Wurzelzauber
Rosanna war noch nicht lange allein, da hörte sie, wie jemand das Gartentor öffnete. Sie bekam einen Schreck, aber es war nur Brunhilde, die durch den Garten auf sie zukam.
Schweigend setzte sie sich neben Rosanna ins Gras.
»Lilli und Elfriede fliegen noch«, sagte Rosanna.
Lächelnd sah Brunhilde zum Himmel hinauf. »Elfriede kann nie genug bekommen vom Fliegen. Meist scheucht erst die Sonne sie vom Himmel. Ich mochte es noch nie besonders.«
»Ich auch nicht«, sagte Rosanna.
Wieder saßen sie eine Weile stumm nebeneinander. Dann sagte Brunhilde: »Ich halte das Menschsein nie lange aus, aber heute hat es Spaß gemacht.«
»Du wirst dich doch nicht schon bald wieder verwandeln?«, fragte Rosanna besorgt.
»O doch!«, antwortete das Krötenmädchen. »Bis zum nächsten Neumond habe ich meinen Teil getan.«
Bestürzt sah Rosanna sie an. »Aber was passiert, wenn du wieder weg bist? Ich meine, wenn du wieder eine Kröte bist? Wird dann alles, wie es war?«
Das Krötenmädchen zuckte die Schultern. »Das liegt an euch. Ihr müsst nur das Glück wach halten. Es ist sehr schläfrig, aber ihr schafft das schon.«
Keine Ahnung, wie, dachte Rosanna, guckte hinauf zum Mond und sah etwas Schwarzes die Sterne verdecken. In den Bäumen über ihnen raschelte es und etwas plumpste ins Gras.
»Puh, was für eine miserable Landung!«, rief Elfriede. »Zaubernuss und Bilsenkraut! Nützliche Pflanzen, diese Brennnesseln, aber müssen sie eine Hexe so quälen?«
Mit dem Besen unter dem Arm kam sie aus der Dunkelheit gestapft. »Hallo, kleine Kröte.«
»Hallo«, sagte Brunhilde, rekelte sich gähnend und stand auf. »Mensch sein macht müde. Kannst du mir einen Platz zum Schlafen empfehlen, Elfriede?«
»Auf dem Dach ist es wunderbar.«
Brunhilde schüttelte sich. »Nicht mein Geschmack. Ich werde es mal mit dem Haus versuchen. Schöne Träume und gute Nacht.«
»Gute Nacht!«, rief Elfriede. Dann zwinkerte sie Rosanna zu. »Hast du noch Lust auf ein Abenteuer, kleine Hexe?« Rosanna nickte.
»Dann nimm das hier.« Elfriede zog ein schrumpeliges Stück Wurzel aus einer Tasche, brach es durch und gab die eine Hälfte Rosanna. »Eins für dich, eins für mich.« Die Hexe bückte sich. »Leg die Wurzel vor deine Füße.«
Rosanna tat es. Elfriede griff nach ihrer Hand.
»Augen zu«, sagte sie, »und rüberspringen.«
Hand in Hand, mit geschlossenen Augen, hüpften sie über die Wurzel.
»Schwappdideldupps!« Kichernd ließ Elfriede Rosannas Hand los. »Na, wie fühlst du dich?«
Rosanna fühlte sich seltsam leicht.
Wie ein Luftballon, dachte sie, öffnete die Augen und guckte an sich herunter. Sie sah Gras und Erde, fast schwarz in der Dunkelheit, aber nicht ihre Füße. Erschrocken hielt sie sich die Hände vor die Augen. Nichts. Sie fühlte ihre Finger, aber sie sah sie nicht. Langsam drehte sie sich um. Da im Gras stand ihr Körper und daneben der von Elfriede, stocksteif, lächelnd und mit leeren Augen. Etwas unheimlich war der Anblick schon, aber Rosanna musste kichern. Dieser Zauber fühlte sich einfach zu gut an.
»Sehen wir nicht dumm aus?«, sagte Elfriedes Stimme neben ihr.
Suchend sah Rosanna sich um, aber da war wirklich nichts als eine Stimme in der Nacht – und ein spöttisches Kichern.
»Du brauchst gar nicht so zu gucken«, sagte Elfriede. »Von dir ist auch nicht mehr zu sehen. Komm, wir lassen die beiden Gestalten da stehen und gehen ein bisschen spazieren, ja?«
Rosanna nickte, aber dann fiel ihr ein, dass die Hexe das vielleicht nicht sehen konnte, und sie sagte: »Einverstanden.« Ohne sich noch einmal nach ihren Körpern umzudrehen, gingen sie davon, durch das verschlossene Gartentor, die dunkle Straße entlang. Sie hüpften über die parkenden Autos und tanzten lachend auf ihren Dächern. Rosanna fühlte sich so leicht, oh, so leicht.
Das war besser als Fliegen. Viel, viel besser.
»Ich nenne es Fliegen auf der Erde«, raunte Elfriedes Stimme ihr zu. »Wie findest du es?«
»Wunderbar!«, flüsterte Rosanna zurück.
Die Hexe kicherte. »Du musst nicht flüstern! Die anderen können deine Stimme nicht hören. Tu dir keinen Zwang an.«
Menschen kamen ihnen entgegen und gingen durch sie hindurch. Rosanna schnitt Fratzen, streckte die Zunge heraus und verteilte unsichtbare Küsse. Unbewegt blieben die Gesichter. Nur die Geküssten guckten verdutzt. Hunde schnupperten an Rosannas unsichtbaren Beinen. Katzen gingen ihr misstrauisch aus dem Weg.
»Eins, zwei, drei macht sechse, ich werde eine Hexe!«, sang Rosanna laut, ging durch Litfaßsäulen und tanzte mit Elfriede im Brunnen auf dem Marktplatz. Aber mit Luftbeinen spritzte das leider kein bisschen.
»Alles Hexerei, was ist schon dabei?«, sang Rosanna, als sie auf das Café ihrer Eltern zuhüpfte.
»Oh, du singst herrlich falsch, kleine Krötenbeschimpferin!«, rief Elfriede. »Ein echtes Naturtalent! Aber warum rennst du so? Die alte Elfriede ist auch mit Luftbeinen nicht die Schnellste!«
Im Café brannte noch Licht. Vor der Tür blieb Rosanna stehen und drückte ihre unsichtbare Nase gegen die Scheibe. An einem der Tische saßen ihre Eltern, tranken Kaffee zusammen und lachten. Ihre Mutter sah Rosanna an – und guckte durch sie hindurch. Ein komisches Gefühl war das. Für einen kurzen Augenblick bekam Rosanna Sehnsucht nach ihrem Körper.
»Komm«, sagte Elfriede leise hinter ihr. »Es wird Zeit zurückzugehen.«
Ihre Körper standen noch genau so da, wie sie sie verlassen hatten. Ein paar stille Augenblicke lang sah Rosanna Rosanna an, streckte eine unsichtbare Hand aus und berührte das dunkle Haar.
Fremder als eine Fremde, dachte sie.
»Angst?«, fragte Elfriede.
»Ein bisschen«, antwortete Rosanna.
»Dann machen wir die Tür zu diesem fremden Zimmer erst mal wieder zu«, sagte die Hexe. »Nimm dein Wurzelstück und wirf es über deine Schulter.«
Rosanna tastete im dunklen Gras nach der Wurzel.
Schwer wurden ihre Glieder und die Erde zog an ihren Füßen. Rosanna strich sich über die Haut, kratzte sich den Kopf, schüttelte die Haare.
Aus zwei Hexen war auch wieder eine geworden. Lächelnd sah sie Rosanna an.
»Danke«, sagte Rosanna und lächelte zurück.
»Och, keine Ursache!« Elfriede legte ihr den Arm um die Schultern. »Bedank dich bei dir selbst. Diesen Zauber mach ich nicht mit jeder Nachwuchshexe. Ist ein bisschen unheimlich, oder?«
Rosanna nickte. »Unheimlich, aber schön.«
Elfriede lachte. »Ich wusste, dass es dir gefällt. Leider darf man diesen Zauber nicht oft machen. Sonst passiert es dir irgendwann, dass du nicht in deinen Körper zurückfindest. Ist alles schon vorgekommen.« Die Hexe sah zum Himmel hinauf. »Oje, schon so spät! Ich bring dich jetzt schleunigst nach Hause. Aber du musst wohl oder übel auf den Besen steigen. Meine Beine schaffen nicht den klitzekleinsten Schritt mehr.«
Der Hexenbesen lag im Gras. Ächzend hob Elfriede ihn auf. »Krötengift und Hexenspucke! Was mussten meine armen Füße heute laufen! Und mein Rücken, aah, der fühlt sich an, als wär ein Haufen Hexen drauf zum Blocksberg geritten. Abscheulich!«
Steifbeinig setzte sie sich auf den Besenstiel.
Rosanna kletterte hinter sie. »Und morgen?«, fragte sie. »Was machen wir morgen?«
»Oh, zuerst werden wir wieder eine kleine Geduldsübung machen«, antwortete Elfriede. »Für unsere kleine Zappellilli. Wir werden uns auf ein schönes, freies Feld stellen und so lange stehen bleiben, bis der Wind durch uns hindurchbläst. Und danach werden wir nach Pflanzen suchen, die gegen Fußschmerzen helfen.«
»Hört sich gut an«, sagte Rosanna und lehnte sich an Elfriedes Rücken.
»Hoch mit uns!«, rief die Hexe.
Und dann flog sie mit Rosanna den Sternen entgegen.
»Juchhuuh, ist das ein Spaß, eine Hexe zu sein!«, rief Elfriede.
Und Rosanna summte ganz leise, obwohl ihr Magen kleine Hupfer machte:
»Ich werde auch mal fliegen,
dass sich die Besen biegen.
Dann bin ich eine Hexe
und zaubre Sternenkleckse.«