriede. »Ich übernehm das nicht für sie. Schließlich bin ich Vegetarierin.«
»Und wenn sie jemanden beißt?«, fragte Lilli erschrocken.
»An wen hattest du denn da gedacht?«, fragte die Hexe, raffte ihr Kleid und stieg auch aus dem Fenster. »Klara bevorzugt Mäuse. Menschen sind zu groß und schwer verdaulich. Außerdem ist lautes Herumgetrampel Schlangen ein Graus. Nein, nein!« Gähnend schüttelte Elfriede den Kopf und sah sich um. »Der schlechte Ruf der Schlangen ist nichts als üble Nachrede. Mutterkorn und Eisenkraut, wo schlaf ich denn heute mal? Ja, ich glaub, der Baum da ist genau richtig. Gute Nacht, ihr vier!«
Ohne sich noch einmal nach den Mädchen umzusehen, stiefelte sie zu einem großen Apfelbaum, kletterte geschickt den krummen Stamm hinauf und verschwand zwischen den Blättern.